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Anschluss statt Ausschluss!

Die Folgen von Schulschließungen und Distanzunterricht: Warum wir freiwillige Klassenwiederholungen für das falsche Mittel halten, um Schülerinnen und Schüler beim Aufholen des verpassten Unterrichtsstoffs zu unterstützen. Ein Kommentar des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Bildungsverwaltung.

"Gehe zurück auf LOS" - das falsche Signal für Schüler*innen nach dem Corona-Schuljahr. Foto: dboschm / Pixabay.

DIE BILDUNGSPOLITISCHE DISKUSSION um die Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche rückt aktuell vor allem mögliche Lernrückstände in sogenannten Kern- oder Schlüsseldomänen in den Mittelpunkt. Die Sorge ist groß, dass die ohnehin Benachteiligten besonders unter den Bedingungen des Distanzlernens leiden und vorhandene soziale Spreizungen, also die vorhandenen Leistungsunterschiede in Abhängigkeit vom sozialen Hintergrund, noch größer werden.

 

So erhielt zuletzt das geplante Bund-Länder-Programm zur Lernförderung große mediale Aufmerksamkeit, das voraussichtlich zwei Milliarden Euro Bundesmittel in Nachhilfeangebote für die am stärksten von Lernrückständen betroffenen Schüler*innen investieren soll.  Auch die Länder setzen diverse Vorhaben auf, die mit zusätzlicher Lernförderung dafür sorgen sollen, dass Kindern und Jugendlichen der Anschluss ans Lernen möglichst rasch gelingt und sie Verpasstes zügig aufholen können.

 

Was fehlt, ist eine
Gesamtstrategie 

 

Dass Bund und Länder hier über Maßnahmen diskutieren, die kurzfristig zum Einsatz kommen, ist richtig und notwendig. Was aber fehlt, ist eine Gesamtstrategie, wie auf der Grundlage kurzfristiger Maßnahmen der langfristige Fördererfolg ermöglicht werden soll. 

 

Diese Gesamtstrategie bräuchte neben dem bildungspolitischen Bekenntnis eine klare Steuerung durch die Bildungsadministrationen auf der Grundlage tragfähiger schulischer Förderkonzepte. Im Verhältnis zur bildungspolitischen Willensbekundung, Ungleichheiten abzubauen, ist es aber für die Steuerung ungleich schwieriger, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auf langfristige Effekte angelegt sind. Genau darum muss es jedoch gehen, damit Förderinitiativen nicht nur als temporäre Insellösungen allenfalls zu kurzfristigen Effekten führen. Sicher kann Politik in der jetzigen Pandemie nicht warten, bis eine solche Gesamtstrategie vorliegt, aber Verantwortliche aus Praxis, Politik und Administration sollten parallel und umso entschiedener gemeinsam an einer Lösung arbeiten.



Ein Mittel, das im Kontext des Aufholens von Lernrückständen vielen schnell in den Sinn kam, sind freiwillige Klassenwiederholungen. So soll es Schüler*innen in diversen Bundesländern erleichtert werden, das aktuelle Schuljahr zu wiederholen. Sofern im selben Zuge das leistungsgebundene Sitzenbleiben für dieses Schuljahr abgeschafft wird, wenn also Wiederholungen absolute Ausnahme sind und nicht auf die Verweildauer angerechnet werden, ist dies kurzfristig eine durchaus sinnvolle Maßnahme. Sofern damit aber signalisiert wird, dass nun verstärkt von der Möglichkeit der Klassenwiederholung Gebrauch gemacht werden soll, hält der Vorstand der DGBV dies für den falschen Schritt: Nicht nur werden die falschen Botschaften in Richtung der Schüler*innen und ihrer Eltern gesendet, sondern es werden damit auch erhebliche Belastungen auf die Schulen zukommen. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme wollen wir begründen, warum wir die Maßnahme kritisch bewerten.

 

Regelungen
der Länder

 

Die Handhabung von Klassenwiederholungen erfolgte in den Ländern vor der Pandemie höchst unterschiedlich. Einige Bundesländer wie Hamburg haben sie weitgehend abgeschafft, wohingegen Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg sie nach wie vor als Konsequenz von Minderleistungen als reguläres Mittel einsetzen. Dabei sind Klassenwiederholungen nachweislich pädagogisch eher unwirksam, denn sie führen nicht zu einer Verbesserung der kognitiven Entwicklung der Betroffenen. Dafür sind sie teuer, denn sie verlängern die Schul-zeit für nahezu eine Viertelmillion Schüler*innen jedes Jahr.  

 

Angesichts der pandemiebedingt veränderten Lernsituation hat nun die Mehrzahl der Länder die Klassenwiederholung freiwillig gestellt und setzt dabei überwiegend auf die Willensbildung der Schüler*innen und ihrer Eltern. So kann in Berlin in diesem Schuljahr auf Antrag der Sorgeberechtigten ein Schuljahr wiederholt werden, sofern zuvor ein verpflichtendes Beratungsgespräch stattfindet. Manche Bundesländer wie Baden-Württemberg erleichtern den Schritt, indem sie eine freiwillige Wiederholung in diesem Schuljahr nicht auf die Höchstverweildauer in der jeweiligen Schulstufe anrechnen. Hamburg baut als einziges Bundesland eine zusätzliche Hürde ein, indem es die Entscheidung über die Klassenwiederholung in die Hände der Schule legt und sie an die Bedingung knüpft, dass "die Schülerin bzw. der Schüler in der nachfolgenden Jahrgangsstufe besser gefördert werden kann, als in der Jahrgangsstufe, in die er mit seiner Klassengemeinschaft/Lerngruppe aufsteigt."

 

Das falsche
Signal

 

Die Eröffnung der Möglichkeit zu freiwilliger Wiederholung kann jedoch in mehrfacher Hinsicht das falsche Signal in Richtung der Schüler*innen und ihrer Sorgeberechtigten senden, und zwar aus den folgenden Gründen:

 

1. Die Verantwortung für den Umgang mit den Folgen der Pandemie darf nicht von der Schule auf die Ebene der Familien verschoben werden. Sie sollen nun entscheiden, ob der entstandene Lernrückstand so gravierend ist, dass die Wiederholung eines Schuljahres angezeigt ist. Dabei gehen die Lernrückstände in der Pandemie weniger auf individuelles Leistungsversagen zurück, sondern überwiegend auf systemische Defizite der digitalen Unterrichtsversorgung und fehlende Konzepte zur individuellen Begleitung unter Bedingungen des Distanzlernens. Somit entledigt sich das System seiner originären Zuständigkeit, nämlich auf der Basis pädagogisch begründeter, transparenter und nachvollziehbarer Kriterien die Entscheidung über jeden Einzelfall zu treffen und die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen.

 

2. Es fehlt an klaren Konzepten, wie den Schüler*innen, die angesichts des langfristigen Aussetzens regulären Unterrichts erhebliche Lernrückstände aufweisen, auf der Basis passgenauer Förderungen der Anschluss ermöglicht werden soll. Mit der Wiederholung wird fälschlicherweise suggeriert, die Betroffenen werden den Stoff quasi "von alleine" wieder aufholen und mit denen, die im Klassenverband in die nächste Stufe aufgerückt sind, könne man weitermachen wie bisher.

 

Genau dies ist aber nicht der Fall: Die Mehrheit der Schüler*innen dürfte an der einen oder anderen Stelle von Lernrückständen und Lücken betroffen sein, womit erneut eine Zunahme der Heterogenität im Unterricht einhergeht. Vordringlich müsste daher sein, dass die Schulen sich ein differenziertes Bild über die Leistungsstände aller Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage passender diagnostischer Instrumente machen. Sofern Förderkonzepte nicht verbindlich an eine gute Diagnostik geknüpft werden, könnte es schlimmstenfalls dazu kommen, dass erst im Zusammenhang mit Abschlussprüfungen offenbar wird, wie groß die Lücken sind; damit wäre ein Scheitern zahlreicher Schüler*innen vorprogrammiert.

 

Eine differenzierte Diagnostik ist die Grundlage für eine gezielte, individualisierte Förderung, welche auf entsprechende Förderkonzepte angewiesen ist. Diese zu entwickeln darf aber nicht allein Aufgabe der Schulen sein, vielmehr bedarf es hier der Koordination und Unterstützung durch die Schuladministration. Insbesondere sollte sie einen länderübergreifenden Austausch vorhandener Materialien und Instrumente organisieren, Diagnoseinstrumente bereitstellen, zusätzliche Lernzeiten zur Verfügung stellen oder auch Schwerpunkte (im Sinne von Reduktionen) in den Lehrplänen setzen.

 

3. Genauso wie es an differenzierten Förderkonzepten fehlt, ist bislang nicht hinreichend konzeptionell unterfüttert, wie die Beratung der Wiederholungswilligen erfolgen soll. Die aktuelle Situation wird von nahezu allen Schulen als herausfordernd, wenn nicht gar überfordernd erlebt, da die Organisation von Distanz- und Hybridunterricht häufig neben der Verpflichtung steht, Schüler*innen zu ihren regulären Lernzielen und Abschlüssen zu führen. Darüber hinaus eine individuelle Beratung und Begleitung zu einer möglichen Wiederholung aufzusetzen, dürfte von den meisten Lehrkräften als weitere Zusatzaufgabe erlebt werden. Diese Beratung ist aber wichtig, denn viele Familien werden aus ganz unterschiedlichen Gründen mit dieser Entscheidung überfordert sein.

 

4. Die Möglichkeit zur freiwilligen Wiederholung blendet die schulorganisatorischen Konsequenzen weitgehend aus. Dabei dürften genau diese es am Ende sein, die das System in ernste Schwierigkeiten bringen. So sind in der Regel nicht die notwendigen schulorganisatorischen Kapazitäten vorhanden, um Schüler*innen der vorherigen Klassenstufe in großer Zahl in die darunterliegenden Jahrgänge zu integrieren – weder räumlich noch personell. Und doch wird von den Schulen erwartet, dieses Problem "irgendwie" zu lösen. Es dürfte niemanden ernsthaft verwundern, wenn sich Schulen hier – wieder einmal – allein gelassen fühlen.

 

5.  Die Folgen etwaiger Wiederholungen für das psychoemotionale Erleben der Schüler*innen werden vollends ausgeblendet. Dabei ist es gerade diese Auswirkung der Pandemie, die jetzt umso dringendere Aufmerksamkeit bräuchte. Zuletzt häuften sich Meldungen, nach denen deutlich mehr Kinder und Jugendliche von Ängsten, Depressionen und Sorgen um ihre Zukunft betroffen sind. Der Schritt der Wiederholung belastet sie zusätzlich, weil sie aus ihrem gewohnten Sozialverband herausgerissen und mit dem Gefühl des Scheiterns konfrontiert werden. Druck, Versagensgefühle und soziale Ängste dürften die Folge sein.

 

Was stattdessen
passieren sollte

 

Aus den genannten Gründen halten wir Regelversetzungen für geboten und schlagen einen Verzicht auf Klassenwiederholungen vor, um den Schüler*innen mindestens ein weiteres Schuljahr Zeit zu geben, ihre Lernrückstände im Klassenverband aufzuholen. Zudem bräuchte es:

 

o differenzierte Diagnoseinstrumente in allen Klassenstufen, die es allen Lehrkräften – unabhängig vom Einsatz im Distanz-, Hybrid- oder Präsenzunterricht – erlauben, sich ein genaues Bild über den Lernstand ihrer Schüler*innen zu verschaffen, Lernlücken zu identifizieren und Nachholbedarf zu erkennen;

 

o differenzierte Förderkonzepte für unterschiedliche Unterrichtssettings, die auf der Diagnostik aufsetzen und allen Schüler*innen die Möglichkeit geben, auf individualisierten Wegen den Anschluss wiederzufinden;

 

o umfassende Fortbildungsangebote, die die Lehrkräfte im Bereich Diagnostik und Förderung auch unter den Bedingungen des Distanz- und Hybridunterrichts unterstützen;

 

o eine Anerkennung der psychoemotionalen Folgen der Pandemie, die sich nicht auf Lernrückstände allein begrenzen, sondern Ängste, Sorgen und ein Aus-der-Bahn-geworfen-Sein nach sich ziehen, die der schulischen Aufarbeitung, Verarbeitung und Begleitung bedürfen; damit wird auch deutlich, dass weitere Professionen erforderlich sind (Schulsozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Therapeut*innen), um dieser Aufgabe gerecht zu werden.

 

Anschluss statt Ausschluss – dieser Leitgedanke sollte jetzt das Handeln von Bildungspolitik und Bildungsverwaltung prägen. Ein Abgeben von Verantwortung, wie es in freiwilligen, eltern- und schülerseitig entschiedenen Wiederholungen zum Ausdruck kommt, vermittelt – ob bewusst oder unbewusst – die genau gegenteilige Botschaft.

 

Kai Maaz, Siegfried Arnz, Martina Diedrich, Burkhard Jungkamp und

Susanne Thimet (Vorstand der DGBV).

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