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Warum keine Priorisierung auch eine Priorisierung ist

Berlin gibt alle Corona-Impfstoffe für alle frei. Doch könnte man schon aus der Bildungspolitik wissen: Formal gleiche Chancen bedeuten nicht, dass es gerecht zugeht.

IN BERLIN UND ANDERSWO wird die Impfpriorisierung in den Arztpraxen aufgehoben, und zwar für alle Impfstoffe. Soll heißen: Unabhängig von Alter, Vorerkrankungen oder Beruf hat jetzt jeder dasselbe (theoretische) Anrecht, sich impfen zu lassen. 

 

Das Problem: Es ist längst noch nicht genug Impfstoff da. Viele niedergelassene Ärzte berichten laut Tagesspiegel von einem Ansturm auf ihre Praxen, den die Politik ohne Vorabsprachen ausgelöst habe. Die Kassenärztliche Vereinigung warnt davor, die Impfstoffverteilung zum Wahlkampfthema zu machen. 

 

Mich persönlich erinnert die Debatte an die Bildungspolitik. Da haben offiziell auch alle die gleichen Chancen, alle Bildungswege stehen für alle gleichermaßen offen. Doch bedeutet formale Bildungsgleichheit nicht, dass wirklich alle unabhängig von ihrer Herkunft dieselben Möglichkeiten haben. Weil die heimischen Startvoraussetzungen so unterschiedlich sind.

 

Übertragen auf die Impfdebatte bedeutet das: Die Aufhebung der Priorisierung führt dazu, dass die Starken jetzt noch mehr im Vorteil sind. Jene, die von Berufswegen gewohnt sind, sich durchzusetzen. Die gut reden und argumentieren können. Im Klartext: Die besser Gebildeten, die ohnehin schon gesellschaftlich Privilegierten. 

 

Wer krank ist, erschöpft, wer sich in prekären Jobs durch den Alltag kämpft, vielleicht nebenher noch Kinder zu versorgen hat, wer keine Zeit oder Kraft hat, jetzt mit Wucht in den Arztpraxen aufzuschlagen, wird das Nachsehen haben. Keine Impfpriorisierung mehr bedeutet insofern bei knappem Impfstoff faktisch eine Priorisierung zum Nachteil jener, die ihn besonders dringend brauchen würden.

 

In Ansätzen war das natürlich schon bisher so. Anders ist es nicht zu erklären, wie hoch der Anteil gut verdienender junger Leute war, die es schafften, sich bereits impfen zu lassen – als (angeblich) betreuende Personen Pflegebedürftiger, als Kontaktpersonen Schwangerer, weil ihre Berufsverbände (Lehrer, Journalisten) besonders gute Lobbyarbeit leisteten oder einfach, weil sie Ärzte zu ihren Freunden zählen. Und das, während viele Über-60-Jährige immer noch auf einen Impftermin warteten.

 

Vielleicht sollte ausgerechnet eine linke Landesregierung über eine so grundlegende Entscheidung wie die Aufhebung der Priorisierung länger nachdenken, bevor sie sie öffentlichkeitswirksam herausbläst. Aber dafür ist es wohl schon zu spät. 


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Kommentare: 4
  • #1

    Ruth Himmelreich (Freitag, 14 Mai 2021 11:34)

    Drängeln um knappe Güter ist leider menschlich. Mit unserer versuchten Einzelfallgerechtigkeit haben wir dem Gedrängel schon viel zu sehr Vorschub geleistet. Insofern finde ich es gut, dass die Priorisierung aufgegeben wird - dann hat ein 25jähriger, dessen Mutter irgendwo einen über 70-Jährigen als "Kontaktperson" aufgetrieben hat, nämlich keine Priorität mehr. Auch ist die "chronische Krankheit" ebenfalls ein sehr dehnbarer Begriff, der zum Ausnutzen einlädt. Dass damit der Breitensport der besser Gebildeten unterbrochen wird, die es geschickter machen, als mit einem gefälschten Geburtsdatum anzurücken - gute Sache!

    Es wäre ohnehin besser gewesen, wenn man nach Geburtsjahrgängen zur Impfung eingeladen hätte. So wären diejenigen nicht benachteiligt, die keine Attestlyrik betreiben und nicht im Büro nebenher stundenlang auf Impfterminsuche gehen können.

  • #2

    Andersrum gewendet (Freitag, 14 Mai 2021 21:41)

    "Mich persönlich erinnert die Debatte an die Bildungspolitik."

    Andersrum gewendet könnte man sagen: Da eine Pandemie ein so singuläres Ereignis ist, ist es vielleicht gut, wenn jetzt schnell der verfügbare Impfstoff weggeimpft wird. Mit sinkender Inzidenz ist die Normalisierung ja schon abzusehen und die vulnerablen Personengruppen sind geimpft. Mir hat das Entsorgen von Impfstoff mehr Sorgen gemacht als der Gedanke, dass jetzt in Berlin vielleicht jemand eine Impfung erhält, der noch nicht dran wäre.

  • #3

    Django (Montag, 17 Mai 2021 11:04)

    @ Andersrum gewendet: Na dann hoffen wir mal, dass die Pandemie singulär bleibt.
    Was der Beitrag aber eigentlich sagen wollte: Der verfügbare Impfstoff, der schnell "weggeimpft" werden soll, reicht noch nicht aus, um schnell alle zu impfen. Und die, die sich jetzt erfolgreich um die Impftermine drängeln, sind nicht unbedingt, diejenigen die besonders gefährdet sind.

  • #4

    Andersrum gewendet (Dienstag, 18 Mai 2021 09:39)

    @Django: Das habe ich schon verstanden. Ich bin nur der Auffassung, dass die Impfungen jetzt an einem Punkt angekommen sind, an dem Ausschöpfung des verfügbaren Impfstoffs zielführender ist als Beibehaltung der Priorisierung, auch für die Personengruppen, die aus unterschiedlichen Gründen höher gefährdet sind. Ich lebe ebenfalls in einem linken Bundesland (dem linken Bundesland, das die Prio nicht aufheben will) und habe mich als Gesundheitsökonomin schon davor mit der Frage "guter" Rationierung von Gesundheitsgütern befasst: Die Priorisierung ist problematisch widersprüchlich. Es gibt Bemühungen, das abzufedern (z.B. durch mobile Impfungen in sozialen Brennpunkten), aber insgesamt könnte uns die Beschleunigung der Impfungen wahrscheinlich besser stellen als das Festhalten an der Priorisierung, nachdem sie jetzt bei Stufe 3 angekommen ist.