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Die gefährliche Routine der Krise

Die Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben gelernt, trotz Corona ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Das ist eine großartige Leistung. Doch wo bleiben bei all der Krisenbewältigung Kreativität und Innovationen?

ES GAB DIESEN ZEITPUNKT ganz zu Beginn der Coronakrise, da erlebten auch die Hochschulen Momente der Schreckstarre. Menschenleere Labore und zugesperrte Bibliotheken, über Nacht abgesagte Tagungen – und Hörsäle, die auch im bald beginnenden Sommersemester keine Studierenden füllen würden. Doch dann kam etwas in Gang, von dem selbst diejenigen, die es geleistet haben, immer noch fast ungläubig erzählen. Das erste digitale Sommersemester in der Geschichte der deutschen Geschichte startete, und obgleich es den Normalbetrieb nicht ersetzen konnte, war es doch umso vieles gelungener und vielfältiger, als man es sich je hätte vorstellen können. Nur dass man es sich eben nicht vorgestellt hatte, denn die Möglichkeit einer Pandemie überstieg nicht nur den Horizont fast aller, sie kam auch in keiner Hochschulplanung vor. 

 

Ein halbes Jahr später bereiten sich die Hochschulen auf ein Wintersemester vor, von dem angesichts steigender Infektionszahlen immer absehbarer wird, dass es nicht viel anders laufen kann als das Frühjahr. Nur schreckt der Gedanke in den Hochschuletagen keinen mehr. Die Pläne sind gemacht, die Technik steht. Der Krisenbewältigungsmodus fühlt sich inzwischen an wie eine wohlvertraute Routine. Auch die Hochschulpolitik sorgt, obgleich sie längst nicht alle Härten abfängt, mit Corona-Stufenplänen (wie jetzt in Berlin beschlossen) oder mit der Verlängerung von Regelstudium und Projektlaufzeiten für einen gewissen Grad an Verlässlichkeit.

 

Wenn es gut läuft und die Verhältnisse es zulassen, wird es mehr Präsenzangebote geben, das schon, vor allem für Studienanfänger und internationale Studierende, dazu ein paar unvermeidliche Praxisseminare. Doch so ausgestorben die Hochschulen in jedem Fall bleiben, erscheinen Ängste, es könne irgendwer zu sehr Gefallen finden an dieser neuen akademischen Wirklichkeit, so dass sie auch nach Corona bleibt, arg konstruiert. Dafür sorgen schon die wenigen Höhenflüge der real existierenden Digital-Didaktik an deutschen Hochschulen. 

 

Die Hochschulen und Forschungseinrichtungen
leben nicht, sie existieren weiter

 

Was bleibt, ist das wehmütige Warten auf normale Zeiten und das dumpfe Gefühl, dass den Studierenden, den Dozenten und Forschern mehr verloren geht als der persönliche wissenschaftliche Austausch. Es sind die unverhofften Begegnungen zwischendurch, die spontane Mensa-Verabredung, der Feierabend-Kaffee im Büro der Forscherkollegin. Die Hochschulen und Forschungseinrichtungen leben vielerorts nicht, sie existieren weiter.

 

Damit kein Missverständnis entsteht: Ich will die Leistung der Hochschulen keineswegs kleinreden. Doch es war und ist vor allem eine Leistung des Durchhaltens, des Improvisierens und des alltäglichen Trouble-Shootings. Vor allem aber hat der seit sieben Monaten anhaltende Krisenbewältigungsmodus einen hohen Preis, der erst nach und nach sichtbar wird.

 

Ich rede hier nicht von den erheblichen sozialen Folgen, den steigenden Abbrecherquoten unter ärmeren Studierenden, die viele angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen befürchten. Ich meine nicht die einbrechenden Steuereinnahmen, die absehbaren Sparhaushalte in Bund und Ländern, die auch Lehre und Forschung härter treffen könnten, als es viele zurzeit schon wahrhaben wollen. Der hohe Preis, von dem ich rede, ist eine Innovationslücke, die gleich doppelt bedrohlich ist. 

 

Erstens: Die Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben über der Dauer-Krisenbewältigung keine Zeit mehr, sich und ihre Verfasstheit, ihre Abläufe und Entscheidungsprozesse zu hinterfragen. Vielleicht hätten ihre Chefetagen sogar die Zeit, nutzen aber die Gelegenheit kaum einmal, weil doch sowieso gerade alles anders ist und die Digitalisierung Veränderung genug suggeriert. So bleiben viele Institutionen eingefroren auf einem Vor-Corona-Level. Wenn Corona vorbei ist, werden sie zu den alten Abläufen zurückkehren (vielleicht um diese oder jene digitale Variante ergänzt), dann haben sie über der Krise ein Jahr oder mehr der eigentlich kontinuierlich nötigen Selbsterneuerung verpasst. 

 

Zweitens: Die Organisationen sind eingefroren, und von dem, was ich aus den Hochschulen höre, gilt das auch für die inhaltliche Kreativität in Lehre und Forschung. Eben weil die Menschen, aus denen die Hochschulen und Forschungseinrichtungen bestehen, nicht mehr "einfach so" zusammenkommen. Weil in Videokonferenzen zwar die ToDos routiniert abgearbeitet werden, aber die Frage, ob man das nicht alles auch ganz anders machen könnte, eben eine ist, die man normalerweise vor allem dann stellt, wenn der offizielle Teil erledigt ist. Nur ist das in Corona-Zeiten genau dann, wenn der Zoom- oder BigBlueButton-Bildschirm schwarz wird.

 

Woher sollen die Ideen für neue Forschungsprojekte kommen, wie sollen die Blaupausen für ein neues Stipendium oder ein ungewöhnliches Doktorandenprogramm entstehen, wenn nicht aus den ungezwungenen Begegnungen zwischen Menschen, die oft erst in dem Moment, in dem sie gar nicht auf einen kollektiven Geistesblitz aus sind, eben diesen haben?

 

Wenn die Krise vorbei ist, werden
wir die Lücke so richtig spüren

 

Noch gibt es genug abzuarbeiten an den Hochschulen. Noch gilt es die Krise zu überstehen und inmitten der Corona-Einschränkungen den Übergang ins Wintersemester zu ebnen. Doch irgendwann, man kann es sich kaum vorstellen, wird die Krise vorbei sein. Und dann werden wir sie so richtig spüren, die Lücke an neuen Ideen, an Kreativität und wissenschaftlichen Innovationen. Eine Lücke, die den Wiederaufbau der Wissenschaft, aber auch der Gesellschaft insgesamt, noch schwieriger machen wird.

 

Wenn wir aber schon jetzt erahnen können, dass es so kommt: Warum lösen wir uns in den kommenden Monaten nicht bewusst und immer wieder aus dem routinierten Krisenmodus, der sich vertraut und richtig anfühlt, und suchen nach neuen Gelegenheiten, gemeinsam kreativ zu sein? Ich weiß selbst nicht, wie es gehen soll. Ich weiß aber, dass noch ein halbes Jahr Krisenbewältigung nicht reichen wird, um die Innovationspipeline offenzuhalten.  

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Kommentare: 8
  • #1

    Ruth Himmelreich (Dienstag, 29 September 2020 15:09)

    "Routinierter Krisenmodus"? Der Krisenmodus ist ganz und gar nicht routiniert, denn das WS wird kein Corona-Semester, wie wir es jetzt hatten, sondern ein Hybridsemester, das uns vor neue Herausforderungen stellt.

    Die Studis, die dann wieder in den Gebäuden herumwuseln - werden die diszipliniert sein und sich elektronisch oder händisch in Anwesenheitslisten eintragen oder nicht? Was, wenn es zu Infektionsketten kommt?

    Wie organisieren wir die Laborgruppen in Kohorten, bei denen wir den Mindestabstand nicht halten können - was machen wir bei verschiedenen Laborkursen, bei denen wir nicht genau dieselbe Kohorte haben?

    Wie gehen wir mit den nicht erfüllbaren, weil konträren, Wünschen der Studis um "alles maximal digital verfügbar mit maximalem Datenschutz für alle"? Und natürlich alles gleichzeitig in Präsenz und digital.

    Es ist eben nicht business as usual. Obendrauf kommt das Gezerre mit der Politik, die sich weigert, anzuerkennen, dass die Lehrenden für eine vernünftige digitale Lehre Zeit (also mindestens befristete Deputatsreduktionen) brauchen. Aber das könnte Studienplätze und damit Hochschulpaktmittel kosten - deswegen macht man die Augen ganz fest zu.

    Eigentlich bräuchte man deutlich mehr Personal zur Betreuung (und wäre damit an den Unis nur auf dem lausig schlechten Vor-Corona-Nivau). Da das nix wird, werden wir weiterwursteln und hoffenlich ein bisschen Raum für etwas Kreativität haben.

  • #2

    Michael Becker-Mrotzek (Dienstag, 29 September 2020 18:58)

    Ich möchte dieser treffenden Analyse vor allem einen Aspekt hinzufügen: Neben dem Fehlen der informellen Gespräche, die sich in Videokonferenzen praktisch nicht ergeben oder herstellen lassen, ist es vor allem der Verlust an Face-to-Face Gesprächen.

    Erst in der direkten Interaktion steht uns das gesamte Repertoire an sprachlichen und nicht-sprachlichen Mitteln der Kommunikation zur Verfügung, die für das gemeinsame Denken, Ideen Entwickeln, kreatives Handeln so unverzichtbar sind. Ohne Mimik und Gestik, ohne Zwischenfragen, ohne die vielen eingeworfen Hm (und sonstigen Interjektionen) zum Signalisieren von Verständnis oder Nicht-Verstehen fällt es uns schwer, gemeinsam Ideen zu entwickeln.

    Das gilt in gleicher Weise für die Lehre, für Fachgespräche oder Planungsgespräche. Hier wird sehr deutlich, wie stark gelingende Kommunikation nach wie vor leibgebunden ist. Auch aus diesem Grunde ist es für Forschung und Lehre wichtig zu überlegen, wie direkte Gespräche unter Einhaltung der Hygienestandards ermöglicht werden können.

  • #3

    Grobianus (Dienstag, 29 September 2020 19:46)

    Diese "bloße Existenz" rührt wohl mit da her, dass die Routine auf nicht mal halbem Weg zum Ziel eingesetzt hat: Was Kreativität und "smart people getting smarter together" in der Pandemie und darüberhinaus fördern würde, sind die radikal-hochschulübergreifende Kehrtwende zu OER und Vorlesungsaufzeichnungen der Grundlagenseminare etc. sowie Online-Tools zur Entscheidungsfindung und Selbstverwaltung, um Platz für tatsächliche innovative Projektarbeiten zu schaffen. Reaktiviert jetzt die zahlreichen unter der Oberfläche schlummernden Initiativen und Grüppchen von Hochschulangehörigen, die weiterhin den engen Kontakt (aus der Ferne) pflegen und vor Ideen nur so strotzen - und nutzt ihre Potentiale, um sie zu übertragen! Von den wenigsten Hochschulpräsidien habe ich einen so deutlichen Aufruf zum Umdenken vernommen.

  • #4

    Klaus Diepold (Dienstag, 29 September 2020 20:22)

    Ich lese den Blog-Eintrag und kann dieser etwas generalisierenden Darstellung nicht zustimmen. In meinem eigenen Umfeld war der Sommer und viel mehr noch der Herbst voller neuer und innovativer Ideen, wie wir zum einen die Lehre für ein weiteres Online-Semester für alle Beteiligten noch interessanter gestalten können.

    Vor allem geht es auch darum, Ansätze zu finden die Kommunikation zwischen den Studierenden zu animieren und zu unterstützen. Es gibt neue Ideen wie wir die Forschung gestalten und viele neue Ideen zu Forschungsthemen usw. usw. Von Innovationsstau kann ich nichts sehen.

    Die Sondersituation öffnet viele Möglichkeiten und Freiräume um Dinge und Ideen auszuprobieren, die in einer Vor-Coronazeit nur Kopfschütteln und Unverständnis des Etablisements hervorgerufen hätten. Viele Menschen sind hier wie entfesselt ...

    Zum ersten mal findet eine breite Diskussion zwischen DozentInnen statt, die sich über Lehre und Lernen Gedanken machen und diskutieren. Das habe ich in meinen 18 Jahren in der Universität so noch nicht erlebt.

    Nicht alles ist toll in der Corona-Zeit, aber Vieles läuft deutlich besser als erwartet. Die Versäumnisse der Politik in der Vergangenheit machen sich besonders bemerkbar, z.B. der verzögerte Digitalpakt, die Verzögerungen beim Breitbandausbau, die z.T. lächerliche Infrastruktur für Online-Lehre, die über Jahre verschleppt wurde, die mangelnde Unterstützung für Schulen und Hochschulen bei der Digitalisierung usw. usw.

  • #5

    Philonous (Mittwoch, 30 September 2020 06:34)

    spätestens seit dem Jahrtausendwechsel wird immer wieder gefordert, dass die Lehrenden digital unterstützte Lehrformate einsetzen, asynchrones Lernen ermöglichen und kompetenzorientiert prüfen. Bis zum Corona Einschlag ist praktisch nichts passiert - abgesehen von der Erprobung verschiedener Abwehr-Reflexe. Corona hat das System Hochschule irritiert - hoffentlich bleibt vieles vom "neuen" Instrumentarium im aktiven Einsatz.

  • #6

    Laubeiter (Mittwoch, 30 September 2020 15:01)

    Corona ist global und berührt außer Medizin andere Forschungsfelder. Wenn ich es richtig sehe, dann hat z.B. das Institut für Ethik und KI der TU München gerade vier Projekte zum Umgang mit Daten zu Covid19 für eine Förderung ausgewählt. An der FU Berlin gibt es ein Seminar zu Politischen Einstellungen in Zeiten von Corona. Das sind Schritte, ich hoffe auch, dass viele noch kommen. Wann wurde nach dem Ende des Warschauer Pakts angefangen, die neue Weltlage zu erforschen?

  • #7

    Evgeny Bobrov (Mittwoch, 30 September 2020 15:32)

    Es ist eine interessante Frage, ob wir auf eine Innovationslücke zusteuern - ich würde dies auch hinterfragen, dies ist aber sicherlich nicht ausgeschlossen. Wenn es allerdings dazu kommen sollte, dann würde ich hierfür andere Gründe als die genannten vermuten. Ich denke, dass die meisten von uns sich als Menschen nach Austausch und direktem Gespräch - und, allgemeiner Gesprochen, nach der gewohnten Normalität - sehnen, und dass dies als ein Vorwand genommen wird, Online-Meetings und generell Homeoffice nicht auf die gleiche Art zu gestalten wie wir Präsenzarbeit gestalten. Es gibt Online-Formate für informellen Austausch, auch wenn sie sicherlich gewöhnungsbedürftig sind, und mindestens kann man sich immer online zu einem Kaffee verabreden, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Auf das zufällige Aufeinandertreffen auf dem Gang als eine Quelle der Inspiration zu bauen erscheint mir deutlich zu optimistisch, und vielleicht können wir die Krise sogar nutzen, um bessere Formate zu finden. Nicht zuletzt ist es online möglich, mit Expert*innen und Interessierten weltweit zu sprechen, und ich werde z.B. in nächster Zeit an mehr und interessanteren Konferenzen teilnehmen, als dies in Präsenz angesichts der hohen Kosten jeder Art (finanziell, zeitlich und klimatisch) möglich gewesen wäre. Somit kann ich den Aufruf, sich bewusst Pausen von der Routine zu nehmen und Online-Formate für Innovation und Ideenfindung einzuplanen, nur unterstützen. Dabei sollten wir aber alle berücksichtigen, dass es oft auch aus paktischen Gründen nicht klappt - wenn z.B. Kinder betreut werden müssen, dann wird man erst einmal das Dringendste erledigen, dies ist aber etwas Corona-spezifisches und hat nicht per se mir Homeoffice und digitalen Formaten zu tun.

  • #8

    B.Zulauf (Mittwoch, 30 September 2020 19:41)

    Vielleicht ist Routine ganz gut um all die Veränderungen aus einer guten Perspektive zu bewerten und nachhaltige Strategien abzuleiten. Dieser Tage hört man oft, dass jetzt in kurzer Zeit viele Innovationen möglich waren und sind. Allerdings ist die Rede von Maßnahmen und Möglichkeiten die aufgrund der aktuellen Situation und nicht als ein "willentlicher und gezielter Veränderungsprozess hin zu etwas Erstmaligem, Neuem“ entstanden sind.
    Die Routine bietet möglicherweise eine gute Basis für strategische Entscheidungen: Und auf die Innovationen die mit solchen Entscheidungen einhergehen können, bin ich auch gerne noch nach dem nächsten Semester gespannt.