· 

Wie gut wirkt der "Wellenbrecher"-Shutdown wirklich?

Ein aktueller Überblick über die Zahlen der Pandemie. Und:
Warum wir als Gesellschaft weniger über Schulen und mehr über Altenheime diskutieren sollten.

Deutschland und die Corona-Pandemie: die grafische Darstellung der Johns-Hopkins-Universität

MORGEN SOLL ES BESSER LAUFEN. Nachdem es bei der letzten Corona-Spitzenrunde im Kanzleramt zum Streit zwischen Angela Merkel und den Ministerpräsidenten gekommen war, wollen die Regierungschefs am Mittwochnachmittag ein Signal der Einmütigkeit senden. Fest steht schon jetzt, dass der "Wellenbrecher"-Shutdown verlängert und teilweise verschärft werden soll. Aber wie ist überhaupt die aktuelle Corona-Situation, und was folgt aus ihr? Vier Beobachtungen und eine Schlussfolgerung.

 

1. Die Neuinfektionszahlen beginnen zu sinken – aber sie sinken noch sehr langsam

 

Heute Morgen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) für den gestrigen Montag 13.554 Neuinfektionen. Das waren 865 (6,3 Prozent) weniger als genau vor einer Woche und im Wochenvergleich der dritte Rückgang in Folge. Insgesamt gibt das RKI die Zahl der Neuinfektionen für die vergangene Woche mit 125.162 an. Im Vergleich zur vorvergangenen Woche bedeutet dies einen leichten Rückgang um 1,8 Prozent. In der Woche davor hatte es noch einen (ebenfalls geringen) Anstieg um 1,5 Prozent gegeben. Das dramatische Fallwachstum, das zum Shutdown führte, hat dieser also stoppen können. Doch ob der Trend nach unten stabil ist (und möglichst an Tempo zunimmt), wird sich im Laufe der Woche erweisen. Wie hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) neulich im RND-Interview gesagt: "Das Virus hat leider eine sehr lange Bremsspur". Die natürlich bei einem Teil-Shutdown noch wesentlich länger ist als bei umfassenderen Gegenmaßnahmen.

 

2. Die Intensivstationen füllen sich merklich langsamer

 

Nachdem das RKI Mitte November angesichts der explodierten Fallzahlen seine Teststrategie umstellen musste, stellte sich Frage: In wie weit sind die aktuellen Corona-Statistiken tatsächlich vergleichbar mit denen von vor einigen Wochen? Und eine noch wichtigere Frage folgt auf dem Fuß: Ist die derzeitige Entschleunigung wirklich echt? Es gibt Anhaltspunkte, dass dem so ist. Für Montag meldete das RKI 3.742 Corona-Patienten, die auf deutschen Intensivstationen behandelt werden. Das sind 8,9 Prozent mehr als eine Woche zuvor. Der Wochenvergleich davor hatte noch ein Plus von 14,3 Prozent ergeben, der davor 34,0 Prozent. Ende Oktober füllten sich die Intensivstationen sogar mit Wachstumsraten von 60 und mehr Prozent. Da schwer erkrankte Corona-Patienten im Schnitt rund zehn Tage nach Krankheitsbeginn intensiv behandelt werden müssen, besteht Hoffnung, dass die Zahl der Intensivpatienten bald ihren Höhepunkt erreicht hat. Der Sieben-Tages-Schnitt bei den verstorbenen Corona-Patienten hat derweil fast den Höchststand der ersten Welle erreicht, geht aber laut WELT-Journalisten Olaf Gersemann immerhin leicht zurück von 224 auf 221 pro Tag.

 

3. Die Demographie der Corona-Statistik ist kaum noch verlässlich

 

Die veränderte RKI-Teststrategie hat eine offensichtliche Folge: Mehrere Altersgruppen wurden zuletzt dramatisch weniger oft auf eine Corona-Infektion getestet. Besonders stark fiel der Rückgang (rund 25 Prozent) bei der Gruppe der 15- bis 34-Jährigen aus, die seit vielen Wochen pro 100.000 Einwohner am meisten Tests absolviert hatte. Nach letzten verfügbaren Werten zufolge liegt sie nur noch auf Platz zwei, die Über-80-Jährigen, die am meisten durch das Virus gefährdet sind, werden seit vorvergangener Woche am häufigsten getestet. Ebenfalls sehr stark war der Test-Rückgang bei den 34- bis 59-Jährigen. Weniger stark war der absolute Test-Rückgang bei den 0-bis 14-Jährigen. Da sie aber ohnehin im Vergleich seltener getestet werden, ist auch dieser Rückgang nicht zu vernachlässigen. 

 

4. Erneut starker Anstieg bei den Über-80-Jährigen

 

All dies als Vorbemerkung zu den noch vorläufigen RKI-Fallhäufigkeiten in der vergangenen Woche. Hier zeigt sich: ein deutlicher – auch absoluter – Anstieg bei den Über-80-Jährigen (+1.567 auf 10.416), eine Stagnation bei den mittleren Altersgruppen und ein signifikanter Rückgang bei den 15- bis 34-Jährigen (-3.303 auf 37.431).

 

Innerhalb von 11 Wochen hat sich die Zahl der nachweislich mit Corona neu infizierten Über-80-Jährigen, ausgehend von 110 Anfang September,  damit nahezu verhundertfacht. Zum Vergleich: Gesamtgesellschaftlich stieg die Zahl der gemeldeten Corona-Fälle im gleichen Zeitraum um das Fünfzehnfache. Besonders krass ist laut aktuellem RKI-Bericht die 7-Tages-Inzidenz bei den Über-90-Jährigen: 358 Neuinfizierte pro 100.000 Gleichaltrige. Und bei den Über-100-Jährigen: 502. Mehr als dreimal so viel wie der Bevölkerungsschnitt der vergangenen Woche (150). Nun kann man sagen: Nun ja, in absoluten Zahlen sind das gar nicht so viele. Das stimmt vermutlich. Aber macht es das wirklich besser?

 

Nun der Gegenschnitt: Dass auch bei den 15- bis 19-Jährigen mit rund 8 Prozent (auf 7.943) ein kräftiges Minus berichtet wird, muss geradezu ironisch erscheinen vor dem Hintergrund der deutlichen Zunahme an Corona-Fällen gerade in weiterführenden Schulen. Dass sich bei den 0- bis 4-Jährigen ein leichter Rückgang andeutet, scheint dagegen plausibler. Bemerkenswert ist, dass trotz der weniger Tests bei den 5- bis 9-Jährigen, also vor allem den Grundschülern, bereits 3.759 Infektionen erfasst wurden – 4,5 Prozent mehr als in der Vorwoche. Der Rückgang bei den 10- bis 14-Jährigen um 4,3 Prozent auf 5.093 dürfte wiederum, so erfreulich er klingt, stärker durch die Teststrategie bedingt sein. 

 

Was bedeutet das für morgen?

 

Der Teil-Shutdown wirkt, lautet die Schlussfolgerung vor dem Treffen der Regierungschefs von Bund und Ländern. Er wirkt genauso, wie es von einer begrenzten Anzahl von Maßnahmen zu erwarten war. Dass der Rückgang der gemeldeten Neuinfektionen erst allmählich einsetzen und dann langsamer verlaufen würde als beim Shutdown im Frühjahr, als unter anderem auch Geschäfte, Gottesdienste und Schulen zu waren, war schon Ende Oktober absehbar. Dass, wenn Bildungseinrichtungen bewusst offengehalten werden, die Zahl der infizierten Kinder und Jugendlichen länger steigt als in anderen Altersgruppen und erst sinkt, wenn die gesamtgesellschaftliche Inzidenz zurückgeht, war ebenfalls zu erwarten. Die offiziellen RKI-Zahlen dürften die derzeitige Dynamik vor allem bei den 10- bis 19-Jährigen merklich unterzeichnen.

 

Doch wie gesagt: Überraschend ist diese Entwicklung nicht. Überraschend, ja verwunderlich ist, wie engagiert, anhaltend und kontrovers in der Öffentlichkeit über die Rolle von Kindern und Jugendlichen im Pandemiegeschehen diskutiert wird, obwohl ja offensichtlich trotz der offenen  Kitas und Schulen der Turnaround gelingt.

 

Und dass er so langsam vonstatten geht, hat ganz sicherlich auch, aber nicht nur mit den Bildungseinrichtungen zu tun. In Irland etwa, wo ebenfalls die Schulen offengehalten wurden und der sonstige Lockdown sehr viel drastischer ausgefallen ist, war auch das Abwärts-Tempo bei den gesamtgesellschaftlichen Infektionen deutlich stärker.

 

Wie wäre es also, uns stärker auf die Rolle der Erwachsenen zu konzentrieren, denen im Joballtag oder beim Shoppen, ja bislang selbst beim privaten Freundetreffen (halt nicht mehr in der Kneipe und nicht alle gleichzeitig) oder beim Gottesdienstbesuch erstaunlich wenig Einschränkungen abverlangt wurden? Ist es nicht angemessen, ja natürlich, dass eine Gesellschaft sich schützend um ihre jüngsten Mitglieder stellt und bereit ist, sich für deren Wohlergehen stärker einzuschränken?

 

Neulich schrieb ich vom einem Corona-"Eskapismus", der dazu führe, dass wir als Gesellschaft lieber über die Rolle der Kinder und Jugendlichen diskutieren als über unser eigenes Zutun in der Pandemie. Noch viel schlimmer wird dieser Eskapismus dadurch, dass wir öffentlich kaum einmal über die dramatische Entwicklung in den Alten- und Pflegeheimen diskutieren, die sich hinter der um den Faktor Hundert gestiegenen Zahl der über 80-jährigen Neuinfizierten verbirgt. Warum diskutieren wir als Gesellschaft so viel über (sicher notwendige) Schutzkonzepte in Schulen und so wenig über Schutzkonzepte für die Pflegeheime?  Warum fordern wir nicht viel mehr Engagement von der Politik in der Hinsicht?

 

Es müssen, es werden schärfere Corona-Maßnahmen beschlossen werden diese Woche. Dass kann, das wird auch die Schulen umfassen, auch wenn die Ministerpräsidenten weiter flächendeckende Teil-Schließungen ablehnen. Doch der Fokus der gesellschaftlichen Debatte muss sich endlich dorthin schieben, wo er hingehört: auf den Schutz der Alten und die Verantwortung dafür, die vor allem und zuerst wir übrigen Erwachsenen tragen. 

 

Dieser Artikel wurde am 25. November, 10 Uhr um die aktuelle 7-Tages-Inzidenz bei alten Menschen aktualisiert. 



Kommentar schreiben

Kommentare: 0