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Die Bildungsrepublik als Lebensgeschichte

Ingo Richter hat die Bildungsreformen seit den 60er Jahren mitbegleitet und mitgestaltet. Sein Plädoyer von einst ist immer noch aktuell: Macht die Schulen selbstständiger. Jetzt ist seine Autobiographie erschienen. Eine Rezension von Sybille Volkholz.

FÜR ALLE, die die Entwicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik nachvollziehen wollen oder miterlebt haben, ist dieses Buch eine höchst lebendige Beschreibung wichtiger Etappen und Veränderungen. Die Arbeit des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, der Deutsche Bildungsrat, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung waren nicht nur für die Bildungsreformen in der Bundesrepublik bedeutsam, sondern gehören auch zu Ingo Richters persönlicher Lebensgeschichte.

Ingo Richter. Foto: privat.


Mit 24 Jahren wird er Sekretär des Deutschen Ausschusses, dann Leiter der juristischen Abteilung im von Hellmut Becker gegründeten Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Vor dort arbeitet er als Gutachter beim Deutschen Bildungsrat und auch an den Reformvorschlägen des Deutschen Juristentages. So ist es kein Zufall, sondern eng mit der Person Ingo Richter verbunden, dass Bildungsrat wie Juristentag schon damals eine größere Selbstständigkeit für die Schulen vorschlugen.

 

Die Arbeitsphasen dieser Gremien und Institute werden vergnüglich mit persönlichen Anekdoten erzählt, Geschichte anschaulich gemacht. Diese Mischung – auf den ersten Blick ungewöhnlich – macht das Buch gut lesbar und überhaupt nicht langweilig. 

 

Richters Zeit als Professor für öffentliches Recht in Hamburg ist geprägt durch Reformvorhaben für die Juristenausbildung. Und von den Auseinander-setzungen, die die Erziehungswissenschaft vor allem in den 70er und 80er Jahren beschäftigt: zwischen der überzeugungsbasierten geisteswissen-schaftlichen Tradition und den Vertretern einer empirischen Wende, die nationale und internationale Vergleiche von Schülerleistungen befürworten. Wichtig sind Richter auch die Schnittstellen – wie die zwischen Jugend- und Bildungsrecht. 

Interessant wird die Lektüre auch dadurch, dass der Autor sich klaren Zuordnungen oder Positionierungen verweigert. In der Jugend beschreibt er sich als nicht rechts, nicht links, auch gegenüber der Studentenbewegung hält er Distanz: "Ich war kein Demonstrant." Er sei auch "nicht Teil der Bewegung" gewesen, ist bis heute trotz zeitweiliger Mitgliedschaft in der SPD parteipolitisch eher zurückhaltend. Dies würde bei anderen Menschen als Entschlusslosigkeit gewertet, ihn aber macht gerade diese Distanz zu einem klugen Beobachter der Entwicklung. 

 

In seiner wissenschaftlichen Arbeit verbindet Richter Jugend- und Bildungsrecht, Rechts- und Bildungswissenschaften, Bildungs-recht und Bildungsverwaltung und


Ingo Richter: Meine deutsche Bildungsrepublik. Eine bildungspolitische Autobiographie. Verlag Barbara Budrich: Opladen, Berlin, Toronto 2021, 36,90 Euro.



arbeitet an der Etablierung der Bildungsverwaltungsforschung mit. Für ihn ist Recht ein Instrument zur Gesellschaftsgestaltung, es soll Chancen ermöglichen. Mit diesem offenen Blick auf Wissenschaft, auf ihre interdisziplinären Möglichkeiten und ihre Verbindung zur Verwaltung wird er für zehn Jahre Leiter des Deutschen Jugendinstituts. 

 

Viele seiner Arbeiten und Reflexionen sind bis heute aktuell, vor allem die Arbeiten zur Schulaufsicht und zur Eigenständigkeit von Schulen, die schon in den 70er Jahren empfohlen wurde und heute noch immer in der Umsetzung optimierbar ist.

 

Seine Autobiografie ist keine Selbstbejubelung, sondern auch ein kritischer Rückblick. Welche seiner vielen Vorschläge haben Bestand, welche sind zu Recht vergessen oder öffentlich nicht wirklich aufgenommen worden? Er geht sehr offen mit Misserfolgen um, sie werden weder verschwiegen noch sonderlich als Niederlagen gewertet und beschädigen so in keiner Weise. 

 

Ingo Richter, der über französisches Recht in Deutschland und deutsches Recht in Frankreich promoviert hat, der viel gereist ist, überschreitet Grenzen auch im Denken und zwischen Disziplinen. Er fordert von sich und anderen, die Dinge mal ganz anders zu denken und von außen zu betrachten, und sei es durch internationale Vergleiche des Bildungsrechts, die zu seinen Arbeitsschwer-punkten gehörten. In seinen Ämtern und offiziellen Funktionen, genauso aber auch durch sein Engagement in einer Vielzahl von Kommissionen und Beiräten hat er aktiv Bildungsreformen mitgestaltet. Er war und ist ein Wanderer zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Gesellschaft. 

 

Nicht nur die Vielzahl seiner Veröffentlichungen, sondern auch seine jetzt vorgelegte Autobiografie zeigen, dass Ingo Richter Freude hat am Erzählen und Schreiben. Und ebenso viel Freude macht es, sein Buch zu lesen. 

 

Sybille Volkholz ist Grünen-Politikerin und Bildungsexpertin. Von 1989 bis 1990 war sie Bildungssenatorin in Berlin. 


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