· 

Wissenschaft, die gebraucht wird

Die fehlenden Vorschläge der EFI-Kommission und
die Remedur der wissenschaftlichen Politikberatung. Ein Gastbeitrag von Manfred Ronzheimer.

Foto: mainblick / Pixabay.

DIE EFI-KOMMISSION hat in der vorigen Woche ihre jährlichen Empfehlungen für die deutsche Forschungs- und Innovationspolitik an Kanzlerin Merkel übergeben. An diesem Mittwoch werden sie von EFI-Chef Uwe Cantner im Forschungsausschuss des Bundestages vorgestellt. Ein Aufregerthema ist nicht unter den Vorschlägen. 

 

Das ist eine große Schwäche dieser EFI-Expertise, deutet aber auf ein viel grundsätzlicheres Problem hin: In Zeiten grundlegender Umwälzungen sind business-as-usual-Vorschläge überflüssig. Was das Gutachten so ungewollt zeigt: Das eingespielte Verfahren der wissenschaftlichen Politikberatung ist für die heutigen Anwendungswelten in Politik und Wirtschaft nicht mehr zu gebrauchen und gehört grundlegend runderneuert.

 

Um zu einem Urteil darüber zu gelangen, was die EFI abgeliefert hat – ihre Vorstellung vom Soll-Zustand des deutschen Innovationssystems – muss zuerst der Blick auf die reale Lage gerichtet werden, auf den Ist-Zustand. Deutschland befindet sich in der tiefsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Gigantische Aufgaben stellen sich prioritär der Gesundheits- und der Wirtschaftspolitik, doch gleich dahinter kommen die Bildungs-, die Forschungs- und die Strukturpolitik, ergänzt um die Europapolitik, denn solitär nationale Lösungen sind in dieser Pandemie von vornherein zum Scheitern verurteilt.

 

Weil die Politik die große Geld-Bazooka in Anschlag gebracht hat, zählt es zu den wichtigsten Aufgaben der Zukunftsgestaltung, diese Billionen-Summen Euro aus dem Bundes- und dem EU-Haushalt in den nächsten Monaten auf die Straße zu bringen. Wie werden die 60 Milliarden des deutschen Zukunftspaketes und die 10 Milliarden des Zukunftsfonds konkret und langfristig wirkend investiert? Entscheiden das nur die Ministerialen? Und auf Europa-Ebene geht es um die 95 Milliarden Euro von Horizon Europe und die Aufteilung des deutschen Anteils am 750-Milliarden-Aufbauprogramm. 

 

Diese Mittel in eine innovationsförderliche Anwendung zu bringen, ist die dringende Aufgabe bis zur Jahresmitte. Die EFI hätte hier einen wirksamen Aufschlag machen können, der bis in die Formulierung des Regierungsprogramms der Nach-Merkel-Regierung am Ende des Jahres hätte hineinwirken können. Diese Chance wurde verpasst.



Soweit zur Zukunftsperspektive, die das Gutachten hätte abdecken müssen. Das wirkliche Drama spielt sich jedoch in der Gegenwart ab. Die Wissenschaft feiert sich derzeit selbst für ihre Erfolge in der Impfstoffforschung. Aber auch hier wäre eine EFI-Stellungnahme passend gewesen, die in das ungute Verhältnis von Startups und Big Pharma hineinleuchtet – in die Aufteilung der Forschungslasten, klinischer Validierung und industrieller Produktion. 

 

2020 war in dieser Hinsicht das Katastrophenjahr, in dem nur die Feuerwehr durchs Land düste. Jetzt muss es um den Aufbau resilienter und dauerhafter Strukturen gehen – bis hin zur erweiterten Industriepolitik, die den Aufbau eines öffentlichen "Vakzin-Airbus" anstrebt. Von technologischer Souveränität im Pharmabereich wird gesprochen, aber die Konzepte fehlen.

 

Eine Notgemeinschaft
für die deutschen Schulen

 

Am schlimmsten brennt die deutsche Hütte bei der Digitalisierung. Es ist blamabel, dass das deutsche Bildungssystem innerhalb von 12 Monaten nicht aus dem digitalen Knick kommt. Dringend nötig ist ein brauchbares Homeschooling-Konzept, technologisch wie didaktisch, zunächst im Notfall-Modus, später dann für einen modernen Unterricht, der dauerhaft Präsenz- mit Onlineelementen kombiniert. Das wird teuer. 

 

Exkurs: Die Vorläufer-Organisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft war 1920 als "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" gegründet worden. Die Lage stellt sich jetzt im Schulbereich so dar: Wir brauchen eine "Notgemeinschaft für die deutschen Schulen", was bedeutet: Auf staatlicher Seite muss der gordische Knoten des Föderalismus durchschlagen werden. 

 

Hier hätte EFI die Basic-Facts von bildungsökonomischer, aber auch entwicklungspsychologischer und verfassungsrechtlicher Seite liefern können. Bis hin zu einem Perspektivplan, wie Deutschland binnen fünf Jahren auf dem KI-Feld der Learning Analytics das digitalaffine Estland abhängt und eine datenbasierte Version der Schule der Zukunft aufbaut. Auch ein Statement zum verweigerten Digitalpakt Hochschule wäre jetzt angesagt gewesen, eine dringende Erinnerung an die von der EFI wiederholt geforderte Digitalpauschale für die Hochschulen. Und nicht erst in einem Jahr beim nächsten Bericht.

 

Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen. Die Erkenntnis ist immer dieselbe: Das EFI-Gutachten 2021 hätte in diesem Krisenjahr von der gesellschaftlichen Bedarfssituation ausgehen und für die wichtigsten Handlungsbereiche wissenschaftsbasierte Empfehlungen abliefern müssen. 

 

Das Gutachten ist weitgehend so verfasst,
als wäre 2021 ein coronafreies Normaljahr

 

Stattdessen lautet eine ihrer zentralen Botschaften: Die Wissenschaftspolitik muss agiler werden. Eigentlich richtig – doch steht solch ein Ratschlag so lange auf wackligen Füßen, wie die Wissenschaft ihrerseits nicht bereit ist, agiler zu handeln: Das vorgelegte Gutachten ist weitgehend so verfasst, als wäre 2021 ein coronafreies Normaljahr. 

 

Das Thema der Genschere CRISPR/Cas hatte die Expertengruppe als Medizinempfehlung ohnehin auf der Agenda und war kein Reflex auf den Chemie-Nobelpreis. Die digitale Berufs- und Weiterbildung als zweiter Berichtsschwerpunkt ist kein aktuelles Thema und sachlich durch die Enquetekommission des Bundestages zum gleichen Thema eigentlich intensiv genug durchgearbeitet, ein typischer Fall von Doppelforschung.

 

Und die zentrale Empfehlung für das Forschungs- und Innovationsministerium der nächsten Bundesregierung – die so genannte Missionsorientierung – ist nun alles andere als originell. In der EU-Kommission hatte schon der vormalige Forschungskommissar Moedas diese Ausrichtung an den großen gesellschaftlichen Herausforderungen als neue Richtung für das Horizon-Programm vorgegeben, die Innovationsforscherin Mazzucato lieferte das Basisgutachten. In Deutschland arbeitet das Hightech-Forum als interministerieller Thinktank seit zwei Legislaturperioden missionsorientiert. Das Hightech-Forum wird in diesem Frühjahr evaluiert, insofern wäre es interessant und bereichernd gewesen, hätte sich die EFI die Ergebnisse dieses Gremiums mal genauer – und kritisch – angeschaut.

 

Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut, weshalb auch die EFI-Experten in der Auswahl ihrer Themen unabhängig sind und sich lenkende Aufträge ("Bitte gebt uns doch mal eure Meinung zu diesen Themen und Problemlagen!") verbitten. So kann es passieren, weil die Wissenschaft in ihrem eigenen Kosmos mit langwierigen Arbeitsprozeduren und besonderen Bewertungsattributen lebt, dass im Endeffekt eher an den realen Bedürfnissen von Politik und Gesellschaft vorbeigeforscht wird.

 

Zwei Entwicklungen machen eine Remedur notwendig. Zum einen ist wissenschaftliche Politikberatung, wie sie die EFI und andere Kommissionen betreiben, zu stark wissenschaftsbasiert. Das klingt auf Anhieb widersprüchlich. Aber die reine Wissenschafts-Optik ist – im gesellschaftlichen Raum und außerhalb des Labors – eine Brille mit Scheuklappen, die den breiten Blick versperren. Exemplarisch lässt sich das am Schicksal der Virologen und ihrer Inzidenz-Fixierung beobachten. 

 

Wissenschaftliche Politikberatung 

braucht soziale Inklusion

 

Um realitätswirksam werden zu können, brauchen solche wissenschaftlichen Stellungnahmen von Anfang an eine Form der sozialen Inklusion. Und sei es nur in Form eines Minderheitsvotums, das ein(e) beteiligte(r) zivilgesellschaftliche(r) Ombusdmann(frau) beisteuert. Die Wissenschaftsfixierung der wissenschaftlichen Politikberatung muss durchbrochen werden.

 

Entwicklung Nummer zwei ist das Aufplustern der Politik, gerade in Wahljahren, und ihrer Attitude, steuernd in das System der wissenschaftlichen Politikberatung eingreifen zu wollen. Und zwar durch das Hantieren an zwei Hebeln: Personal und Geld. Wie dirigistisch die Politik derzeit in die Zusammensetzung des führenden Beratungsgremiums der Wirtschaftspolitik eingreift (die Personalie Lars Feld beim "Rat der Wirtschaftsweisen"), markiert eine Grenzüberschreitung. Hier braucht es Regularien, die das verhindern.

 

Wie könnte die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Politikberatung und ihre Heranführung an die drängenden gesellschaftlichen Problemlagen aussehen? Der Königsweg könnte ausgerechnet im EFI-Vorschlag zur Missionsorientierung stecken: "Missionen können nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn sie von den politisch Verantwortlichen und breiten Teilen der Bevölkerung getragen werden", heißt es im EFI-Gutachten. 

 

Operative Partizipationsformate müssten im Wissenschaftsbereich natürlich über den Level der Citizen Science/Bürgerforschung hinausgehen. Im politischen Raum sind die Formate bereits weiter entwickelt. Zwei der bekanntesten sind die aus Energiekrisen hervorgegangenen Kommissionen zum Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohle. In beiden Fällen war ein Runder Tisch die Basis, an dem alle Akteure Platz nahmen, und die Wissenschaft war nur ein Teil davon Fraktion. Am Schluss stand ein Kompromiss, den alle Beteiligten, einige nur zähneknirschend, tragen konnten.

 

Auch für die aktuelle Lage der Corona-Pandemie könnte ein derartiges Gremium positiv wirken, nicht nur beim Wissenstransfer aus der Academia in die Politik. Der Vorschlag eines "Pandemierates" wurde vereinzelt im politischen Raum artikuliert, ist aber in Deutschland – mit Ausnahme einer Partiallösung in der Ärzteschaft – in den letzten Monaten nie konstruktiv angegangen worden. Agilität, so das neue Innovations-Buzzword, sieht eigentlich anders aus.

 

Manfred Ronzheimer ist Journalist für Wissenschaft und Innovation in Berlin.



Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Karla K. (Sonntag, 07 März 2021 09:05)

    Dieser Beitrag lässt mich ratlos zurück. Nicht, weil er die Ausgestaltung des EFI-Gutachtens kritisiert, das ist wohl angebracht. Aber was ist die Zielsetzung des Beitrags? Welchen Sinn ergeben (im Argumentationsversuch) all die Behauptungen und Setzungen, die nicht weiter begründet oder substanziell hergeleitet werden?

    Inwiefern befindet sich Deutschland in der tiefsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg?

    Inwiefern ist es ein Kennzeichen modernen Unterrichts, dass er dauerhaft Präsenz- und Onlineelemente kombiniert?

    Inwiefern ist das (lerntheoretisch so schlichte) Konzept von Learning Analytics für Schule erstrebenswert?

    Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen.

    Mit einem in weiten Teilen wenig reflektierten Sammelsurium erweist der Beitrag dem sinnvollen und notwendigen Anliegen wohl eher einen Bärendienst.