· 

Die gefährliche Reproduktion der Einseitigkeit

Weil ihr Mainstream nur eine einzige Theorie akzeptiert,
scheitert die Volkswirtschaftslehre an sich selbst.
Auf die großen Herausforderungen unserer Zeit kann sie keine angemessenen Antworten finden. Ein Gastbeitrag von
Sarah Neuffer und Laura Porak.

DIE CORONA-PANDEMIE ist eine gesundheitspolitische Krise, die mit dem Wirtschaftssystem nichts zu tun hat: So ließ sich der vergangenes Jahr erschienene Sonderbericht des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zusammenfassen. Kurz und griffig – und komplett einseitig.

 

Die Analysen des Sachverständigenrats zur wirtschaftlichen Entwicklung sollen sowohl wirtschaftspolitische Entscheidungsträger*innen als auch die breite Öffentlichkeit in Deutschland informieren. Dadurch stellen die "Wirtschaftsweisen" das einflussreichste ökonomische Beratungsgremium dar. In seinem Bericht zur Pandemie werden das Coronavirus und die Pandemie als externer Schock dargestellt, der die Gleichgewichte auf Finanz-, Arbeits- und Gütermarkt erschüttert. Die Pandemie erscheint also für den Mainstream – dem vorherrschenden Paradigma in der Volkswirtschaftslehre – als "Angebots- und Nachfrageschock", da das Angebot an Arbeitskräften oder die Nachfrage nach Konsumgütern einbrechen.

 

In diesem Bild ist die Wirtschaft ein von Gesellschaft und Ökosphäre getrenntes System. Doch lässt sich mit dieser Perspektive auf Wirtschaft das gesamte ökonomische Geschehen in der Covid-19-Pandemie wirklich erklären? Und lassen sich auf Basis dieser Analysen adäquate Maßnahmen ableiten, um die Pandemie und das aus ihr entstehende Leid einzudämmen?


Laura Porak schließt gerade ihren Master an der Cusanus-Hochschule für Gesellschaftsgestaltung  ab und arbeitet am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft (ICAE) der JKU Linz. Sie ist im Netzwerk Plurale Ökonomik und auch in der Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien aktiv. 

Sarah Neuffer studiert Volkswirtschaftslehre und Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie ist Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik und engagiert sich in der Lüneburger Lokalgruppe MÖVE ("Mehr Ökonomische Vielfalt Erreichen").  


Bei Interesse erreichen Sie das Netzwerk unter vernetzung@plurale-oekonomik.de


Wir und viele andere kritische Wirtschaftswissenschaftler*innen sagen: Nein! Das komplexe Geschehen einer Wirtschaftskrise kann nicht durch eine einzige Theorie erklärt werden. Es braucht unterschiedliche Perspektiven, um die diversen Auswirkungen und Ursachen der Wirtschaftskrise in Folge der Pandemie zu verstehen. Diese Vielfalt an Perspektiven muss zu einem festen Bestandteil der Ausbildung künftiger Ökonom*innen werden – nicht nur, um den Folgen der Pandemie besser begegnen zu können, sondern auch dem demokratischen Anspruch an eine pluralistische ökonomische Debatte gerecht zu werden.

 

Die Corona-Pandemie verdeutlicht, wie unterschiedlich wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven und ihre implizierten Politikempfehlungen sein können: Andere "Denkschulen" begreifen Wirtschaft in engem Zusammenhang mit Umwelt und Gesellschaft, etwa die marxistische politische Ökonomie, die feministische oder ökologische Ökonomie. Während die marxistische politische Ökonomie und die feministische Ökonomie Widersprüche im Kapitalismus und ihr Hervortreten in der Pandemie aufzeigen, kann mit der ökologischen Ökonomie die Ursache der Pandemie als Folge der vorherrschenden Wirtschaftsform verstanden werden. 

 

Es braucht den lebendigen
Austausch verschiedener Denkschulen

 

Staatliche Investitionsprogramme für den sozial-ökologischen Umbau, eine bessere Entlohnung und ein hochwertiger Arbeitsschutz für bezahlte Sorgearbeit in Pflegeeinrichtungen, die Ausrichtung der Wirtschaft an Resilienz anstelle von Effizienz: Das sind Strategien, die heterodoxe Ökonom*innen als Antworten auf die Krise vorschlagen, und sie sind weitaus vielfältiger als die im politischen Diskurs dominanten Vorschläge.

Deshalb braucht es den lebendigen Austausch verschiedener Denkschulen. Anstelle von dogmatischen Grabenkämpfen wollen wir auf Grundlage reflektierter wissenschaftstheoretischer Positionen einen respektvollen Austausch von Argumenten. Dieser Austausch soll dazu beitragen, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, die Wechselwirkungen zwischen Ökosphäre, Gesellschaft und Wirtschaft erkennen und die Betroffenheit verschiedener sozialer Gruppen mitdenken.

 

Wenn die Volkswirtschaftslehre eine Wissenschaft sein möchte – und das wünschen wir uns – die die gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Debatte in einer pluralistischen Demokratie bereichert, muss sie sich verändern. Derzeit ist die VWL, wie sie an deutschen Universitäten gelehrt wird, sehr einseitig – hinsichtlich der verwendeten Theorien und Methoden. 


Der Reproduktionskreislauf der Wirtschaftswissenschaften.
(Grafik von Jonathan Barth und Florian Rommel). 


Studierende lernen kaum etwas über die historische Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften. Auch Wirtschaftsethik und die Reflexion der eigenen Annahmen und Positionierung als Wissenschaftler*in fehlen. So wird die Perspektivenarmut der VWL reproduziert: Die Einseitigkeit der ökonomischen Forschung beginnt in der Einseitigkeit der ökonomischen Bildung. Sehr eindrucksvoll zeigt sich dies bei einem Blick auf den Lehrbuchkanon der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und weltweit: Hauptsächlich wird die neoklassische Theorie gelehrt, oft angereichert mit Verhaltensökonomie. Mit anderen Denkschulen kommen Studierende in ihrem Studium kaum in Berührung. So lernen Studierende nur in einer bestimmten Art zu denken und geben genau dieses Wissen nach der erfolgreichen Promotion, Habilitation und Berufung zu Professor*innen an nachfolgende Generationen von Studierenden weiter. 

 

Was wir als studentisches "Netzwerk
Plurale Ökonomik" erreichen wollen

 

Gestützt wird dieser Reproduktionskreislauf durch die weltweite Standardisierung von VWL-Lehrbüchern, wie das von Mankiw oder Blanchard und Illing. Auch diejenigen, die nach ihrer Ausbildung die Universität verlassen, werden als Entscheidungsträger*innen und politische Berater*innen lediglich gemäß dieser einen Perspektive Probleme analysieren und Lösungsmöglichkeiten formulieren können. Dies verengt den öffentlichen Diskurs über Strategien des Umgangs mit Ereignissen wie der Corona -Pandemie.

 

Der einseitigen Ausbildung zukünftiger Entscheidungsträger*innen setzen wir uns als "Netzwerk Plurale Ökonomik e.V." entgegen: Als studentischer Dachverband im deutschsprachigen Raum engagieren wir uns seit Anfang der 2000er Jahre für einen theoretischen, methodischen und interdisziplinären Pluralismus, in dem unterschiedliche Denkschulen in einem lebendigen und themenbezogenen Austausch stehen.

 

Außerdem fordern wir mehr didaktische Qualität und die Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen: Über heterodoxe Lehrstühle oder eine vielfältigere Besetzung von Berufungskommissionen. Dabei arbeiten wir auch mit Politiker*innen aus der Landes- und Bundespolitik zusammen, die die Missstände in der VWL erkennen. So wird zum Beispiel an der Universität Flensburg auf Initiative der schleswig-holsteinischen Landesregierung eine Professur für plurale Ökonomie eingerichtet.

 

Um unser Anliegen einer zukunftsfähigen Ökonomik zu verwirklichen, benötigt es jedoch noch deutlich mehr Anstrengungen und auch neue Koalitionen. Daher haben wir ein Impulspapier veröffentlicht, das unser Anliegen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Politiker*innen erklärt. Und wir haben einen Arbeitskreis Politik gebildet, der den Kontakt zu Vertreter*innen aus Landes- und Bundespolitik sucht. Nur gemeinsam mit den politischen Akteur*innen können wir die VWL zu einer Wissenschaft machen, die den großen Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird. Denn wie wir wissen, ist die Corona-Pandemie nicht das einzige Ereignis, dass unseren Alltag wohl erschüttern wird: Die Klimakrise wartet nicht.


Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Th. Klein (Dienstag, 26 Januar 2021 14:56)

    Ich bin völlig fachfremd. Bei mehreren tausend Studierenden und mehreren hundert Professor:innen scheint dies unfassbar. Aber gehört habe ich davon schon früher. Zwei Punkte dazu:
    a) bei Ansätzen, die sich marxistische politische Ökonomie, feministische oder ökologische Ökonomie nennen, fällt es nicht schwer, sich Akzeptanzprobleme vorzustellen.
    b) viel problematischer ist das Phänomen freilich in sog. Kleinen Fächern mit ca. 10-20 Professuren und einigen hundert oder max. 2.000 Studierenden in Deutschland.

  • #2

    McFischer (Freitag, 29 Januar 2021 09:03)

    @Th. Klein
    Ja, ich bin auch fachfremd... aber denoch eine Replik:
    @a) In der Philosophie wird Marx weiterhin gelesen/gelehrt, die Nachhaltigkeitsforschung verbindet natürlich Ökonomie und Ökologie (und das ziemlich erfolgreich) und die Frage von Geschlecht/Gender und Ökonomie ist ein ziemlich relevantes, weites Feld (Gender-Pay-Gap etc pp). Ich kann nicht sehen, warum es hier per se Akzeptanzprobleme geben sollte (dass diese aktuell in der Lehr- und Forschungsrealität der VWL vielleicht vorhanden sind, kann kein Argument sein).
    b) Nicht unbedingt - gerade auch in kleineren Fächer kann es sehr fruchtbare (oder auch furchtbare) Diskussionen und Widersprüchen zwischen verschiednen Schulen geben - bis hin zur Grabenbildung.