· 

Offener Ganztag

Eine Schule in Brandenburg hatte sich schon vor Corona für ein radikales Lüftungskonzept entschieden: Der Unterricht findet draußen statt – auch im Winter.

Wenn das Wetter es zulässt, unterrichten sie an der Jugendschule Strausberg im Sitzkreis unter freiem Himmel. Lehrer Timo Nadolny – neben ihm Hund Bobby – sagt: "Die Kids haben ein anderes Kälteempfinden". Fotos: JMW.

DER REGEN FÄLLT in Strömen, er klappert auf das Plastikdach des offenen Partyzelts, er tropft auf Tische und Bierbänke und dringt in den Ordner mit den Arbeitsblättern, der vor Timo Nadolny liegt. Nadolny, Dreitagebart, orange-schwarzer Regenparka, wischt die Feuchtigkeit von den Klarsichtfolien und macht weiter. "Was meint Ihr?", fragt er die fünf Jugendlichen, deren Füße in Pfützen stehen. "Wie viele Global Player dominieren die Lebensmittelproduktion der gesamten Welt?" 80, sagt das Mädchen in der Fleece-Jacke. 120, meint der Junge im Daunenmantel. 50, sagt Leon mit der Skimütze, mit 17 der älteste hier. Nadolny hebt den Kopf. "Stimmt, Leon. Wie kommst du darauf?" "Habe ich gerade gelesen", sagt Leon, grinst und zeigt auf Nadolnys Arbeitsblätter. Der legt schnell den Arm drauf.

 

Ein ganz normaler Morgen in der Jugendschule Strausberg, einer ganz und gar unnormalen Schule. Nur 30 Kilometer östlich von Berlin, mitten in der Kleinstadt Strausberg, liegt sie in einer eigenen Welt, hinter zugewucherten Zäunen und Büschen, inmitten verfallener Klostergebäude, hoher Bäume und verwilderter Gemüsebeete. Drei Pädagogen, 22 Schüler und eine Handvoll Helfer fahren jeden Morgen hier heraus, die meisten aus Berlin. Und sie verbringen den kompletten Tag an der frischen Luft.

 

Es ist ein Konzept, das manche vor Corona als skurril bezeichnet hätten. Jetzt, während an den Regelschulen über Sicherheitsabstände, Lüftungskonzepte und das Zusammenhocken in engen Klassenräumen debattiert wird, sagt das niemand mehr.

 

Im Partyzelt ist das Thema Ernährung dran

 

Auch der Stundenplan ist hier etwas anders. Genau genommen ist es ein Wochenplan, der sich immer wieder verändert und ein auf den ersten Blick verwirrendes Nebeneinander vieler Alternativangebote enthält, aus denen die Jugendlichen wählen können. Im Partyzelt ist an diesem Herbsttag das Thema Ernährung dran, Finanzen und Buchhaltung finden auf dem Estrichboden im halb fertigen Holzschuppen statt, der mal die Naturwissenschaften beherbergen soll. Für Studien- und Arbeitszeit ist die Jurte mit dem gelben Dach reserviert. Und wenn der Regen weg ist, setzen sie sich in einem Stuhlkreis auf die Wiese. Alles offen, alles frei, aber am Ende eines Schuljahres, darauf achten die Erwachsenen, haben alle Jugendlichen alle praktischen und theoretischen Aufgaben erfüllt.

 

Bei Timo Nadolny geht es heute um die Ausstellung "History of Food - unsere Nahrung und ihre globalen Wurzeln". In einer anderen Zeit wäre er mit den Jugendlichen in die Prenzlauer Allee nach Berlin gefahren, um bei einem der Workshops der Ausstellungsmacher dabei zu sein. Doch im Corona-Herbst bleibt ihm nur der Ordner mit den Materialien. Er berichtet von 250 Millionen Kleinbauern weltweit, die in moderner Sklaverei lebten, und von den 50 Großkonzernen, die den halben Lebensmittel-Weltmarkt unter sich aufgeteilt haben.

 

Dann sollen die fünf Jugendlichen beratschlagen, welche Forschungsprojekte zur Geschichte des Essens sie in Angriff nehmen wollen. Nadolny, 37, krault derweil den Schulhund Bobby (der sich noch in Ausbildung befindet, wie Nadolny betont), und erzählt. Wie er als Gymnasiallehrer für Religion und Geschichte angefangen hat, wie er irgendwann nicht mehr wollte und nach Afrika ging. Wie er wiederkam und eine Fortbildung zum Montessori-Pädagogen machte. Um sich dann an der Montessori-Schule in Berlin-Köpenick zu bewerben, weil er wusste, dass sie nebenher die Draußen-Schule hier in Strausberg betrieb. Das frühere Klostergelände hatte sie schon vor zehn Jahren erworben. "Klassen waren tageweise hier, vor allem im Sommer", sagt Nadolny. "Letztes Jahr habe ich dann mit drei Tagen die Woche angefangen. Und irgendwann haben die Schüler und wir Lehrer gesagt: Das ist doch Quatsch, wir ziehen jetzt ganz hier raus."

 

Knapp zwei Dutzend Schüler, Klasse 7 bis 10, entschieden sich, dauerhaft im Freien unterrichtet zu werden. Nach dem Lehrplan der staatlich anerkannten Drinnen-Schule natürlich, zu der sie weiter gehören. Einige mehr wären es wohl geworden, wenn die Eltern es erlaubt hätten. Und jetzt machen sie Montessori-Reinkultur in Brandenburg - so wie die italienische Reformpädagogin Maria Montessori es sich mit ihrem "Erdkinderplan" vorgestellt hat: Mit einem Aufbrechen der gewohnten Schulstrukturen in der Hochphase der Pubertät. Altersgemischt, mit einem Lernort nah an der Natur. Mit handwerklichen, landwirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Projekten. Mit Lehrern, die als "Lernbegleiter" die Praxis mit dem schulischen Lernstoff verknüpfen. "Hier ist alles real", sagt Nadolny. "Anders als im Standardschulbetrieb müssen die Jugendlichen bei uns Verantwortung übernehmen."

 

Eine Oase in der Pandemie

 

Zum Beispiel, indem sie mal fürs Kochen zuständig sind, drüben in der "Sommerküche", einer offenen Konstruktion mit Wellblechdach. Mal für den Einkauf. Für die Finanzen. Für die Öffentlichkeitsarbeit, für die Pflege des Geländes, für Reparaturen. Die Schüler planen auch den Innenausbau des "Blauen Hauses", des einzigen massiven Neubaus oben an der Straße, der ein festes Zuhause für jene Jugendliche werden soll, die die ganze Woche auf dem Gelände wohnen wollen.

 

Im Frühjahr, als Deutschland in den Lockdown ging, verstanden sie nicht, warum auch sie nach Hause gehen sollten - so sinnvoll die Maßnahmen gewesen seien. "Das war hier wie eine grüne Oase inmitten der Corona-Pandemie", sagt Nadolny. Jetzt sitzen sie an der frischen Luft oder im Zelt, wenn es regnet - bei zugigen zehn Grad trotz des Heizlüfters, den sie ab und zu anwerfen. "Die Kids haben ein anderes Kälteempfinden", sagt Nadolny.


In der Jurte ist am Nachmittag Studien- und Arbeitszeit.



Meena, das Mädchen in der Fleece-Jacke, und Isa haben sich entschieden, dass sie eine Skulptur zu "rassismuskritischer Sprache" erschaffen wollen. Nadolny sagt: "Macht mal." In vier Wochen ist Abgabe. Meena sagt: "Komm, wir gehen in die Jurte, da ist es wärmer." Isa folgt ihr, zieht ihre Mütze tiefer ins Gesicht und sagt: "Eigentlich ist es überall genauso kalt."

 

Leon und die anderen Jungs wählen "Ketchup & Co", Nadolny sagt: "Aber jeder muss einen eigenen Schwerpunkt machen." Leon nickt. Er ist der einzige Zehntklässler hier. Einer, der nicht viel sagt. Der lieber den Besen in die Hand nimmt und das Basketballfeld bei den alten Parkplätzen fegt. Die Konstruktion mit dem Wurfkorb hat er selbst zusammengezimmert. Als Leon 2019 herkam, stand seine Schulkarriere auf der Kippe. Diesen Sommer hat er die Berufsbildungsreife geschafft, jetzt steuert er auf einen Mittleren Schulabschluss zu. Mehrmals die Woche, während die anderen in der Jurte lesen, rechnen oder in Kleingruppen Unterricht haben, sitzt er in dem kleinen Blockhaus, das als Schulbüro dient, und löst Testaufgaben.

 

Den normalen Unterricht vermisst Dorothea nicht

 

"Bei allem, was wir anders machen", sagt Franziska Kasperski, die zweite Lehrerin in Strausberg, "am Ende müssen wir dafür sorgen, dass alle ihren Regelabschluss schaffen." "Franzi", wie die Schüler sie nennen, deckt Mathe und die Naturwissenschaften ab. Mittags hocken die Lehrer zwischen ihren Schülern, es gibt Nudeln mit Gemüsesoße, die Achtklässlerin Dorothea hat gekocht. Vermisst sie manchmal den normalen Unterricht? Dorothea überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf. "Das hat viel mehr Bedeutung, was wir hier machen." Dass ihre Freundinnen Mia und Thekla mitgegangen sind, hilft natürlich.

 

Während sie essen, kommt die Sonne hinter den Wolken hervor. Und so heben sie die Stühle auf, die umgedreht auf der Wiese liegen, wischen über die Sitzflächen und bilden einen Kreis. Nadolny geht zur Freiarbeit in die Jurte. Kasperski will mit einigen Schülern die neuen Studienbücher zusammenstellen, in denen sie ihren Lernfortschritt dokumentieren. Sie spazieren übers Gelände, vorbei an den ausrangierten Bauwagen, in denen der Engländer Darryl mit Familie wohnt, ein Aussteiger, der den Jugendlichen Englischstunden gibt.

 

Ihr Ziel ist das "Blaue Haus". Drinnen ist es unverputzt, der Ausbau stockt, erst müssen neue Spenden reinkommen. Dann, sagt Kasperski, seien die Sanitäranlagen das erste, was fertig wird. "Das wird ein Meilenstein", hat Nadolny morgens gesagt, als er den Weg Richtung Komposttoiletten wies. Im "Blauen Haus" ist es das erste Mal an diesem Tag richtig trocken.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0