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Wissenschaftsminister kritisieren Infektionsschutzgesetz

In einem gemeinsamen Brief an die Bundesregierung fordern sie Klarstellungen im Sinne der Hochschulen und erklären, wie sie bis dahin das Gesetz möglichst studierfreundlich auslegen werden.

SPÄT SIND SIE AUFGEWACHT, aber immerhin. Am Tag, nachdem Bundespräsident Steinmeier das neue Infektionsschutzgesetz unterzeichnet hat, melden sich die Landeswissenschaftsminister aller 16 Länder mit einem gemeinsamen Brandbrief bei der Bundesregierung und fordern Klarstellungen und Nachbesserungen.

 

Die Regelungen für den Hochschulbereich übertrügen "die für den Schulbereich konzipierten Regelungen, ohne die Unterschiede und Besonderheiten des Hochschulbereichs angemessen zu berücksichtigen", kritisieren die Ressortchefs in ihrem Schreiben an Gesundheitsminister Spahn und Bildungsministerin Karliczek (beide CDU), das mir vorliegt. "Hochschulseitig erreichen uns daher nunmehr zahlreiche und dringende Auslegungsfragen."

 

Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hatte bereits vor Verabschiedung des Gesetzes durch Bundestag und Bundesrat am Dienstag in ungewöhnlich heftig im Ton gegen den Wortlaut protestiert. Die "pauschale(n) und untaugliche(n) Regelungen für den Lehr- und Studienbetrieb an den Hochschulen" gefährdeten die bisherigen Leistungen der Hochschulen.

 

Die Wissenschaftsminister, zusammengebracht von der Theresia Bauer aus Baden-Württemberg (Grüne), schreiben nun: Mit den bisherigen Regelungen eines überwiegend digitalen Lehrbetriebs und ausnahmeweisen Präsenzbetriebs seien die Hochschulen in der Lage gewesen, "den Studierenden weitgehend vollwertige Semester und damit die Nutzung der verfassungsrechtlich gebotenen Lebens- und Bildungschancen zu ermöglichen". Dem verantwortungsvollen Umgang und großen Engagement der Hochschulen und der Studierenden sei es zu verdanken gewesen, dass der Studienbetrieb trotz pandemiebedingter Einschränkungen "weitgehend erfolgreich aufrechterhalten werden konnte". 

 

Minister sehen eine "eingeschränkte Studierbarkeit"
und für einige "faktisch ein Ausschluss vom Studium"

 

Doch die jetzt im Gesetz beschlossenen Regelungen zum Hochschulunterricht passten für den Hochschulbetrieb "nur eingeschränkt". Dies gelte insbesondere für den Begriff des Wechselunterrichts, für den keine Ausnahmen vorgesehen seien.

 

Und die Minister warnen: "Angesichts der fehlenden Differenzierung und fehlender Rechtssicherheit durch auslegungsbedürftige Regelungen steht eine eingeschränkte Studierbarkeit des Semesters in vielen Studiengängen zu befürchten, und zwar gerade in den auch für die Pandemiebewältigung bedeutsamen Studiengängen, etwa Medizin und Pharmazie, mit notwendigem Praxisbezug und Präsenznotwendigkeiten in der Lehre. Außerdem bedeutet ein Verbot von praktischen Ausbildungsbestandteilen zum Beispiel an den Kunst- und Musikhochschulen faktisch einen Ausschluss vom Studium."

 

In der Begründung zum Gesetz werde zwar festgehalten, dass Prüfungen der Hochschulen weiter möglich sein sollten, ebenso "Forschungstätigkeiten, Tätigkeiten in Laboren und ähnlichen Einrichtungen". Beides sei zu begrüßen – und wird von den Ministern demonstrativ so ausgelegt, "dass wie bisher auch sämtliche praktischen Ausbildungsabschnitte, z.B. mit Patientenbezug in den Kliniken, Praktika, praktische und künstlerische Ausbildungsbestandteile fallen, da diese Präsenzveranstaltungen der Hochschulen nicht mit dem Präsenzunterricht der Schulen vergleichbar sind". 

 

Auch Bibliotheken blieben vom Gesetz unberührt, betonen die Minister ihre Auffassung. Den Begriff der "Abschlussklassen", die laut Gesetz auch bei Inzidenzen von über 165 Unterricht haben dürfen, wollen sie auf "Abschlussjahrgänge, also Studierende, die unmittelbar vor dem Studienabschluss stehen", anwenden. Und obwohl die Bundesnotbremse die Sportausübung einschränkt, bekräftigen die Minister ihr Verständnis, dass das praktische Sportstudium möglich bleibe, weil es wie die übrigen praktischen Bestandteile anderer Studiengänge zu behandeln sei.

 

Zu spät die notwendigen
Worte gefunden

 

Klare Ansagen der Minister, wie sie mit einem unklaren Gesetz umgehen wollen. Ein Gesetz, das hier im Blog die Bildungsjuristin Sibylle Schwarz als "dilettantisch" formuliert kritisiert hatte.

 

Und auch wenn die Minister aus der Not heraus das Gesetz wie beschrieben auslegen wollen, wollen sie die Bundesregierung doch nicht ganz aus der Verantwortung entlassen. Und so fordern sie im Falle einer Verordnungsermächtigung die Klarstellung, Ausnahmen für den Studienbetrieb nach Landesrecht zu erlauben – "insbesondere für Tätigkeiten in Laboren und ähnlichen Einrichtungen, beispielsweise im Medizinstudium, Praktika, praktische und künstlerische Ausbildungsbestandteile, wenn diese zwingend notwendig und nicht durch Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien oder andere Fernlehrformate ersetzbar sind". 

 

Den Hochschulen wird schon die im Brief der Minister skizzierte Auslegung etwas mehr von der dringend nötigen Sicherheit geben. Die Initiatorin des Ministerbriefs, Theresa Bauer, sagt: "Auch in Pandemiezeiten muss sichergestellt sein, dass die Studierenden ihr Studium fortsetzen oder abschließen können."

 

Allerdings müssen sich die Wissenschaftspolitiker, die jetzt wie die Hochschulrektoren die richtigen Worte gefunden haben, vorwerfen lassen, warum sie es nicht schon früher – und auch öffentlich – in die Offensive gegangen sind. Als das Infektionsschutzgesetz debattiert wurde. Die HRK immerhin hat es getan. 

 

Wobei auch die Hochschulrektoren vorher über Monate zugesehen hatten, wie die Spitzenpolitik die Wissenschaft in ihren immer neuen Corona-Beschlüssen eins ums andere Mal die Hochschulen ignorierten. Erst im März war die HRK erstmals richtig laut geworden.

 

Bundesministerin Karliczek zeigte sich am Freitag laut Spiegel im Prinzip offen für die Forderungen: "Die Diskussion wird noch geführt und ich denke, da wird es noch die eine oder andere Änderung geben", sagte sie. "Sonst gibt es am Ende einen Stau und dann wird vielleicht hinterher ein Semester dran gehängt werden müssen, weil nicht genügend Laborkapazitäten da sind. Das wollen wir verhindern."

 

Der FDP-Bildungspolitiker Jens Brandenburg kommentierte auf Twitter: "Nachdem das Infektionsschutzgesetz beschlossen ist, äußern sich auch die Landeswissenschaftsminister/-innen kritisch. Die Rückendeckung hätten wir @fdp letzte Woche brauchen können, als wir das weitgehende Verbot von Praxisveranstaltungen deutlich angesprochen haben."

 

Fest steht: Wenn sie jetzt noch etwas erreichen wollen, dürfen weder Hochschulrektoren noch Wissenschaftsminister wieder leiser werden.


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Kommentare: 2
  • #1

    Edith Riedel (Sonntag, 25 April 2021 10:29)

    Wir sehen auch hier, wie bei unserer Ministerin für Bildung und Forschung so oft, kein Interesse für die Belange der Forschung, und eine sträfliche Vernachlässigung des Hochschulbereichs. Würde man von diesem Amt nicht Einsatz, nicht nur aber zumindest AUCH, für den Hochschulbereich erwarten? Ich denke da an Schavan oder auch Wanka. Die hätten gewusst, woran die Hochschulen leiden, und hätten sich eingesetzt! Es wird allerhöchste Zeit für einen Wechsel in diesem Amt. Diese Frau ist ein Armutszeugnis für den Wissenschaftsstandort Deutschland.

  • #2

    Bernadette Stolle (Mittwoch, 28 April 2021 06:40)

    Inhaltlich ist das Infektionsschutzgesetz mit Blick auf die Hochschulen eindeutig zu kritisieren, aber dieses Gesetz ist durch Bundestag und Bundesrat beschlossen worden und demnach jetzt umzusetzen. Wenn einige Hochschulen in NRW jetzt meinen, auch bei einem Inzidenzwert von Ü165 weiterhin Präsenzveranstaltungen anbieten zu können, ist dies mit dem Gesetz nicht vereinbar und damit wird letztlich auch ein Prinzip unserer parlamentarischen Demokratie missachtet. Warum soll sich ein Gastronom, dessen Restaurant seit Monaten geschlossen ist, an ein Infektionsschutzgesetz halten? Warum sollen Kulturschaffende weiterhin faktisch nicht arbeiten dürfen? Warum soll ich in Bus und Bahn eine FFP2-Maske tragen? Unter anderem doch auch, weil es in Gesetzen steht. Und eine Hochschulleitung kann sich einfach so über ein Gesetz hinwegsetzen, weil ihr das Gesetz nicht passt und weil diese Meinung durch die Landeswissenschaftsminister*innen befeuert wird, die aber Teil der Landesregierungen sind, die wiederum im Bundesrat dem Gesetz zugestimmt haben?
    Ich erwarte von Hochschulen, dass sie sich an demokratische Prinzipien halten und sich nicht selbstherrlich über ein Gesetz stellen. Wer Gesetze inhaltlich falsch findet, soll dagegen protestieren oder gerichtlich vorgehen. Eindeutige Gesetze durch staatliche Institutionen nicht umzusetzen, ist für mich ein Angriff auf die demokratische Grundstruktur und gefährdet den sowieso arg strapazierten Zusammenhalt unserer Gesellschaft.