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Was von der Priorität übrigbleibt

Kinder und Jugendliche wurden im Lockdown besonders eingeschränkt. Doch beim Drang der Regierungschefs, jetzt möglichst viel möglichst schnell zu öffnen, drohen die Interessen der jungen Generation in den Hintergrund zu geraten.

Wo ist ihre Perspektive? Viele ältere Schüler dürften noch lange zu Hause hocken.
Bild: Free-Photos / Pixabay.

MACHEN DIE REGIERUNGSCHEFS von Bund und Ländern heute Nachmittag die nächsten Lockerungsübungen? Ihre Statements der vergangenen Tage lassen darauf schließen, ebenso erste Entwürfe der Beschlussvorlage für ihre Sitzung, die seit gestern kursieren.

 

Wie aber passt das eigentlich mit der lange demonstrativ hochgehaltenen Devise "Follow the Science" zusammen? Die Kurve der Corona-Neuinfektionen zeigt nach oben, viele Experten und die Kanzlerin rechnen mit der dritten Welle, doch die Ministerpräsidenten beeindruckt als Argument mehr die "Corona-Müdigkeit" in der Bevölkerung – die wiederum das Virus weniger beeindrucken dürfte.

 

Von "intelligenten Öffnungsschritten" ist die Rede, von Massentests, die das Öffnen sicherer machen sollen. Was für Kitas und Schulen überfällig und unabdingbar ist, hat, sobald über Restaurants oder den Einzelhandel geredet wird, das Zeug zum Pandemie-Beschleuniger: Solange die Zahlen steigen und die Impfgeschwindigkeit nicht dramatisch zulegt, wird durch die Debatte über Massentests ein zusätzlicher Pandemie-Spielraum suggeriert, der gar nicht da ist.

 

Was mich als Journalist für Bildung und Wissenschaft besonders irritiert: So gefährdet die Politik selbst die zaghaften Öffnungsschritte, die sie bei Kitas und Schulen gegangen ist. Erst neulich hat eine RKI-Studie erneut festgestellt: Das Infektionsgeschehen an Bildungseinrichtungen folgt dem Infektionsgeschehen in der Gesellschaft, geht ihm aber nicht voran. Was bedeutet: Die Gesellschaft als Ganzes steht in der Verantwortung, sich einzuschränken, um das Pandemiegeschehen zu kontrollieren. Denn dann ist es auch an Bildungseinrichtungen kontrollierbar. Ob die Regierungschefs bei ihrer Entscheidung heute Nachmittag daran denken? 

 

Denken die Regierungschefs wirklich,
sie hätten ihr Versprechen schon erfüllt?

 

Momentan scheinen sie eher der Meinung zu sein, sie hätten ihr Versprechen, Kinder und Jugendliche bei den Öffnungen zu priorisieren, mit der Rückkehr der meisten Grundschüler und einiger Abschlussklassen eingelöst, auch wenn die Mehrheit der Schüler weiter zu Hause hockt und in den Schulen fast überall nur ein stark reduziertes Wechselunterricht-Programm läuft.

 

Jetzt sind laut den ersten Entwürfen der Beschlussvorlage erstmal Blumengeschäfte, Gartencenter, alle übrigen körpernahe Dienstleistungen und Fahr- und Flugschulen an der Reihe, um ein Stück vom knappen Pandemie-Budget der Gesellschaft zu verbrauchen, von dem es, solange R über 1 liegt, ohnehin eigentlich gar nichts zu verteilen gibt. Was schon in der Aufzählung wie blanker Zynismus klingt, wenn gleichzeitig die grundlegenden Bildungs- und Teilhaberechte etwa von 7-,8- oder 9-Klässlern weiter durch den Komplett-Ausschluss vom Präsenzunterricht auf unbestimmte Zeit missachtet werden. 

 

Nicht nur zynisch, geradezu absurd wäre es, wenn es wie in den ersten Entwürfen auch in der Beschlussvorlage dabei bliebe, dass weitere Öffnungsperspektiven für Kitas und Schulen auf zehn Seiten mit keinem einzigen Wort mehr erwähnt würden, während für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche konkrete Schritte abhängig von Inzidenzen und Infektionslage ausbuchstabiert werden.

 

Klar: Am Ende sah das Beschlusspapier von Kanzlerin und Ministerpräsidenten immer noch ganz anders aus als die verschiedenen an die Medien durchgereichten Entwürfe. Auch haben die Regierungschefs ja bei ihrer vergangenen Sitzung beschlossen, die Entscheidungen über die Bildungseinrichtungen in die Länder zurückzugeben. Die nach der heutigen Sitzung deshalb eigenständig Tempo machen könnten bei den Bildungseinrichtungen.

 

Keine "sichere und gerechte Öffnungsstrategie"
ohne Kitas und Schulen

 

Und doch: Ein gesamtgesellschaftlicher Corona-Stufenplan, der Kitas, Schulen und auch Hochschulen nicht explizit berücksichtigt und priorisiert, kann niemals das "Konzept für eine sichere und gerechte Öffnungsstrategie" sein, das die Regierungschefs seit Januar versprochen haben. 

 

Das ist auch den zuständigen Bundesministerinnen klar, und so haben sie vor der Corona-Spitzenrunde nochmal kräftig Druck gemacht. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), indem sie im ARD-Morgenmagazin sagte, sie finde es sehr wichtig, "dass Kinder und Jugendliche jetzt ganz vorne in der Debatte um weitere Öffnungsschritte stehen müssen". Wenn man über Baumärkte, Flugschulen und Hundeschulen spreche, sollte man auch die Perspektive von Kindern in den Blick nehmen. "Es kann nicht sein, dass Hunde früher in die Schule gehen als Kinder und Jugendliche." Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, den Schulen sollten weitere Möglichkeiten für Lockerungen gegeben werden. Die Schulen seien noch weit vom Normalbetrieb entfernt. Der Präsenzunterricht könne nur erweitert werden, wenn in anderen Bereichen mit Vorsicht gelockert werde.

 

Immerhin: Die ersten Entwürfe der Beschlussvorlage erwähnen Testkonzepte, in deren Rahmen das Personal an Kitas und Schulen und auch die Schüler pro Woche die Möglichkeit zu einem oder zwei kostenlosen Schnelltests einschließlich einer Bescheinigung über das Testergebnis erhalten sollten. Was ein wichtiger, ja ganz entscheidender Schritt nach vorn wäre – wenn auch möglicherweise, wie die Kinder- und Jugendärzte fordern, nicht in Form von Selbsttests. Solange sich Bund und Länder an der Stelle nicht einmal mehr im Klein-Klein verlieren: So feilschten sie zuletzt über die Zahl der wöchentlichen Tests, in einer neuen Vorlage war nur noch von einem pro Woche die Rede. Unklar ist offenbar auch noch, wer sie bezahlen soll. 

 

Die Kultusminister haben sich am Montagabend bereits deutlich positioniert. In einem gemeinsamen Beschluss betonten sie: "Neben den bestehenden Maßnahmen müssen die weiteren Öffnungsschritte sukzessiv von zusätzlichen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes flankiert werden. An erster Stelle stehen künftig dabei durch den Bund zu finanzierende flächendeckende Testmöglichkeiten für das an Schulen tätige Personal sowie perspektivisch auch für Schülerinnen und Schüler."

 

Was die heutigen Beschlüsse im 
schlechtesten Fall bedeuten könnten

 

Darüber hinaus betonten die Kultusminister erneut die negativen Folgen des anhaltenden Ausfalls von Präsenzunterricht auf für die Bildungs- und Entwicklungschancen der Schüler, auf ihre soziale und mentale Situation und die ihrer Familien. Mit Verweis auf die neue RKI-Studie sprachen sie sich für eine weitere "sukzessive Öffnung von Schulen" aus, wie sie sie Anfang Januar in einem Stufenplan beschlossen hatten. "Sofern es die Infektionslage weiterhin zulässt, soll der in den jüngeren Jahrgängen und den Abschlussklassen begonnene Wechsel- oder Präsenzunterricht im März 2021 auf weitere Jahrgänge ausgeweitet und intensiviert werden." Hiervon abweichende Regelungen könnten regional getroffen werden.

 

Auffällig ist, dass die Kultusminister weiter als Voraussetzung die Infektionslage nennen. Für andere gesellschaftliche Bereiche scheinen die Regierungschefs davon  mehr und mehr abzukommen. In einer neuen Version des Beschlussvorschlages hieß es am Morgen, schon ab einem Inzidenzwert von 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern in sieben Tagen könne es Erleichterung für den Handel geben und etwas später für die Außengastronomie. 

 

Im schlechtesten Fall könnte der Beschluss heute zweierlei bedeuten: den endgültigen Einstieg in die Dritte Welle und den endgültigen Abschied von der angeblichen Priorisierung der Bildungseinrichtungen. Aber wie gesagt: Entwürfe sind nicht Beschlussvorlagen sind nicht Beschlüsse. Die Hoffnung ist noch da.





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