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Zeit für mutige Maßnahmen

Rechtzeitige Corona-Tests für Reiserückkehrer hat die Politik verschlafen. Schwamm drüber. Hauptsache, sie handelt jetzt vorausschauender. Aber tut sie das wirklich?

DIE SONNTAGE und die Montage sind im Moment die Tage zum medialen Verschnaufen. Denn dann liefert das Robert-Koch-Institut (RKI) immer die angenehm niedrigen Neuinfektions-Statistiken vom Wochenende. Obgleich die lediglich mit der mangelnden Meldedisziplin vieler Gesundheitsbehörden an Nicht-Werktagen zu tun haben: Die Debatte um die befürchtete zweite Corona-Welle hält kurz inne. Um dann am Dienstag, wenn die Zahlen wieder vierstellig werden und, zumindest in den vergangenen Wochen, stets auf neue Seit-Mai-Höchstwerte klettern, wieder umso stärker an Fahrt zu gewinnen. So wird es auch heute sein. 

 

Dringende Zeit, mit etwas Distanz auf das diskursive Hin und Her der vergangenen Wochen zu blicken. Und dabei fällt auf: Hätte die Öffentlichkeit sich im Mai und Juni nur halb so sehr mit den epidemiologischen Implikationen des wieder erstarkenden Tourismus beschäftigt wie mit den Risiken wieder öffnender Kitas und Schulen, sähen die Zahlen heute womöglich auch an den Werktagen anders aus.

 

Laut Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) stellen Reiserückkehrer inzwischen 50 Prozent der Neuinfektionen in der Hauptstadt. Überraschen kann das nicht wirklich. Dass sich Aerosole vor, während und nach Flugreisen besonders gut von Mensch zu Mensch verbreiten, trotz Maskenpflicht, davor hatten Wissenschaftler schon im Mai gewarnt, erst recht wenn im Flieger auch der Mittelsitz besetzt ist. Allerdings gab es auch Forscher wie den Charité-Chefvirologe Christian Drosten, der die Belüftungssituation in Flugzeugen als "ganz günstig" bezeichnete. Und dass der Aufenthalt hunderttausender Touristen in Ländern mit einer deutlich stärkeren Virus-Verbreitung zu einem ernsthaften Problem werden kann, wenn diese – ungetestet – nach Hause und in ihren Sozialalltag zurückkehren, hätten die zuständigen Politiker sich im Frühjahr auch schon ausrechnen können. 

 

Vom Kommen der 

Sommerferien überrascht

 

Trotzdem schien es fast so, als seien Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und seine Länderkollegen vom Kommen der Sommerferien überrascht worden, weswegen die sehr sinnvolle Testpflicht für Rückkehrer aus Risikogebieten erst eingeführt wurde, als in mehreren Länden schon ein Großteil der Reisenden längst wieder zu Hause war. Was eigentlich, wenn man es genau nimmt, in Sachen mangelnder politischer Vorausschau noch schlimmer ist, als die Weitergabe der dann immerhin vorliegenden Testergebnisse für mehrere Tage zu verschlampen. 

 

Es ehrt Senatorin Kalayci, dass sie am Wochenende mit deutlichen Worten per Twitter die Menschen aufforderte, auf nicht nötige Reisen in Risikogebiete zu verzichten ("Schützen Sie sich und schonen Sie uns vor Infektionen"). Doch wird der Eindruck, die Politik handle der Ernsthaftigkeit des Problems entsprechend, gleich wieder zerstört, wenn wie der Tagesspiegel berichtet, zum Beispiel die Corona-Teststelle am Berliner Flughafen Tegel jeden Tag pünktlich um 21 Uhr schließt – obwohl danach noch zig Flugzeuge voller Reiserückkehrer etwa aus Spanien eintreffen. Die Fluggesellschaften und Reiseveranstalter befördern unterdessen unverdrossen und ohne Widerstand der Politik jeden Tag weitere Touristenscharen nach Spanien und in andere Risikogebiete.

 

So bleibt planlos, wie die Politik dem Reiserückkehrer-Problem Herr zu werden versucht. Was auch damit zusammenhängt, dass sie sich in der Zeit, als sie einen Plan hätte machen sollte, keinem Druck dazu ausgesetzt sah. Weil alle Welt lieber über Kinder und Jugendliche und deren Rolle im Infektionsgeschehen debattierte. 

 

Schwamm drüber, will man sagen. Was geschehen ist, ist geschehen. Hauptsache, es läuft jetzt besser. Aber tut es das?

 

Zweifel, dass die Politik gerade vorausschauender handelt, sind angebracht. Meldungen von (erwartbaren) Corona-Fällen in Kitas und Schulen nehmen immer noch viel Platz in den Meldungsspalten ein. Relativ wenig wird indes über das Risiko größerer privater Feiern berichtet, obgleich Wissenschaftler und jetzt auch immer mehr Politiker beständig vor ihnen warnen. Etwas häufiger ist von Infektionen in Restaurants und Kneipen die Rede.

 

Kaum jemand hat den Mut, 

radikaler zu denken

 

Dass Innenräume eine wichtige Rolle im Infektionsgeschehen spielen, vor allem, wenn dort von Erwachsenen auf engem Raum laut geredet, geschrien, gesungen oder gearbeitet wird, ist inzwischen relativ gesichert. Das meiste davon trifft auch in Kneipen und Bars zu, vor allem dann, wenn der Alkohol fließt und Mindestabstände nicht eingehalten werden. Was passiert, wenn dann noch das Public Viewing von Fußballspielen hinzukommt, konnte man in den vergangenen Tagen in Deutschlands Innenstädten beobachten. Und dabei dem Virus-Reproduktionsfaktor R regelrecht beim weiteren Ansteigen zusehen. 

 

Doch reagiert die Politik? Kommt sehr stark auf die Stadt und das Bundesland an, inwieweit die Einhaltung von Corona-Regeln überprüft wird. Doch kaum jemand hatte bislang den Mut, einmal radikaler zu denken. Zum Beispiel, indem in neuralgischen Großstädten ab 21 oder 22 Uhr jeglicher öffentlicher Alkoholausschank untersagt würde. 

 

Zu übertrieben? Zu radikal? Wie wäre es im Gegensatz dazu: Das Schließen von Kitas und Schulen ist auch radikal, wird aber in Regionen mit hohen Fallraten zweifellos kommen, wenn es so weitergeht. Wenn es die Politik mit der neuerdings ausgerufenen Priorität für Bildung und die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen ernst meint, müsste sie daher jetzt handeln. Dass die Wiederzulassung von Zuschauern bei Fußballspielen bis mindestens Ende Oktober vom Tisch ist, versteht sich von selbst, auch dass die Verbote von Großveranstaltungen verlängert werden müssen. Die Politik muss aber auch den Mut haben, anstatt nur zu warnen, die Größe privater Feiern zu beschränken. Das wäre wirklich wirksam, und ein Alkoholverbot am späteren Abend würde nicht nur die Infektionsgefahr senken, sondern womöglich die Restaurants und Kneipen selbst vor späteren Totalschließungen bewahren.

 

So nimmt das Vertrauen in die 

Schlagkraft von Institutionen Schaden

 

Was stimmt und als politisches Argument hinter vorgehaltener Hand häufig angeführt wird derzeit: Die Kontrolle privater Feiern und die Einhaltung von Alkoholverboten sind in der Fläche schwierig zu überwachen. Was aber auch stimmt: Wenn sinnvolle Regeln gar nicht erst aufgestellt werden, weil die Politik fürchtet, sie nicht durchsetzen zu können, nimmt das Vertrauen in die Schlagkraft von Institutionen Schaden. Erst recht, wenn dann auch noch der Eindruck entsteht, anstatt rechtzeitig die sinnvollsten und möglichst begrenzten Maßnahmen zu ergreifen, würde gewartet, bis die ganz großen Geschütze nötig sind und damit Maßnahmen, die ironischerweise auch noch am einfachsten durchgesetzt werden können.

 

Was die Schließung von Kitas und Schulen in der Vergangenheit ja so interessant gemacht hat: Die Mehrheit der Wähler war von ihnen nicht betroffen, was hohe Zustimmungswerte garantierte. Und gleichzeitig lässt sich die Maßnahme wunderbar von oben anordnen. 

 

Über die flächendeckenden Schulschließungen, beteuern viele Regierungschefs und Bildungsminister unisono, sei die Bundesrepublik hinweg. Übrigens unabhängig von der immer noch so kontrovers diskutierten Frage, ob Kinder und Jugendliche jetzt genauso ansteckend sind wie Erwachsene oder nicht. 

 

Umso wichtiger, jetzt bei anderen – schwieriger umzusetzenden – Maßnahmen die nötige Ernsthaftigkeit zu zeigen. 


Berliner Wissenschaftler berechnen Wirkung geschlossener Schulen, in Südkorea relativieren Forscher eigene Studie

Die Tageszeitung taz berichtete am Montag von einer Modellierungsstudie im Auftrag des Bundesforschungsministeriums. Diese habe ergeben, dass das Contact Tracing, gefolgt von häuslicher Quarantäne, sich als effektivste Maßnahme zur Eindämmung des Infektionsgeschehens erwiesen habe. 

 

Allein die Kontaktnachverfolgung senke Simulationen zufolge die Reproduktionszahl R um 40 Prozent. Eine vollständige Öffnung aller Kitas, Schulen und Universitäten würde R hingegen lediglich um 10 Prozent erhöhen, was einem Drittel der Aufnahme aller Freizeitaktivitäten entspreche. Beteiligt an dem Projekt waren Wissenschaftler von TU Berlin, Humboldt-Universität und Konrad-Zuse-Institut für angewandte Mathematik und High-Performance-Computing. 

 

Auch wenn das Bundeswissenschaftsministerium zu Recht darauf hinweist, dass die Ergebnisse aller Simulationsstudien wegen der ihnen zugrunde liegenden Annahmen immer "mit einer gewissen Unsicherheit" einhergingen, eines zeigt das Projekt sehr genau: Am Ende ist es eine gesellschaftliche Abwägung, ob für die Normalisierung in einem Lebensbereich Einschränkungen in einem anderen in Kauf genommen werden.

 

Und wie die nur zögerlichen Öffnungen von Kitas und Schulen nach dem Shutdown nahelegen: Diese Abwägung fiel zumindest im Mai und teilweise auch noch im Juni nicht zugunsten der Bildungseinrichtungen aus. 

Derweil sind inoffiziellen Zählungen zufolge seit Anfang vergangener Woche mindestens 180 Kitas und Schulen bundesweit wegen Corona-Verdachtsfällen vorübergehend geschlossen worden. Was viel aussieht, ist im Vergleich zu den absoluten Zahlen von fast 100.000 Kitas und Schulen nur ein geringer Anteil. Dass selbst bei gemäßigten Infektionsgeschehen in Kitas und Schulen bis zum Vorliegen eines Impfstoffes wöchentlich hunderte von Einrichtungen von Corona-Fällen betroffen sein werden, ist eine statistisch leicht ausrechenbare und im Vorfeld erwartbare Wahrscheinlichkeit.

 

Ebenso wie statistisch eindeutig ist: Die Treiber der Infektion sind bislang ganz andere. Neben dem Tourismus wurden von Experten zuletzt vor allem Gottesdienste, Gemeinschaftsunterkünfte und Privatfeiern genannt – und nicht zu vergessen die fleischverarbeitende Industrie und andere Betriebe. 

 

Unterdessen wachsen die Zweifel an einer Studie, die im Juli die Diskussion über die Schulöffnungen befeuert hatte. Südkoreanische Wissenschaftler hatten ihre Forschungsergebnisse zunächst so interpretiert, dass Jugendliche zwischen 10 und 19 das Virus häufiger weitergäben als Erwachsene. Doch zusätzliche Studiendaten stellten nun in Frage, ob tatsächlich die Jugendlichen andere Familienmitglieder infiziert hätten oder gemeinsame Kontakt von außerhalb, berichtet die New York Times.



Nachtrag am 18. August, 17 Uhr:

Kitas und Schulen auch in einer zweiten Welle offenzuhalten, wird immer deutlicher zu einer nationalen Priorität – zumindest rhetorisch. Bei seinem Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel sagte NRW-Ministerpräsident Achim Laschet (CDU), sollten die Corona-Infektionszahlen weiter steigen, seien möglicherweise wieder schärfere Beschränkungen nötig. Diese sollten dann aber nicht für Kinder und nicht im Bildungsbereich gelten. Merkel und Laschet betonten beide laut Spiegel Online, dass die bestehenden Corona-Regeln konsequenter durchgesetzt werden müssten. Dabei seien zwei Bereiche seien besonders im Fokus: die Rückkehr von Reisenden aus Risikogebieten und private Feiern, "bei denen sorglos miteinander umgegangen wird".


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