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"An den Rand gedrängt"

Was geschlossene Kitas, Schulen und Vereine für die kulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen bedeuten – und warum kulturelle Teilhabe zur kommunalen Pflichtaufgabe werden muss: ein Interview mit Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss.

Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss. Foto: Petra Coddington.

Frau Reinwand-Weiss, Sie sind Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung und Mitglied im Rat für Kulturelle Bildung. Der hat jetzt Empfehlungen zum "Kulturraum Kindheit und Jugend" herausgegeben. Was genau ist mit diesem "Kulturraum" gemeint?

 

Im Rat für Kulturelle Bildung haben wir ein sehr weites Verständnis dieses Begriffs. Für uns umfasst er die formale Bildung, also Schulen und Kitas, genauso wie die non-formalen Bildungseinrichtungen: Musik-, Tanz-, Kunstschulen, Sport- und andere Vereine mit Angeboten für Kinder. Und schließlich ist da der immer wichtigere informelle Bereich – wo es keinerlei pädagogische oder sonstige Anleitung gibt, wo kulturelle Bildung einfach aus dem Alltag der Kinder heraus passiert. In den Familien. Im Skaterpark. Beim Medienkonsum.

 

Kulturelle Bildung beim Handy-Daddeln?

 

Warum nicht? Wir erleben doch, dass Kinder und Jugendliche in der Pandemie, wenn Schulen und Vereine geschlossen sind, viel mehr Zeit am Computer, Tablet oder Smartphone verbringen. Als Rat warnen wir davor, dass per se negativ zu sehen. Stattdessen sollten Kitas, Schulen und die non-formalen Bildungseinrichtungen schon jetzt, vor allem aber auch dauerhaft nach der Pandemie ihre Angebote stärker auf die digitale Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen ausrichten und deren dort vorhandene Motivationsenergie nutzbar machen.

 

"Wir sollten den digitalen Medienkonsum der Jugendlichen als Gelegenheit begreifen."

 

Wie meinen Sie das?

 

Als Rat haben wir eine Studie zur YouTube-Nutzung durchgeführt, und die hat eindrucksvoll gezeigt, dass Kinder und Jugendliche keineswegs nur passiv Videos rezipieren, sondern im Anschluss daran auch selbst produktiv und schöpferisch tätig werden: musikalisch, tänzerisch, künstlerisch. Das sollten wir als Gelegenheit begreifen!

 

Was macht es mit der Bildungsgerechtigkeit, wenn in der Pandemie der informelle Bereich so viel bedeutender geworden ist?

 

Das Problem besteht ja nicht nur da, wo die Kitas und Schulen, Musikschulen und Vereine geschlossen sind. Auch wenn Schulunterricht stattfindet, ist er oft auf die Kernfächer konzentriert. Musik, Kunst oder Darstellendes Spiel werden an den Rand gedrängt, spielen faktisch keine Rolle mehr. Und dabei sind diese Fächer ein ganz wesentlicher Teil schulischer Bildungsprozesse, die Schülerinnen und Schüler teilweise überhaupt erst zum Lernen motivieren. Wenn sie dann nur noch auf den informellen, den familiären Bereich zurückgeworfen sind, geht die Schere auf: zwischen Kindern aus anregungsreichen Milieus und anderen aus Familien ohne diese Ressourcen. Deren Eltern sie nicht in gleicher Weise beim Lernen begleiten und auch nicht ihren Medienkonsum so kanalisieren können, dass aus einer rein rezeptiven eine kritische, produktivere Haltung wird. 

 

Was empfehlen Sie als Rat?

 

Wir müssen kulturelle Teilhabe unabhängig von der Herkunft ermöglichen, und das geht nur, wenn sie zur kommunalen Pflichtaufgabe wird. Wenn wir heute über kommunale Kunst- und Kultureinrichtungen sprechen, meinen wir damit meist das Stadttheater oder ein wichtiges Museum. Doch als Rat fordern wir: Jede Kommune, gerade auch die auf dem Land, muss in non-formale Bildungseinrichtungen investieren, in Schwimm- und Sportvereine und soziale Treffpunkte, in so genannte "Dritte Orte" neben Schule und Familie. Sie muss Orte der kulturellen Bildung für Kinder und Jugendliche vorhalten und diese miteinander vernetzen. 

 

Ein frommer – und teurer Wunsch!

 

Natürlich sind die Kassen vieler Kommunen leer, und die Kommunikation mit der Landes- und Bundesebene ist oft schwierig. Aber es geht gar nicht anders, wenn wir auch sozial benachteiligte Jugendliche erreichen wollen. Im Übrigen profitieren die Kommunen selbst ja genauso: Künftig werden jene Städte und Gemeinden besonders attraktiv sein, die eine lebendige Stadtkultur für alle anbieten können. Jeder Euro für kulturelle Bildung zahlt sich also mehrfach aus. 


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