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Maske auf und durch

Die Öffentlichkeit diskutiert seit einem Jahr über Corona und die Schulen. Sie diskutiert aber nicht über die Lehramtsausbildung. Dabei bekommen auch Lehramtsanwärter*innen die Auswirkungen der Pandemie mit Wucht zu spüren. Ein Praxisbericht von Christopher Kohl.

Christopher Kohl studierte an der Universität zu Köln die Unterrichtsfächer Deutsch und Geschichte. Seit Mai 2020 absolviert er seinen Vorbereitungsdienst an einem Gymnasium im rechtsrheinischen Köln. Hier sieht man ihm im Wechselunterricht. Foto: privat.

UM 9.40 UHR schwirre ich in den Klassenraum. Der Unterricht beginnt erst in 15 Minuten, aber ich will Fehler vermeiden. Denn in einer Stunde soll ich meinen Ausbildern meine vierte Lehrprobe im Fach Deutsch zeigen. Bis dahin bleiben mir also 45 Minuten, um die Kinder einzustimmen – fachlich und persönlich. Denn die Lehrprobe findet in einer halbierten achten Klasse an einem Gymnasium statt, und die Kinder kenne ich bislang nur als sprechende graue Kacheln aus Videokonferenzen. Ich prüfe also, ob der Laptop funktioniert, die Arbeitsblätter vorliegen und die Maske sitzt. Danach geht es los.

 

Der Ruf des Vorbereitungsdienstes im Lehramt ist schlecht. Man absolviert das "Ref" in anderthalb Jahren. Man eignet sich hier das wissenschaftliche Rüstzeug für guten Unterricht an und wendet es direkt in der Praxis an. Man liegt unter dem Brennglas von Ausbildern, Schulleitern und Schülern. Am Ende steht ein Prüfungstag, der zu 50 Prozent die Gesamtnote bestimmt. Diese Regeln gelten für alle; wer Lehrkraft werden will, muss da durch. So sind die Regeln, so ist es normal.

 

Aber in einer Pandemie ist nichts normal. Schulen sind Politika, sie bewegen sich seit einem Jahr zwischen Präsenz-, Distanz- und Wechselunterricht. Die Normalität zerbröselte. Die Regeln blieben. 

 

Zwischen Vorgaben
und Alltag

 

Sie besagen, dass wir vor der Abschlussprüfung "in der Regel" zehn Unterrichtsbesuche ("UB’s") zeigen müssen. UB’s stressen alle Referendar*innen am meisten. Wir sollen in 45 Minuten zeigen, dass wir dazu in der Lage sind, sehr gute Unterrichtsstunden zu halten, um den Schüler*innen einen „hohen Kompetenzzuwachs“ zu ermöglichen. Mit alltäglichem Unterricht hat das nichts zu tun, das wissen alle Beteiligten. Trotzdem erwartet die Prüfungskommission in der Examensprüfung eine sehr gute Lehrprobe. Viele Kolleg*innen schlafen schon Tage vorher schlecht und da schon die zehn UB’s formal damit vergleichbar sind, geht es ihnen hier genauso.

 

Der eingangs erwähnte UB war mein insgesamt achter. Vier davon habe ich im Klassenraum zeigen können; zwei waren Simulationen (oder: Fachgespräche), zwei waren Videokonferenzen. Wie die letzten zwei UB’s aussehen werden, weiß ich nicht. Derzeit spekuliere ich auf halbierte Klassen im Wechselunterricht. Angesichts der Infektionszahlen könnte es aber auch wieder in den Distanzunterricht gehen.

 

Dieser Mangel an Planbarkeit ist ein großes Problem. Viele meiner Kolleg*innen werden die 10 UB’s nicht vervollständigen. Formal lässt die Formulierung "in der Regel" dies zu, und eine Ausbildung während einer Pandemie läuft ohnehin außerhalb normaler Regeln. In der Praxis wissen wir jedoch mitunter bis zum Vorabend nicht, ob und in welcher Form die fixierten Termine stattfinden werden. Wir sind einerseits politischen Entscheidungen ausgeliefert und können andererseits nur auf das Entgegenkommen unserer Fachleitungen hoffen. Bislang sind diese sehr flexibel und geben sich verständnisvoll. Geht es aber um die Notengebung, passt kaum jemand die Anforderungen an. Auf Hinweise zu schlechten Planungsoptionen, fehlender Ausbildungszeit oder ungleichen Verhältnisse an Schulen hören wir oft nur: "Das tut mir auch wirklich Leid für Sie." Das ist zwar nett, aber davon kann ich mir nichts kaufen. Zumal die Curricula für uns unverändert gelten; der Handlungsspielraum der Seminare ist also ebenfalls beschränkt. 

 

Coronas Auswirkungen
auf den Unterricht

 

Dazu kommt, dass die Pandemie das Unterrichten einschränkt. Es gibt eine feste Sitzordnung, nach Möglichkeit 1,5 Meter Abstand und möglichst keine Bewegung im Klassenraum. Das methodische Maximum ist die Partnerarbeit. Alle tragen eine Maske, inzwischen meistens FFP-2. Die Fenster sind meistens geöffnet, auch wenn dann alle ihre Jacke anziehen müssen. Gelegentlich fischt die Schulleitung Einzelne heraus, weil diese sich in Quarantäne begeben müssen. Im Wechselunterricht können wir diejenigen, die zu Hause sind, per Videokonferenz in den Raum dazuschalten – sofern das Internet an der Schule dies zulässt (es funktioniert nur selten). Auflockernde, erwiesenermaßen gute Unterrichtsmethoden scheiden in den Planungen von vornherein aus.

 

Reiner Distanzunterricht funktionierte hingegen ordentlich, jedenfalls an meiner Schule. Auch wenn niemand wusste, was da eigentlich auf uns zukommt. Wissenschaftliche Qualitätsmerkmale für guten Distanzunterricht gibt es nämlich (noch) nicht. Daher mussten wir oft nach dem Trial-and-Error-Prinzip vorgehen. Es stellte sich zwar heraus, dass vieles auch auf Videokonferenzen übertragen werden und durch Tools im Netz erweitert werden konnte. Trotzdem schafft man selbst in einer guten Videokonferenz nicht den Lernzuwachs, der in einer Präsenzstunde möglich wäre. Immerhin lassen sich meine Unterrichtsfächer gut in die Distanz transferieren. Wer dagegen derzeit zur Kunst- oder Sportlehrkraft ausgebildet wird, schaut in die Röhre. Hinzu kommen die sozioökonomischen Unterschiede innerhalb der Lerngruppen: Wer während des reinen Distanzunterrichts nur am Smartphone dabei sein konnte, hatte größere Probleme als jemand mit einem Computer. 

 

Unterschiede existieren jedoch auch zwischen jeder Schule und jeder Schulform. Vermutlich spreche ich insofern aus der gymnasialen Perspektive noch über Luxusprobleme im Vergleich zu dem, was Referendar*innen an Grund-, Haupt- oder Förderschulen erleben. Der Wechselunterricht ist zwar schon die dritte oder vierte Unterrichtsform, die ich kennen gelernt habe, aber irgendwie gelingen uns die Umstellungen meistens (auch, weil meine Schule die notwendige Software angeschafft hat). Ein Kollege an einer Gesamtschule berichtete mir, dass dort die Differenzierung nach Kursen ausgesetzt wurde und die Klassen im Verbund zusammensitzen. Die Lehrkraft ist ein Aufpasser, da die Schüler*innen nur zugewiesene Arbeitsblätter bearbeiten können – hier liegt also ein Rückschritt vom Distanz- zum Wechselunterricht vor. Dennoch: Die Kompetenz zu improvisieren erwirbt mein Ausbildungsjahrgang vermutlich stärker als jeder vorherige. Das gilt auch für die Kolleg*innen an anderen Schulformen. 

 

Potentiale und
Probleme

 

Interpretiert man unsere Erfahrungen als bislang unbekannte Lerngelegenheiten, zeigen sich für uns große Gewinne. Sie gehen über die erwähnte Improvisationskunst hinaus: Im Bereich der Medienkompetenz dürfte uns kein Abschlussjahrgang etwas vormachen. Wir haben uns mit fachdidaktischer Begleitung weiterentwickelt und Dinge erprobt, die in der Schule der Zukunft eher oft als selten gefragt sein werden. Wir sind im Distanzunterricht viel präziser auf die Lernprodukte der Schüler*innen eingegangen, als es im Präsenzunterricht normal gewesen wäre. Wir konnten persönlichere Beratungen mit Schüler*innen durchführen, gezielter Rückmeldung geben. Wir haben also neue Lernpotenziale erkennen können.

 

Der Kontrast zu dieser Perspektive setzt sich aus kurz- und langfristigen Problemen zusammen. Kurzfristig werden wir bis zum Ende der Ausbildung ertragen müssen, dass wir vieles Gelernte aus den Fachseminaren nicht im Unterricht anwenden können. Auch die psychischen Belastungen sind enorm. Die Examensprüfung wird möglicherweise die erste Lehrprobe sein, die wir unter „normalen“ Bedingungen zeigen können. Längerfristig stellen sich andere Fragen: Wie wirkt sich diese Ausbildung auf unsere Perspektive am Arbeitsmarkt aus? Wie schnell erlernen wir im Beruf, welche Methoden wann passen? Werden wir als "Corona-Jahrgang" abgestempelt? 

 

Keine Öffentlichkeit für
die Lehramtsausbildung

 

Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht. Ich kenne auch keine Rezepte zur Verbesserung der Lage. Ich weiß nur, dass weder die Politik noch die Öffentlichkeit über die Lehramtsausbildung diskutieren. Ich habe von elf Ausbildungsmonaten vier oder fünf in der Schule verbracht. Ich kenne de facto weder die Schüler*innen noch die Kolleg*innen ohne Maske. Ich will das Ganze nur noch irgendwie erfolgreich abschließen.

 

Mein achter UB lief übrigens ordentlich. Die Schüler*innen haben gut mitgemacht. Keine Spur von persönlichem Fremdeln. Aber meine Schwerpunktsetzung war etwas verfehlt. Mit der Pandemie hatte das nichts zu tun. Mich beruhigte das. Denn damit kann ich weiterarbeiten – wie auch immer die nächsten Wochen Schule aussehen werden.


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