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Gefährliche Inkonsequenz

Die Regierungschefs wollen Kitas und Schulen weiter offenhalten. Gerade für jüngere Kinder ist das sehr wichtig. Der Preis wären allerdings umso stärkere Einschränkungen anderswo – und die bleibt die Politik schuldig.

ES IST EIN GEFÄHRLICHES SPIEL. Auf der einen Seite wollen Bund und Länder Kitas und Schulen offenhalten. Auf der anderen Seite wollen sie den Preis nicht dafür bezahlen.

 

Zuerst zum Offenhalten. "Das Offenhalten von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen hat höchste Bedeutung", heißt es im gestern spätabends verabschiedeten, 15-seitigen Beschluss der Regierungschefs von Bund und Ländern. Gefasst wurde er nach stundenlangen, teilweise kontroversen Beratungen. Dem Satz mit der "höchsten Bedeutung" hört man an, dass hier die Länder sprechen, die diesmal die Beschlussvorlage ausgearbeitet hatten. Vergangene Woche, im durchgefallenen Maßnahmen-Entwurf des Kanzleramtes, war das Offenhalten der Bildungseinrichtungen nur als "eine politische Priorität" bezeichnet worden – und genau um ihre Behandlung war es dann auch zum Eklat gekommen. Dass die Regierungschefs erneut Kitas nonchalant unter "Betreuungseinrichtungen" fassen anstatt unter "Bildungseinrichtungen", fällt indes auch diese Woche negativ auf.

 

Konkret haben Kanzlerin Merkel und die 16 Ministerpräsidenten verabredet: Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche müssen ab Klasse 7 alle Personen auch im Unterricht eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen. Ab 200 Neuinfektionen sollen, heißt es wörtlich im gestern gefassten Beschluss, "darüber hinaus weitergehende Maßnahmen für die Unterrichtsgestaltung in den älteren Jahrgängen ab Jahrgangsstufe 8 (außer Abschlussklassen) schulspezifisch umgesetzt werden, welche die Umsetzung der AHA+L-Regeln besser gewährleisten, beispielsweise Hybrid- und Wechselunterricht."

 

Auch für die oberen Klassen ist die Schwelle zum
teilweisen Fernunterricht sehr hoch gelegt

 

Mit anderen Worten: Kitas und Schulen bleiben unabhängig von der Fallinzidenz bis mindestens einschließlich Klasse 7 im täglichen Präsenzunterricht. Und die Schwelle für den Wechsel in den teilweisen Fernunterricht ist auch für die oberen Klassen sehr hoch gelegt. 

 

Keine Frage: Ich halte es für richtig, bildungs- und sozialpolitisch, die kleineren Kinder und Jugendlichen im täglichen Präsenzbetrieb zu halten. Jüngeren Schülern fällt es viel schwerer, ohne die direkte Anleitung durch Lehrkräfte zu Hause zu lernen, zumal die meisten Schulen eben nicht auf einen wirklich funktionierenden Digitalunterricht vorbereitet sind. Gerade Kindern aus bildungsfernen Familien drohen erneute Bildungslücken, und die Schließungen im Frühjahr waren auch für viele Eltern eine hohe psychische Belastung, was wiederum zu zusätzlichem Druck auf die Kinder geführt hat. Die Liste der Gründe ließe sich fortsetzen, Bildungsforscher wie Jugendmediziner haben vielfach vor den Folgen selbst teilweiser Schließungen für jüngere Kinder gewarnt. Nur gut auch, dass die mehr als unselige Forderung der Kanzleramts-Vorlage aus der vergangenen Woche, Kinder sollten sich nur noch mit einem festen Freund oder einer festen Freundin treffen, endgültig verschwunden ist. Sie hat viel erzählt über das mangelnde Einfühlungsvermögen für Kinder – nicht nur in Teilen der Spitzenpolitik, sondern sicherlich auch in Teilen der Gesellschaft insgesamt.

 

Gleichzeitig aber warnen Virologen und Epidemiologen davor, dass Bildungseinrichtungen – unabhängig vom Alter und der noch immer nicht vollständig geklärten Frage, ob kleinere Kinder sich und andere gleich oft anstecken wie ältere Jugendliche – selbstverständlich auch eine Rolle in der Dynamik der Pandemie spielen. Womit wir beim Preis wären. Wenn die Politik – wie gesagt: ich finde zu Recht – befindet, dass das tägliche Offenhalten von Kitas und Schulen für alle Kinder die höchste gesellschaftliche Priorität habe, dann muss sie auch bereit sein, an anderer Stelle sehr viel schärfere Einschränkungen vorzunehmen. Innerhalb des Bildungssystems, aber auch außerhalb.

 

Innerhalb: Es ist vertretbar und angemessen, ja: bei sehr hohem Infektionsgeschehen notwendig, höhere Klassen in einen Wechselbetrieb zu schicken. Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass ältere Jugendliche genauso ansteckend sind wie Erwachsene, woraus folgt: Bei einer hohen gesellschaftlichen Fallinzidenz können und werden gerade weiterführende Schulen auch zum Corona-Umschlagplatz.

 

Aber: Hier als Grenze eine Inzidenz von 200 einzuziehen, ist fast schon lächerlich hoch. Das Robert-Koch-Institut (RKI) forderte in seinen Empfehlungen schon ab einer Inzidenz von 50 aufwärts unter bestimmten Umständen (im Gegensatz zu zahlreichen Behauptungen: nicht automatisch) einen Wechsel zum Hybridmodell. Das haben die Kultusminister als übertrieben abgelehnt, zumal das RKI seine Empfehlungen zum Wechselunterricht über 50 nicht nach Altersstufen differenzierte. Wer sorgfältig abwog zwischen den Bildungs- und Teilhaberechten der Schüler und der Eindämmung der Pandemie, konnte, ja musste vielleicht zu dem Ergebnis kommen, dass 50 selbst für die älteren Schüler zu niedrig ist. Wer sorgfältig abwägt, muss aber eben auch zu dem Ergebnis kommen, dass 200 für die weiterführenden Klassen deutlich zu hoch ist. Zumal wenn dann noch die ab 200 verlangten Konsequenzen so ungefähr und neblig beschrieben sind wie im gestrigen Beschluss.

 

Wo sind denn die strikteren
Maßnahmen anderswo?

 

Es wäre der notwendige Preis für das vollständige Offenhalten der Bildungseinrichtungen für jüngere Kinder gewesen, bei den älteren deutlich unterhalb einer Inzidenz von 200 klare und nachvollziehbare Einschränkungen vorzunehmen. Zu dem Preis hätte ebenfalls gehört, schon vor Wochen, ja Monaten  die notwendigen "schulorganisatorischen Maßnahmen" zu ergreifen, die im gestrigen Papier gefordert werden: einen gestaffelten Unterrichtsbeginn zum Beispiel oder "wo immer möglich zusätzliche Schülerverkehre". Es ist schön und gut, dass die Verkehrsministerkonferenz "sich damit im Detail befassen" wird. Aber warum erst jetzt? Warum nicht, wie viele zu Recht gefordert haben, schon vor Monaten?

 

Vor allem aber hätten die Regierungschefs bereit sein müssen, wenn das Offenhalten der Bildungseinrichtungen doch nach ihren Worten die "höchste Bedeutung" hat, die zusätzliche Infektions-Dynamik, die dadurch erhalten bleibt, durch striktere Maßnahmen anderswo zu erkaufen. Aber wo tun sie das denn? Die zusätzlichen Einschränkungen für unsere Gesellschaft wirken an vielen Stellen halbherzig. Insgesamt lese sich der Beschluss so, schreibt der Tagesspiegel-Checkpoint heute Morgen: "Ein paar Beschränkungen hier, ein paar Beschränkungen da; das Augenmerk bleibt auf Weihnachten gerichtet". Ein strenges Regelwerk? Fällt aus. "Deutschland einig Appell-Land. Die Frage eines Journalisten, ob sie überzeugt davon sei, dass die jetzt beschlossenen Maßnahmen ausreichend sind, beantwortet Merkel sehr uneindeutig, aber zumindest eindeutig nicht mit ja." 

 

So werden zum Beispiel "bei besonders extremen Infektionslagen" ab einer Fallinzidenz von 200 auch außerhalb von Schulen "die umfassenden allgemeinen Maßnahmen nochmals erweitert werden", aber was heißt das? Und wozu sind die Länder bzw. Regionen dann tatsächlich verpflichtet? Bei den Schulen, siehe oben, steht immerhin etwas leidlich Konkretes. Ansonsten: Fehlanzeige. Besonders besorgniserregend ist im Übrigen eine zentrale Botschaft des Beschlusses: "Zu Weihnachten dürft ihr euch zwischendurch mal lockerer machen". 

 

So ist und bleibt es ein gefährliches Spiel. In der Gesamtschau ist unklar, ob der gestern beschlossene Plan die Corona-Zahlen ausreichend schnell und nachhaltig drücken wird. Klar ist, dass, wenn es nicht klappt, sich das öffentliche Augenmerk einmal mehr auf die Bildungseinrichtungen richten wird. Selbst wenn diese am Ende der Weihnachtsferien vielerorts fast drei Wochen geschlossen sein werden und gar keinen Beitrag daran haben werden, wenn über die Feiertage die Zahlen wieder hochschnellen sollten.

 

Das ist einseitig, ja, man kann es als Eskapismus einer Gesellschaft bezeichnen, die nicht bereit ist, sich selbst die nötigen Einschränkungen aufzuerlegen, um die Bedürfnisse der Schwächsten – der Kinder und der Ältesten – ausreichend zu priorisieren. 

 

Das ist aber auch eine Folge von Politik, die das Richtige (Schulen und Kitas) offenhalten will, aber nicht bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen. 

 

Eine kleine Randbemerkung am Ende: Der Beschluss zum bundesweiten Vorziehen der Weihnachtsferien auf den 19. Dezember ist irgendwie symbolisch. Zwei Tage bringen epidemiologisch nichts, sorgen aber für unnötiges Chaos an den Schulen. Außerdem schaffen sie Verunsicherung, weil sie ein Zeichen sind für eine inhaltlich nicht begründete Unvorhersehbarkeit der Politik. Und schließlich: Wenn die Länder meinen, dass sich der tägliche Präsenzbetrieb an den Schulen vertreten lasse, wie passt dann dazu, mit dem Hinweis auf ein sichereres Weihnachten frühere Ferien anzuordnen?

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Kommentare: 3
  • #1

    Kritische Leserin (Donnerstag, 26 November 2020 10:11)

    Volle Zustimmung! Der Beitrag ist nicht nur im Datum seiner Zeit voraus ;-)

  • #2

    JM Wiarda (Donnerstag, 26 November 2020 10:15)

    Vielen Dank für den Hinweis!

  • #3

    Oliver Locker-Grütjen (Donnerstag, 26 November 2020 12:45)

    Ebenso, aber die Erklärung liegt doch auf der Hand...
    ...in den Schulen nichts Neues?! Kein Wechsel(Hybrid)-Unterricht?!
    Die Politik verhindert dies vehement, da sie sehr wohl weiß, dass sie es in den vergangenen Jahrzehnten massiv versäumt hat, die Schulen entsprechend mit digitaler Infrastruktur, geschultem Personal und didaktisch innovativen Medienkonzepten auszustatten, oder den Schulen dies zu ermöglichen.
    Die Lehramtsausbildung hinkt zudem mit ihrer auf reiner Fachdidaktik ausgelegten Vermittlung Dekaden hinterher. Es braucht auch horizontaler Expertisen in Medienkompetenz, Ethik, Nachhaltigkeit etc.
    Auch nach acht Monaten Pandemie sind wir nicht wirklich weiter.
    Schade zudem, dass Solingen hier nicht als Modellversuch genutzt wurde.