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Gleich offen für viele

Das Berliner Verwaltungsgericht befindet den Ausschluss bestimmter Jahrgangsstufen vom Wechselunterricht für rechtswidrig. Welche Konsequenzen hat dieser Beschluss?

Das Portal eines Gymnasiums in Berlin (Symbolfoto). Foto: JMW.

DAS VERWALTUNGSGERICHT BERLIN hat gestern die Schultore in der Hauptstadt ein Stück weiter aufgestoßen. Es sei rechtswidrig, befanden die Richter, dass die Klassen 7 bis 9 weiter komplett Distanzunterricht haben, während alle anderen Jahrgänge bereits wieder in den Wechselunterricht hätten zurückkehren dürfen. Denn dieses Vorgehen verletze den Gleichheitsgrundsatz.

 

Geklagt hatten die Familien von zwei Gymnasiasten aus den Klassenstufen 7 und 9, die sofort zum vollen Präsenzunterricht zurückkehren wollten. Das lehnten die Richter zwar ab, genau wie die entsprechenden Klagen der Familien von fünf Grundschülern. Außerdem hatten sechs der sieben auch noch gegen die Maskenpflicht im Unterricht geklagt – ebenfalls vergeblich. Doch ein Wechselunterricht, bestimmte das Verwaltungsgericht, dürfe den beiden Gymnasiasten nicht verwehrt werden.

 

Ihnen sei es juristisch zunächst einmal um die Schulöffnung an sich gegangenen, "natürlich verbunden mit den entsprechenden Schutzmaßnahmen", sagt der Vater der Siebtklässlerin, der namentlich nicht genannt werden will. "Unser eigentliches Ziel ist es aber, wieder zu einem differenzierten Umgang mit der Pandemie zu kommen, wie wir ihn in Berlin schon einmal hatten mit dem Berliner Corona-Stufenplan" – mit abgestuften Maßnahmen im Sinne einer Güterabwägung, die sich an dem Infektionsgeschehen im Stadtbezirk und der konkreten Schule orientierten. "Ich bin sehr froh für meine Tochter, aber vor allem auch darüber, dass hier für alle Berliner Kinder der Jahrgangsstufen 7 bis 9 Gerechtigkeit geschaffen wurde." Alle Jugendlichen seien unbedingt auf den Lebensraum Schule angewiesen, um ihre Talente und Persönlichkeit zu entwickeln. Der Anwalt der sieben Kläger sprach von der "bundesweit ersten Entscheidung, die zugunsten von Eltern ausgegangen ist".

 

Also ein Beschluss mit deutschlandweiter Bedeutung?  Ja und nein. 

 

Ja: Auch in anderen Bundesländern könnten Eltern, deren Mittelstufen-Kinder noch nicht wieder in die Schule dürfen, jetzt mit theoretisch guten Erfolgsaussichten vor den dortigen Verwaltungsgerichten klagen. Unter folgenden Bedingungen: Andere Jahrgangsstufen ab Klasse fünf haben schon wieder Präsenzunterricht, und dies dürfen nicht nur Klassen sein, die unmittelbar vorm Schulabschluss stehen.

 

Denn so geht die Logik des Berliner Gerichts: Kinder bis Klasse vier dürften bei der Rückkehr in den Präsenzunterricht bevorzugt werden, weil bis etwa zehn Jahre die Ansteckungsgefahr als geringer einzuschätzen sei.  Auch sei es in Ordnung, wenn Schüler aus Abschlussklassen eher zurückkommen dürften. Doch, wie es im Gerichtsbeschluss heißt, es sei nicht "dargetan", aus welchen Motiven das Land Berlin "einerseits die Wiederaufnahme des Wechselmodells auch für die Klassen 4 bis 6 und... für die Schülerinnen und Schüler der Klassen 10 und aufwärts beschlossen hat, sich aber andererseits bei der Mittelstufe zu einem vergleichbaren Angebot auf nicht absehbare Zeit weiter nicht in der Lage sieht". 

 

Wechselunterricht juristisch
in Ordnung

 

Und nun zum Nein: Die Verwaltungsrichter sagen nicht, dass die Abwägung zwischen Gesundheitsschutz (Pandemieeindämmung) und dem Recht der Schüler auf Bildung und Teilhabe von der Berliner Landesregierung fehlerhaft ausgefallen sei. Zwar betonen die Richter: "Ein ursprünglich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig zu qualifizierendes Vorgehen kann mit zunehmender Dauer in eine Rechtswidrigkeit hineinwachsen."

 

Doch sei der gegenwärtige Wechselunterricht juristisch in Ordnung, weil das Land im Rahmen des ihm zustehenden "Einschätzungsspielraums rechtsfehlerfrei den Gesundheitsschutz gegen das Recht auf Bildung und Teilhabe abgewogen hat". Insofern seien die Regelungen angesichts des derzeitigen Infektionsgeschehens und der Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts weiter als "noch verhältnismäßig anzusehen". 

 

Letzteres ist die Entscheidung, die Gerichte deutschlandweit bei ähnlichen Klagen in den vergangenen Monaten immer wieder zu treffen hatten und die stark abhängig ist von der jeweils aktuellen Infektionsdynamik. Dabei orientieren sich die Gerichte unter anderem an Fragen der Auslastung des Gesundheitssystems, womit auch klar ist: Die Landesregierungen können die Schulen nicht erst bei niedrigen Inzidenzen wieder öffnen.

 

So warnte zum Beispiel der NRW-Verwaltungsgerichtshof schon Ende Januar: "Die Zumutung konkreter Einschränkungen bedarf umso mehr der grundrechtssensiblen Rechtfertigung, je unklarer der Beitrag der untersagten Tätigkeit zur Verbreitung des Coronavirus ist und je länger diese Einschränkung dauert." Damals hatten die Verfassungsrichter mehrere Klagen auf sofortige Rückkehr zum Präsenzunterricht abgelehnt, aber ihre Begründung, warum der Distanzunterricht in der Güterabwägung in Ordnung gehe, bereits mit zweimal "noch" und zweimal "derzeit" versehen. Bei einer damaligen Landesinzidenz von 90 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen.

 

Beim jetzigen Berliner Infektionsgeschehen (Berliner 7-Tages-Inzidenz heute: 52) halten die dortigen Verwaltungsrichter also den Wechselunterricht für "noch" angemessen. Aber eben dann für alle.

 

"Mal wieder die Schule
von innen sehen"

 

Was bedeutet der Beschluss praktisch? Für Mittelstufenschüler in anderen Bundesländern, falls sie derzeit noch zu Hause hocken müssen, womöglich kurzfristig nicht allzu viel. Denn ihre Familien müssten erst ihrerseits auf Rechtsschutz klagen – und bis die Gerichte entscheiden, dürfte die gegenwärtige Corona-Verordnung schon wieder abgelaufen sein. Wobei, sagt der Vater der Siebtklässlerin, sie genau deshalb einen anderen Weg gewählt hätten: "Unser Antrag verlangte einfach, dass das Land Berlin meine Tochter im Präsenzunterricht beschulen muss und begründete das mit der Berliner Verfassung, nach der Bildung ein Grundrecht ist. So kommt es auf die Geltung der einzelnen Verordnung nicht mehr an."

 

Grundsätzlich könnte eine Konsequenz des Berliner Gerichtsbeschlusses lauten, dass im Falle künftiger Öffnungsschritte oder – was hoffentlich nicht der Fall sein wird – bei erneuten flächendeckenden Schließungen alle Stufen ab der 5. Klasse, die nicht Abschlussjahrgänge sind, gleich behandelt werden müssten. 

 

Für die zwei Mittelstufenschüler in Berlin hat der Beschluss dagegen unmittelbare Konsequenzen: Ein voller Präsenzunterricht, wie sie gefordert haben, steht den beiden auch laut Richtern nicht zu. Doch müssen ihre Schulen sie umgehend genauso in den Wechselunterricht lassen wie alle anderen Schüler ab Klasse 5. Oder die Schulen müssten umgekehrt alle anderen Schüler auch von zu Hause beschulen. 

 

Letzteres ist wohl ausgeschlossen, aber eine Berliner (und Hamburger) Besonderheit besteht darin, dass der Beschluss vorübergehend tatsächlich nur für die beiden gilt. Und für alle anderen? "Kehren die Klassen 7 bis 9 bald in Berlins Schulen zurück?", fragte der Tagesspiegel bereits heute Morgen und zitierte die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Bettina Jarasch, die eine "sofortige Umsetzung" der Entscheidung forderte. 

 

Womit sie wohl die Anpassung der Verordnung für alle fordert. Doch genau das, sagt die an dem Verfahren nicht beteiligte Bildungsanwältin Sibylle Schwarz, folge rechtlich gesehen aus der Entscheidung eben nicht, weil in erster Instanz keine geltende Verordnung außer Kraft gesetzt werden könne. Das gehe nur in zweiter Instanz. "An eine Außervollzug gesetzte Verordnung muss sich keiner halten. In Berlin aber ist die Verordnung noch in Vollzug und ist für alle anderen Schüler momentan noch geltendes Recht. Ob der Hinweis auf eine anders lautende Gerichtsentscheidung weiterbringt, kann sein."

 

Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) tut derweil so, als renne der Beschluss bei ihr offene Türen ein. Sie sagte auf Anfrage, ihre Verwaltung sei mit den Schulleitungsverbänden, Amtsärzten sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern "bereits seit vielen Tagen" im Gespräch über eine mögliche Rückkehr der Klassen 7 bis 9 im Wechselunterricht. "Das Thema werde ich in die nächste Senatssitzung einbringen." Die nächste Woche Dienstag ist. "Die Idee ist", sagt Scheeres weiter, "dass diese Schülerinnen und Schüler vor Ostern zumindest noch einmal Präsenztermine haben, einen unmittelbaren Kontakt zu ihrer Lehrkraft erleben und mal wieder ihre Schule von innen sehen." 

 

Dieser Artikel erschien heute zuerst bei Freitag.de



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Kommentare: 2
  • #1

    Michael (Donnerstag, 11 März 2021 20:45)

    Das ist ein interessantes Urteil: in Hessen sind ebenfalls trotz Wechselunterricht die Jg. 7 und 8 seit Monaten vom Schulbesuch ausgeschlossen, was rechtlich wohl enenfalls fragwürdig ist...

  • #2

    T. (Samstag, 13 März 2021 23:58)

    Die Schule meiner Tochter in Berlin teilt mit, dass Homeschooling der Stufen 7-9 nur schwer mit Wechselmodelpräsenzbeschulung der anderen Stufen zu vereinbaren sei. Die Videokonferenzen fallen ab nächster Woche deshalb in größerem Stil aus. Es bleibt das Kind vor Bergen an Aufgaben allein vor dem PC. Wenn das schulorganisatorisch wirklich schwer zu stemmen ist, ist es ein starkes Argument dafür, dass alle Jahrgänge gleich zu behandeln sind. Denn schulisch angeleitet muss das Lernen schon bleiben rechtlich. Sonst ist eine Leistungsbewertung nicht zulässig. Dass aber keine Zeugnisse ausgestellt werden oder das Jahr wiederholt wird, das wollen die Kultusminister und Schulleiter auf keinen Fall.