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So werden wir es nicht erfahren

Bund und Länder streiten über den Sinn und Unsinn von Schulschließungen. Währenddessen sind die Corona-Tests unter Kindern und Jugendlichen ins Bodenlose gefallen – was zu Missinterpretationen führt. Vor allem aber gesichertes Wissen über die Folgen der Schulschließungen verhindert.

Zahl der Test pro 100.000 Einwohner nach Altersgruppen: Der Rückgang bei den Kindern und Jugendlichen über Weihnachen war atemberaubend. Grafik: Robert-Koch-Institut. 

MITTE DEZEMBER haben Bund und Länder beschlossen, den Regelunterricht an den Schulen auszusetzen. Viele Kitas und Schulen wurden komplett geschlossen, andere befinden sich in einem Teil-Betrieb. Der Eingriff in die Teilhabe- und Bildungsrechte der Kinder und Jugendlichen ist enorm, Millionen Familien befinden sich im Ausnahmezustand – doch lohnen die Schließungen sich dafür epidemiologisch?

 

Die Antwort: Wir wissen es nicht. Denn über die Feiertage wurden die Corona-Tests massiv zurückgefahren, über alle Altersgruppen. Doch während die Testzahlen danach für alle über 15-Jährigen wieder massiv gesteigert wurden, obgleich noch nicht wieder aufs Ausgangsniveau, verharren sie für Kita- und Schulkinder bislang weiter fast auf ihrem Tiefstand.

 

Konkret: Seit die Kitas und Schulen zu sind, werden nur noch ein Drittel so viele 0- bis 14-Jährige auf eine Infektion getestet. Über alle Altersgruppen hinweg hatten sich die Testzahlen zuletzt immerhin wieder bei etwa Dreiviertel der Vor-Weihnachts-Werte eingependelt. 

 

Die Folge ist offensichtlich und war erwartbar: Mit dem massiven, stark überdurchschnittlichen Einbruch der Testzahlen sanken auch die gemeldeten Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen überdurchschnittlich. Logisch – und null aussagekräftig.

 

Dennoch verkündete etwa der Tagesschau-Journalist Patrick Gensing bereits auf Twitter, der Effekt der Schulschließungen sei "signifikant". Gensing führte aus: "Seitdem hat sich die Inzidenz bei den 5-14-Jährigen glatt halbiert. So viel zum KMK-Mythos 'Infektionen überall, nur nicht  in der Schule'".

 

Seit die Tests wieder etwas mehr werden,
steigt auch der Anteil infizierter Kinder wieder

 

Es steht zu befürchten, dass auch andere aufgrund der vom Robert-Koch-Institut (RKI) registrierten Zahlen diese Schlussfolgerung ziehen könnten. Doch um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die vorliegenden Statistiken lassen in keiner Weise die Schlussfolgerung zu, dass die Schließungen wirken. Widerlegen lässt sie sich durch sie natürlich auch nicht.

 

Wobei es Hinweise gibt: Zum Beispiel waren die relativen Infektionshäufigkeiten (wie viele Kinder und Jugendlichen befinden sich unter allen gemeldeten Neuinfektionen) in den vergangenen zwei Kalenderwochen wieder angestiegen – was recht gut mit dem leichten Anstieg auch der Testzahlen korreliert (siehe Kasten).

 

Woraus man ableiten könnte, dass die relativen Meldezahlen bei den 0- bis 14-Jährigen noch deutlich höher liegen würden, wenn wieder so viele Kinder und Jugendlichen getestet würden wie zu Zeiten offener Bildungseinrichtungen – also dreimal so viele.

 

Bliebe am Ende womöglich gar keine nachweisbare Wirkung der Schließungen übrig? Interessanterweise ließ sich nämlich auch bereits in den vier Wochen vor den Schulschließungen bei den 5- bis 14-Jährigen ein ebenso starker Rückgang der relativen Meldezahlen feststellen – ohne dass parallel dazu die Testzahlen signifikant gesunken waren. Mit anderen Worten: Die Schulschließungen brachten bislang keinen messbaren Zusatz-Effekt – und das, obwohl zusätzlich die niedrigeren Testzahlen wirkten. 

 

Wäre es nicht Pflicht der Politik, es
gerade jetzt genau wissen zu wollen?

 

Natürlich sind all das nur Spekulationen, sicher ist nur eines: Der anhaltende Rückgang der Testzahlen verhindert klare Aussagen. Was zu der drängenden Frage führt: Wie kann das sein? Wäre es nicht die Pflicht der Politik, wenn sie ausgerechnet die Jüngsten zugunsten der Gesamtgesellschaft erneut so einschränkt, die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen, zu belegen – und sie dadurch zu rechtfertigen?

 

Offenbar aber, nur so kann man die Testzahlen interpretieren, besteht daran kein Interesse bei den Regierungschefs. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil ihnen die Frage nach den Testhäufigkeiten bei den Jüngsten gar nicht in den Sinn zu kommen scheint. Sonst hätten sie eine diesbezügliche Änderung der Test-Strategie längst beim RKI und bei den Gesundheitsämtern eingefordert. 

 

So wie überhaupt erstaunlich wenig Aufwand getrieben wird, um die Wirkung der einzelnen Eindämmungsmaßnahmen systematisch zu untersuchen: Im Gegensatz zu etwa Großbritannien gibt es immer noch nicht die seit bald einem Jahr geforderten bundesweiten bevölkerungsrepräsentativen und regelmäßig wiederholten Antikörper-Studien. "Erste Ergebnisse" einer ersten bundesweiten (nicht regelmäßig wiederholten!) bundesweiten Untersuchung hat das RKI erst für "Ende erstes, Anfang zweites Quartal" angekündigt.

 

Was für die Kinder und ihre Eltern die Sache noch bitterer macht – erst recht, da nun die Debatte über die Wiederöffnung der Schulen an Fahrt aufnimmt.

 

Niedersachen hat Grundschüler und Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf und die Abschlussjahrgänge bereits wieder im Wechselmodell zurück in die Schulen geholt. Allerdings ohne Präsenzpflicht bis Mitte Februar: Die Eltern können einmalig festlegen, ob ihre Kinder in die Schule gehen oder von zu Hause lernen sollen. Auch Baden-Württemberg will die Kitas und Schulen vom 1. Februar an wieder und weiter ohne Präsenzpflicht öffnen – wenn die Pandemielage es zulasse, wie es hieß. Ähnlich in Rheinland-Pfalz: Dort soll ebenfalls ab 1. Februar für die Klassen 1 bis 4 Wechselunterricht angeboten werden – ohne Präsenzpflicht.

 

Eine veränderte Teststrategie 

ist überfällig

 

Ein "Weichspülen" des jüngsten Bund-Länder-Beschlusses, die Schließungen von Kitas und Schulen restriktiver als bislang zu handhaben, wie etwa der Verband Bildung und Erziehung (VBE) kritisierte? Nein, beteuern die Kultusminister in Niedersachsen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und anderswo: Der Beschluss sei ja durch die Aussetzung der Präsenzpflicht berücksichtigt.

 

So oder so irritiert erneut, dass die Länder mit dem Bund erst eindeutig klingende Beschlüsse fassen, um sie dann sofort auf sehr unterschiedliche Art zu interpretieren.

 

Doch welche Auswirkungen haben die Öffnungen aufs Infektionsgeschehen? Sind sie verfrüht – oder ginge sogar noch mehr? Die Testflaute verhindert die Antworten – und räumt nebenher mit einer verbreiteten Fehlwahrnehmung auf: In Kitas und Schulen, hieß es bislang, werde besonders selten getestet. Jetzt ist klar: Ohne Kitas und Schulen wird noch viel seltener getestet.

 

Völlig absurd wäre es, wenn dies bis zu den breiteren Schulöffnungen so bliebe, dann wieder mehr getestet würde – und die erhöhten Zahlen dann als Beleg dafür angesehen würden, dass das Wiedereröffnen der Schulen sofort beginne, zu mehr Neuinfektionen zu führen. Eine Veränderung der Teststrategie für Kinder und Jugendliche ist seit langem überfällig – doch jetzt erst recht. Das betrifft die Länder genauso wie die Landkreise und Kommunen. Umgekehrt müssten dann die Lehrkräfte und Schüler (bzw. deren Eltern) dann auch mitmachen wollen. In Bremen etwa gab es bei freiwilligen Tests zuletzt erstaunlich niedrige Beteiligungsquoten.

 

Immerhin könnten die bundesweiten Testzahlen zumindest in der heute zu Ende gehenden Kalenderwoche wieder merklich angestiegen sein. Bekanntgeben wird es das RKI erst am Mittwoch. Doch einen Beleg dafür gibt es: Der relative Anteile der infizierten Kinder und Jugendlichen an allen Neuinfektionen steigt offenbar weiter kräftig an (siehe Kasten). Wenn sich dieser Trend der noch unvollständigen Wochenstatistik bestätigt, hätte die Quote bei den 0- bis 4-Jährigen fast schon wieder das Niveau von vor den Schließungen erreicht. 



Runter und rauf

Die wenigsten neuen Corona-Fälle seit langem unter Kindern und Jugendlichen wurden in der letzten Kalenderwoche (53) des Jahres 2020 registriert – nachdem die Testzahlen für diese Altersgruppe innerhalb von zwei Wochen um mehr als zwei Drittel und damit stark überdurchschnittlich abgestürzt waren.

 

Parallel sank die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen bei den Kindern und Jugendlichen um mehr als die Hälfte, bei den 0- bis 4-Jährigen von 3117 auf 1533 und bei den 5- bis 14-Jährigen von 9557 auf 4573.

 

Seitdem stiegen sie wieder auf 1854 bzw. 4907 in der vergangenen Woche, was nicht nach allzu viel aussieht, aber spürbar über der Zunahme aller Altersgruppen lag.

 

Deutlicher lässt sich das am relativen Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Neuinfektionen erkennen. Er sank zwischen Kalenderwoche 51 und 53 parallel zu dem beschriebenen Testrückgang bei den 0- bis 4-Jährigen von 1,80 auf 1,25 Prozentpunkte, bei den 5- bis 14- Jährigen von 5,48 

auf 3,72 Prozentpunkte – was jeweils einem Drittel entsprach. Bis einschließlich der 2. Kalenderswoche waren sie wieder auf 1,56 bzw. 4,14 Prozentpunkte gestiegen. Immer noch deutlich unter Ausgangsniveau, doch lagen vergangene Woche auch die Testhäufigkeiten in dieser Altersgruppe weiter nur bei einem guten Drittel des Ausgangsniveaus von vor Weihnachten. 

 

Möglicherweise hat sich das in der heute zu Ende gehenden Kalenderwoche geändert? Jedenfalls liegt den noch unvollständigen RKI-Zahlen zufolge der relative Anteil der 0- bis 4-Jährigen an allen Neuinfektionen jetzt wieder bei 1,74 Prozent – und damit fast auf dem Niveau von vor den Kita- und Schulschließungen. Der Anstieg bei den 5- bis 14-Jährigen scheint sich ebenfalls fortzusetzen. Hier liegt der Anteil aktuell bei 4,24 Prozent. 

 

Bliebe das so, wäre der seit den Schulschließungen relative Rückgang der gemeldeten Neuinfektionen in dieser Altersgruppe inzwischen geringer als in den Wochen vor den Schulschließungen. 



Nachtrag am 27. Januar:

Nach den nahezu vollständigen RKI-Meldezahlen der vergangenen Woche stieg der Anteil der 0- bis 4-Jährigen an allen registrierten Neuinfektionen auf 1,78 Prozent und damit fast auf den Stand vor den Schließungen. Auch der Anteil bei den 5- bis 14-Jährigen stieg weiter auf 4,31 Prozent. Die Testzahlen werde heute bekannt. Zur Demographie: Die 0- bis 14-Jährigen machen 13,7 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland aus. Ihr Anteil an den RKI-Neuinfektionen liegt demgegenüber derzeit bei weniger als der Hälfte. 


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Kommentare: 3
  • #1

    P. (Montag, 25 Januar 2021 09:29)

    An unserer Schule gab e vor den Schließungen für einzelne Klassen einen Ausbruch. Niemand wurde getestet, auch mein Kind als direkter Sitznachbar nicht. Soviel dazu...

  • #2

    Veronika (Mittwoch, 27 Januar 2021 08:35)

    Eine Frage stellt sich mir, um die Zusammenstellung einordnen zu können: Wie hoch ist denn der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung? Entspricht die Anzahl der Getesteten in etwa diesem Anteil oder liegt er deutlich unter oder über diesem Anteil? Aus meiner Sicht kann man nur dann auch die Anzahl der positiv getesteten Kinder ins Verhältnis setzen.

  • #3

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 27 Januar 2021 08:45)

    @Veronika: Ich habe dazu den Wert nachgetragen. Viele Grüße!