Bedeutet das Allzeithoch bei den gemeldeten Corona-Neuinfektionen, dass die Lage bereits schlimmer ist als im Frühjahr? Der Blick in die Tiefen der Statistik zeigt: Nein, noch nicht. Aber viel fehlt nicht mehr. Und die nächsten zwei Wochen werden zeigen, wie schlimm es tatsächlich wird.
EIN WORT SICKERT in die öffentliche Debatte ein: Lockdown. Bis vor kurzem hatten die Regierungschefs von Bund und Ländern ein erneutes Herunterfahren der Gesellschaft noch an den Rand des Vorstellbaren geschoben, jetzt will keiner mehr irgendetwas ausschließen. Was im Umkehrschluss heißt: Steigen die Zahlen weiter, gerät die Politik unter Handlungszwang. Wie aber entwickeln sich die Zahlen, und inwieweit lässt sich die Lage mit dem Frühjahr vergleichen?
1. Rekordwerte bei den Neuinfektionen
Für die gerade zu Ende gegangenen Kalenderwoche 43 haben die Gesundheitsämter bislang (Stand Montagmorgen) 67.320 Neuinfektionen ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldet. Schon diese sehr vorläufigen Zahlen liegen fast doppelt so hoch wie auf dem Höhepunkt der ersten Welle: In der Kalenderwoche 14 verzeichnete das RKI 36.063 Neuinfektionen. Allerdings bedeutet das nicht, dass das tatsächliche Infektionsgeschehen bereits wieder den Stand von Anfang April erreicht hat, weil auch die Zahl der Tests heute sehr viel höher liegt. Auch andere Indizien (Krankenhauseinweisungen, auf der Intensivstation behandelte Patienten) deuten daraufhin, dass die zweite Welle noch nicht auf den Höhepunkt der ersten Welle geklettert ist.
2. Vergleichbarkeit der Zahlen
In Kalenderwoche 14 führte die RKI-Statistik 408.000 Corona-Tests auf, von denen 9,0 Prozent ein positives Ergebnis hatten, sprich: einen mutmaßlichen Infektionsfall anzeigten. Die Zahl der Corona-Tests in der vergangenen Woche ist noch nicht bekannt, in der vorvergangenen Woche waren es 1,195 Millionen – also knapp dreimal so viele. Die Positivrate lag bei 3,6 Prozent. Aus dem Vergleich der Testzahlen wird offensichtlich, dass die Dunkelziffer nicht erkannter Corona-Neuinfektionen im Frühjahr deutlich höher gewesen ist.
Unabhängig von etwaigen Verzerrungen durch die Testraten ist dagegen die Zahl der ins Krankenhaus eingewiesenen Patienten. Hier gibt es allerdings eine Unterschätzung, weil nur bei einem Teil der Corona-Fälle auch ihr Krankenhaus-Status erfasst wird. Es zeigt sich: In der Kalenderwoche 42 (neuere Zahlen sind noch nicht verfügbar) zählte das RKI 1356 Hospitalisierungen, in der Kalenderwoche 14 dagegen bereits 6050. Allerdings wurden in KW 42 nur für 63 Prozent der Neuinfektionen der Krankenhaus-Status erfasst, in KW 14 immerhin für 87 Prozent. Rechnet man die aktuellen Werte auf den Erfassungsstand von damals hoch, ergeben sich immer noch weniger als ein Drittel der Zahlen von Kalenderwoche 14.
Geeignet für einen Vergleich sind die Zahlen der auf Intensivstationen behandelten Patienten. Gestern gab die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ihre Zahl mit 1296 an. Am Ende der Kalenderwoche 14 waren es laut DIVI 2.534 – wobei damals ein deutlich geringerer Anteil der Intensivbetten in die Statistik einbezogen war, die tatsächliche Zahl insofern nochmal deutlich höher gelegen haben dürfte. Auch hier erscheint insofern denkbar, dass in Kalenderwoche 42 vielleicht ein Drittel der Zahlen aus Kalenderwoche 14 erreicht wurde.
Aus dem vorhandenen Statistikmaterial kann man also ableiten, dass sich die zweite Welle derzeit noch deutlich vor dem Höhepunkt der ersten Welle befindet, auch wenn die gemeldeten Neuinfektionszahlen auf Rekordniveau liegen. Der Stand könnte in etwa dem von Kalenderwoche 12 entsprechen, die am 22. März endete. Damals gab es rund 2200 Krankenhauseinweisungen – bei einer, siehe oben, deutlich höheren Rate der Krankenhaus-Erfassungen. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen lag bei rund 22.000 – also weniger als einem Drittel des gegenwärtigen Wertes.
Dafür spricht auch, dass die Zahl der bislang für die vergangene Kalenderwoche gemeldeten verstorbenen Covid-19-Patienten (255) sehr viel näher an den Werten der Kalenderwoche 12 (428) liegt als an Kalenderwoche 13 (1419).
3. Die Dynamik der Entwicklung
Im Frühjahr wurden ungefähr zu dem jetzt wieder erreichten Zeitpunkt der tatsächlichen Pandemie-Entwicklung – zu Beginn der 13. Kalenderwoche, am 23. März – bundesweite Shutdown-Maßnahmen beschlossen. Daraufhin flachte das wöchentliche Wachstum der gemeldeten Neuinfektionen rasch ab. Von Kalenderwoche 11 zu 12 nahmen die offiziellen Fälle noch um 249 Prozent zu, zwischen Woche 12 und 13 um 52 Prozent und zwischen Woche 13 und 14 noch um sechs Prozent.
Derzeit wächst die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen seit Kalenderwoche 40 um wöchentlich rund 60 Prozent – allerdings zuletzt noch beschleunigt. Was heißt: Wenn jetzt nicht sehr schnell härtere Maßnahmen ergriffen werden, wird die Pandemie-Entwicklung tatsächlich über die erste Welle hinausschießen.
Dies ist erst einmal eine rein statistische Feststellung. Die Äbwägung über Schaden und Nutzen, also die Sinnhaftigkeit jeder einzelnen jetzt denkbaren Corona-Maßnahme, ist eine politische, und die muss weitaus mehr umfassen als nur das Schauen auf die Corona-Statistik.
4. Was ist mit den schweren Fällen?
Da die Zahlen bei den intensivmedizinisch behandelten Patienten und ebenso die der Verstorbenen erst mit einem leichten Verzug ansteigen, ist deren drastische Zunahme zum jetzigen Zeitpunkt bereits absehbar. In Woche 12 verzeichnete das RKI 428 gestorbene Covid-19-Patienten, in Woche 13 1439 und in Woche 14 dann den Höchststand von 2247. Zwischen Kalenderwoche 13 und 14 schoss auch die Zahl der Intensivpatienten um mehr als das Doppelte nach oben.
Genau vor dieser Entwicklung würden wir jetzt aktuell wieder stehen. Die Frage ist, ob diese beiden Kurven diesmal flacher verlaufen werden als im Frühjahr. Dies wäre aus zwei Gründen denkbar: Erstens liegt die Zahl der nachweislich mit dem Coronavirus infizierten Über-70-Jährigen mit (die Statistiken sind noch sehr vorläufig!) mindestens 5058 in Kalenderwoche 43 noch unter denen der Kalenderwoche 13 (5.181), obwohl damals wie gesagt die Dunkelziffer viel höher war. Es gibt also vermutlich immer noch deutlich weniger erkrankte Ältere als in der ersten Welle. Zweitens hoffen viele Mediziner, dass die Behandlungsmöglichkeiten heute insgesamt besser sind. In zwei Wochen spätestens werden wir es wissen, ob zumindest diese Hoffnungen berechtigt sind. Fest steht nämlich auch, dass besonders die Zahl der über-80-jährigen Corona-Patienten in den vergangenen Wochen explodiert ist – sie hat sich innerhalb von zehn Wochen verdreißigfacht und innerhalb von vier Wochen fast verzehnfacht.
Sollten die Kurven nicht flacher verlaufen, würde die Pandemie-Entwicklung in etwa zwei Wochen tatsächlich über den Stand des Frühjahrs hinausschießen – und auch die schweren Fälle würden bislang unbekannte Höhen erreichen.
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