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"Das, was in Göttingen passiert ist, ist so außergewöhnlich nicht"

Über Charaktere, die aufeinanderprallen, Göttingens Zukunft als Spitzenuniversität, ihren Weg zu mehr Diversität und über
seine Wahl als Beleg, dass die Wissenschaftskommunikation zur Schlüsselqualifikation in der Wissenschaft wird: Metin Tolan in seinem ersten Interview als künftiger Göttinger Unipräsident.

Metin Tolan, 55, ist Forscher, Wissenschaftskommunikator und Wissenschaftsmanager.
Foto: Universität Göttingen. 

Herr Tolan, Glückwunsch! Senat und Stiftungsausschuss Universität haben sie einstimmig zum neuen Präsidenten der Universität Göttingen gewählt. Allerdings: Einige potenzielle Kandidaten hatten 2019 schon angesichts der Umstände des Abgangs ihrer Vorgängerin Ulrike Beisiegel das Weite gesucht, die meisten anderen dann nach dem Chaos um den bereits gewählten Präsidenten Sascha Spoun. Haben Sie denn gar keine Angst, dass es Ihnen ähnlich wie den beiden gehen könnte?

 

Ich habe zwölf Jahre lang in einem Rektorat gearbeitet, hier an der TU Dortmund. Ich weiß also, dass es in der Leitung einer Universität manchmal hoch hergeht. Ich habe da schon einiges erlebt, und ich glaube, dass Universitäten schon deshalb besondere – und besonders herausfordernde – Institutionen sind, weil in ihnen viele herausragende Persönlichkeiten aufeinandertreffen. Als Hochschulleitung kommt es darauf an, diese irgendwie zusammenzubringen. Das, was in Göttingen passiert ist, ist insofern so außergewöhnlich nicht. 

 

Also hat es aus Ihrer Sicht gar keine außergewöhnliche Krise in Göttingen gegeben?

 

Es hat eine Krise gegeben, aber ähnliche Krisen hat es auch schon an Universitäten anderswo in Deutschland gegeben, und es wird sie auch künftig geben. Göttingen war in den vergangenen zwei, drei Jahren nicht die einzige Universität, an der sich die Wahl eines neuen Präsidenten oder einer neuen Präsidentin etwas schwieriger gestaltete. Das ist, ich sagte es, ein Stückweit systembedingt: Auch in Zukunft werden hier wie anderswo die verschiedenen Charaktere aufeinanderprallen, aber hoffentlich in Göttingen nicht mehr ganz so heftig wie zuletzt. 

 

"Meine Aufgabe als künftiger Unipräsident besteht
darin, dass die Universität Göttingen ihre Konflikte
künftig nicht mehr so stark nach außen trägt."

 

Sie halten sich sehr im Allgemeinen auf. Was machte denn die Krise in Göttingen zuletzt so heftig?

 

Sehen Sie, jetzt sind wir an einem Punkt angekommen, wo ich etwas tun müsste, was ich nicht gern mache. Ich mag es nicht, öffentlich über interne Konflikte meiner Universität zu sprechen. Das habe ich in Dortmund so gehalten, und das werde ich in Göttingen so fortsetzen. Wie in einer guten Familie sollte man auch an einer Universität versuchen, Probleme möglichst selbst zu lösen. Ich kann ja verstehen, dass Ihre Rolle als Journalist darin besteht, viele Informationen zu erhalten. Meine Aufgabe als künftiger Unipräsident besteht aber auch darin, dass die Universität Göttingen ihre Konflikte künftig nicht mehr so stark nach außen trägt.

 

Ist das eine Kritik an der universitätsinternen Debatte der vergangenen Jahre?

 

Das können Sie so darstellen. Aber ich bin nicht so vermessen, das, was da passiert ist, beurteilen zu wollen. Ich kenne auch gar nicht alle Details. Ich habe zwar viel gelesen, aber ich habe noch nicht alle Seiten gehört. 

 

Welche Bedeutung hat es für die Universität , dass mit Ihnen ein erfahrener Wissenschaftskommunikator ihr Präsident wird?

 

Das ist etwas, das mich wirklich überrascht hat: dass diese Qualifikation von mir in den Vordergrund gerückt worden ist in der Berichterstattung. Das hat mich überrascht und gefreut, weil es in universitären Krisen meist genau daran fehlt: an Kommunikation. Tatsächlich halte ich eine offene Kommunikation für eine Schlüsselqualifikation im Amt einer Unipräsidentin oder eines Unipräsidenten. Und das gilt, wie mir in vielen Gesprächen deutlich geworden ist, in Göttingen zurzeit in besonderer Weise. Ich sehe, wie wichtig der gute Austausch mit allen universitären Gremien sein wird, mit den Dekanaten und Fakultäten, wie wichtig es ist, dass alle auf demselben Informationsstand diskutieren. 

 

Bedeutet Ihre Berufung auch eine Aufwertung für die Wissenschaftskommunikation insgesamt?

 

Ich glaube, sie spiegelt eine grundlegende Veränderung in der Wissenschaft wider. Schauen Sie sich doch mal die Lage in der Welt an. Dass die Wissenschaft offen und auf Augenhöhe mit der Gesellschaft kommuniziert, war noch nie so wichtig wie heute. Wir müssen den Menschen vermitteln, dass die Wissenschaft es in kürzester Zeit geschafft hat, Impfstoffe gegen das Coronavirus zu produzieren, die sicher sind. Die Wissenschaft muss aber auch die Herausforderungen des Klimawandels oder der Energiewende viel besser erklären als in der Vergangenheit. Sie muss verdeutlichen, dass es nicht damit getan ist, ein paar Windräder aufzustellen, sondern dass es um eine grundsätzliche Veränderung unseres Wirtschaftens, unserer Art zu leben, geht. Nur indem die Wissenschaft sich öffnet, kann sie auch einem Trend entgegenwirken, der parallel zur zunehmenden Wissenschaftskommunikation abläuft: die Zunahme der Wissenschaftsfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung. Dass jetzt jemand mit dem Label "Wissenschaftskommunikator" Unipräsident wird, zeigt die Selbstverständlichkeit, die das Thema glücklicherweise in der Wissenschaft inzwischen hat. 

 

"Heute ist es Teil der Qualifikation, gut
über Wissenschaft kommunizieren zu können –
und ist insofern eindeutig karriereförderlich."

 

War das vor zehn Jahren noch anders?

 

Und ob! Ich erinnere mich noch, wie mich der Alumniverein der TU Dortmund zu einem launigen Vortrag eingeladen hat und einer meiner Dortmunder Professorenkollegen daraufhin aus Protest aus dem Verein ausgetreten ist. Meine Art über Wissenschaft zu reden entspreche nicht den strengen wissenschaftlichen Kriterien, das könne er nicht mit seinem Gewissen als Wissenschaftler vereinbaren. Sie können sich vorstellen, dass der Kollege jetzt schon etwas länger pensioniert ist. Und heute ist es zum Glück genau umgekehrt: Es gilt in der Wissenschaft als Qualifikation, wenn Sie die Inhalte ihres Fachs gut vermitteln können. Gerade deshalb bin ich in viele Gremien von Bundes- und Landesministerien berufen worden, die Millionen an Forschungsgeldern zu verteilen hatten. Bei dem Gedanken an den Kollegen von damals geht mir da schon ab und zu ein Schmunzeln über die Lippen, das gebe ich offen zu.

 

Die Botschaft an junge Wissenschaftler lautet also: Engagiert euch in der Wissenschaftskommunikation, damit begeht ihr keinen Karriere-Selbstmord mehr?

 

Genau! Auf Fachkonferenzen werden die wissenschaftlichen Vorträge immer klarer, die Leute werden dafür eigens geschult. Das gab es früher gar nicht. Heute ist es Teil der Qualifikation, gut über Wissenschaft kommunizieren zu können – und ist insofern eindeutig karriereförderlich.

 

Wann legen Sie denn los in ihrem neuen Job? Die Universität hat neblig vom "Frühjahr" gesprochen.

 

Sie können sich vorstellen, dass es jetzt noch einige technische Fragen zu klären gibt…

 

Sie meinen: Vertrags- und Gehaltsverhandlungen!

 

Nicht nur. Ich möchte auch noch einige Projekte hier in Dortmund abschließen, ich kann und werde hier doch keine verbrannte Erde hinterlassen. Natürlich möchte die Universität Göttingen, dass ich möglichst sofort starte. Ich halte aber den 1. April oder 1. Mai für realistisch. Vorher ziehe ich auch noch her, ist doch selbstverständlich. 

 

"Es wäre der größte Fehler, mich in meinem Alter auf einen Lehrstuhl an der Göttinger Fakultät für Physik zu berufen. Für das Präsidentenamt reicht es bei mir gerade noch."

 

Und dann? Was sind Ihre Ziele für die ersten, sagen wir mal, 100 Tage?

 

Die werden sehr schnell vergehen, glaube ich. Was aber auch eine triviale Aussage ist angesichts der Größe der Universität mit ihren 212 Studiengängen und einem Fächerspektrum, das eine Technische Universität so natürlich nicht hat. Ich werde versuchen, erstmal möglichst viele Menschen kennenzulernen. Dazu gehört, dass ich alle Fakultäten besuchen werde, mit den Professorinnen und Professoren rede, aber nicht nur mit denen, sondern auch mit den Fakultätsräten und Vertreterinnen und Vertretern aller Statusgruppen. Womit wir wieder beim Thema Kommunikation sind. Die kann, die muss tatsächlich noch etwas besser laufen als in der Vergangenheit. 

 

Und dann? Wenn Sie die Universität besser kennengelernt haben, was ist Ihr langfristiger Plan?

 

Göttingen kann nur das Ziel haben, zu den Top 10 der Universitäten in Deutschland zu gehören. In Wirklichkeit gehört sie längst dazu, das zeigen fast alle einschlägigen Rankings. Bis auf eines, das allerdings in der Wissenschaft besonders viel zählt: die Exzellenzstrategie. Wir müssen uns als Universität so aufstellen, dass wir 2026, wenn die nächste Wettbewerbsrunde ansteht, gut vorbereitet sind. Dazu braucht es aber mehr, als dass sich nur einige wenige Bereiche stark entwickeln. Wir müssen alle Teile der Universität in ihren Potenzialen mitnehmen und anheben. Ein entscheidender Schlüssel zu diesem Ziel ist die Berufungspolitik.

 

Was wollen Sie da anders machen?

 

Ich plädiere dafür, stärker als bislang aufs Tenure-Track-System zu setzen und weniger auf etablierte Lehrstühle. Wir müssen junge Leute nach Göttingen berufen, die hier den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit erreichen, anstatt sie vorher schon anderswo abgeliefert zu haben. Ich will es so formulieren: Es wäre der größte Fehler, mich in meinem Alter auf einen Lehrstuhl an der Göttinger Fakultät für Physik zu berufen. Für das Präsidentenamt reicht es bei mir gerade noch, aber für eine Professur braucht es keine vergangenen Meriten, sondern zukünftige Leistungen.

 

Dass Sie den Erfolg Göttingens in der Exzellenzstrategie als ein Hauptziel betonen, wundert. Sie haben sich einmal in einem Interview sehr kritisch über die bestehenden Forschungsförderstrukturen geäußert. "Man gibt zu viel Geld in diese kooperativen Programme hinein", haben Sie gesagt – also in Verbünde, wie sie auch die Exzellenzstrategie ausmacht. Und Sie fügten hinzu: "Die Einzelförderung auszudünnen, wie die DFG das macht, halte ich für einen falschen Weg." Müssten Sie die Exzellenzstrategie dann nicht auch für einen falschen Weg halten?

 

Was ich gemeint habe: Verbünde sind nicht für alle wissenschaftlichen Disziplinen das ideale Instrument. In der Physik brauchen Sie natürlich die großen Kooperationen, die Instrumente sind komplex, die Versuchsanordnungen teilweise riesig. Da ist ein großer Verbund fast schon das natürliche Konstrukt. In anderen Fächern, zum Beispiel in einigen Geistes- und Sozialwissenschaften, leuchtet es mir überhaupt nicht ein, warum ich da 20 hervorragende Einzelforscherinnen und -forscher zusammenpacken sollte, wenn es deren Fächerkultur doch vielleicht gar nicht hergibt. 

 

"Ich vermute nicht als erstes, dass Menschen böse
sind und darum böse Entscheidungen treffen."

 

Was halten Sie, der sich so für die Einzelforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften stark macht, eigentlich von der Schließung des Göttinger Lichtenberg-Kollegs?

 

Ich gebe zu, dass ich da noch gar nicht so richtig informiert bin. Ich weiß natürlich von den Problemen und dem Rummel, der um die geplante Schließung entstanden ist. Aber erstmal muss ich davon ausgehen, dass es einen guten Grund für den Beschluss gab. So wie ich ja auch nicht als erstes vermute, dass Menschen böse sind und darum böse Entscheidungen treffen. Ich werde dem also nachgehen. Fest steht für mich aber schon jetzt: Auch die Individualforschung muss in Göttingen gefördert und in ihrem Niveau angehoben werden. Wenn 2026 die Bewerbung in der Exzellenzstrategie ansteht, werden die Gutachterinnen und Gutachter auf die gesamte Universität blicken, nicht nur auf die Anträge zu möglichen Exzellenzclustern. Wenn Göttingen nicht auch in der Förderung einzelner Forscherinnen und Forscher Spitze ist, dann wird sie es in dem Wettbewerb auch als Ganzes nicht schaffen. 

 

Die geplante Schließung war unter anderem eine Reaktion der Universität auf die empfindlichen Haushaltskürzungen in Niedersachsen. Werden Sie da noch einmal zum Widerstand aufrufen? 

 

Natürlich müssen wir da gegenhalten. Aber nicht so platt, indem wir uns nur hinstellen und sagen: Wir wollen keine Kürzungen. Das reicht nicht. Wir müssen als Universität erstmal in der Lage zu sein zu erläutern, warum wir eine angemessene staatliche Finanzierung verdient haben. In der Pandemie sollte sich die Bedeutung der Wissenschaft eigentlich ein Stückweit von selbst erklären. Ein weiteres Argument ist, dass wir die nächste Generation ausbilden, 90 Prozent unserer Absolventinnen und Absolventen gehen in die Wirtschaft. Viele Studien belegen zudem, dass ein in die Universitäten investierter Euro sich gesellschaftlich gesehen um sein Vielfaches vermehrt. Das müssen wir der Politik klarmachen, und das zeigt erneut die Bedeutung von Kommunikation.

 

Sie gelten als großer Startrek-Fan, Sie haben zum Beispiel Vorträge über die Physik auf der Enterprise gehalten. Die Enterprise zeichnet sich auch durch ihre diverse Besatzung aus. Da haben deutsche Universitäten noch Nachholbedarf, oder?

 

Göttingen hat einen Anteil internationaler Studierender von über 14 Prozent, das ist guter deutscher Durchschnitt. Bei den Promovierenden liegt der Anteil bei mehr als 30 Prozent, so undivers finde ich die Universität also gar nicht. Aber natürlich muss da mehr gehen. Im Ruhrgebiet sind die Hochschulen schon ein Stück weiter, was natürlich auch an der Zusammensetzung der Bevölkerung liegt. Im Übrigen: Schauen Sie sich nur meinen Namen an. Ich bin zwar in Schleswig-Holstein geboren, aber dass bei mir auch etwas Diverses dabei ist, lässt sich ja nun leicht erraten. Viele Studierende in Dortmund haben sich durch meinen Namen angesprochen gefühlt. Vielleicht hilft das ja auch an einer Spitzenuniversität wie hier in Göttingen. 



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Kommentare: 2
  • #1

    Daniel Gerhard (Donnerstag, 28 Januar 2021 17:25)

    Ein gutes Interview - ganz im Sinne der bisherigen Wiarda-Berichte zur Krise an der Uni Göttingen seit Mitte 2019! Man darf hoffen, daß Herr Tolan an einer Qualität der
    beiden letzten Präsidenten vor 2012 anknüpfen kann: ziemlich genaue Kenntnis der aktiv handelnden Personen.

  • #2

    McFischer (Freitag, 29 Januar 2021 09:08)

    Ein Zitat für die Wand: "Für das Präsidentenamt reicht es bei mir gerade noch, aber für eine Professur braucht es keine vergangenen Meriten, sondern zukünftige Leistungen. " Sehr schöne, uneitle Selbstpositionierung - sehr gut.