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Berlin, was machst du?

Die Hauptstadt ist inzwischen das einzige Bundesland, das vor den Sommerferien nicht mehr zur täglichen Schule für alle Kinder zurückkehren will. Die Begründung der Senatorin ist so ehrlich wie erschütternd – und sagt viel aus über die Stellung von Kindern in der Pandemie.

Und wo bleiben deine Kinder, Berlin? Foto: Sarah Lötscher / Pixabay.

JETZT BLEIBT NUR NOCH BERLIN. Alle anderen Landesregierungen haben die Rückkehr zum vollen Präsenzunterricht für alle Schüler und Klassenstufen angekündigt oder bereits umgesetzt. Die Mehrheit davon in der vergangenen Woche. 

 

Was nicht heißt, dass schon wieder überall jeden Tag Schule ist, weil in vielen Landkreisen die 7-Tages-Inzidenzen noch über den jeweils beschlossenen Grenzwerten von 50 oder 100 liegen. Was auch nichts daran ändert, dass fast alle Bundesländer lange, sehr lange gezögert haben, bis sie sich durchringen konnten, den monatelangen Ausnahmezustand für die Kinder und Jugendlichen zu beenden. 

 

Einige Bundesländer spielen noch dazu auf Zeit, indem sie die versprochene Öffnung trotz ausreichend niedriger Zahlen in den Juni hinausschieben. Oder indem sie, wie zuletzt Hamburgs Senat, zwar ankündigen, vom 31. Mai an "viele Klassen" wieder in den Präsenzunterricht zu lassen, aber bis jetzt die Antwort schuldig bleiben, was genau das für welche Schulen und Klassenstufen heißt. Womit sich angesichts einer Inzidenz in der Hansestadt von zuletzt 35 und jeder Menge Öffnungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen das Ungleichgewicht zuungunsten der Kinder und Jugendlichen womöglich fortsetzt.

 

Doch nur ein Land stemmt sich komplett gegen die Aufmach-Dynamik und beharrlich dazu: Berlin. Während es anderswo zum Teil noch um Öffnungstermine, Reihenfolge oder Grenzwerte gehen mag, sagen Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres und der Regierende Bürgermeister Michael Müller (beide SPD): Da kommt nichts mehr bis zu den Sommerferien. Und das bei einer Inzidenz von aktuell 47.

 

Der Regierende findet, ein Monat voller Unterricht
nach fünf Monaten Unterrichtsausfall lohne sich nicht

 

"Wir bleiben bei dem System, das sich jetzt auch im Schulalltag eingespielt hat", sagte Müller laut Tagesspiegel. In Berlin beginnen die Sommerferien am 24. Juni, eine Umstellung auf den vollständigen Präsenzbetrieb würde auch einige Tage dauern, weil dafür einiges zu organisieren sei, sodass nur noch drei Wochen verblieben. Deshalb sei es sinnvoll, erst nach den Ferien wieder in den Präsenzunterricht zu gehen.

 

Mit anderen Worten: Nachdem Berlins Schüler seit Dezember fünf Monate erst den Komplett-Ausfall von Präsenzunterricht und später dann bestenfalls sporadischen Wechselunterricht durchmachen mussten, befindet der Regierungschef, die Aussicht auf bis zu einen vollen Monat normales Unterrichtspensum lohne die Mühe nicht mehr. Die Mühe für wen eigentlich? 

 

Und als ob das zum Kopfschütteln noch nicht reichen würde, hat Senatorin Scheeres noch mehr zu bieten. In einer Standardantwort auf Elternbeschwerden ließ ihre Verwaltung mitteilen: Unterricht in vollen Klassen vor den Sommerferien stellt "aus unserer Sicht ein unnötiges und vermeidbares Risiko dar und würde darüber hinaus womöglich weitere Lockerungen für die Gesamtbevölkerung verringern, sollte die Inzidenz wieder steigen." >>



>> Womöglich sollte man Scheeres aber auch dankbar sein. Weil endlich mal jemand offen formuliert, was Landesregierungen anderswo nur intern diskutiert haben. 

 

Eigentlich ist es ganz einfach: Unsere Gesellschaft hat ein bestimmtes Budget an sozialen Kontakten in der Pandemie. Finden zu viele statt, steigt der so genannte R-Wert über 1, und die 7-Tages-Inzidenzen ziehen an. Insofern ist es eine politische Entscheidung, welche gesellschaftlichen Bereiche und Altersgruppen priorisiert werden, sobald das Infektionsgeschehen sinkt und Lockerungen möglich werden. Weil jede Lockerung mehr Kontakte und damit einen Verbrauch von wertvollem R-Budget bedeutet. 

 

In Berlin hält man es für öffentlichkeitstauglich, die
Ungleichbehandlung von Kindern direkt einzuräumen

 

Die von der Politik so oft behauptete Vorfahrt für Bildung, für Kinder und Jugendliche würde natürlich bedeuten, dass erstmal Kitas und Schulen das Kontaktbudget ausnutzen dürften und erst, wenn dann noch mehr geht, die Erwachsenen und die Wirtschaft dran wären.

 

Wenn man sich das klarmacht, versteht man sehr schnell, warum die Schulen trotz immer weiter sinkender Tendenzen fast überall sehr lange im Wechselunterricht bleiben mussten, obwohl in der Zwischenzeit schon alles mögliche andere öffnete: weil die Politik entgegen ihrer Rhetorik eben doch die Belange der Erwachsenen über die der Kinder und Jugendlichen gestellt hat.

 

Nur hätten die meisten Landesregierungen das nie so gesagt. Das sind allerdings auch die Landesregierungen, die mittlerweile die Kurve Richtung vollen Präsenzunterricht bekommen haben oder zumindest dabei sind. In Berlin dagegen hält man es offenbar sogar für öffentlichkeitstauglich, die Ungleichbehandlung von Kindern so direkt einzuräumen.

 

Dabei hat schon jetzt kein gesellschaftlicher Bereich abseits der Gesundheitsbranche so umfassende und meist peinlich genau beachtete Hygienemaßnahmen wie die Schulen – während am Pfingstwochenende in den Sozialen Medien immer wieder von Gastronomen berichtet wurde, die von ihren Gästen keine aktuellen Corona-Tests oder Impf-Bescheinigungen sehen wollten. Oder sogar innen Tische besetzten. 

 

Das Prinzip, dass Kinder in Pandemie zugunsten zusätzlicher Freiheiten für die Erwachsenen zurückstehen müssen, zeigte sich im Verlauf der Pandemie auch an anderer Stelle immer wieder deutlich. Stichwort Testpflicht: Kindern wurde diese aufgebürdet als Voraussetzung, zur Schule gehen zu dürfen. Erwachsene hingegen durften weiter auch ohne ins Büro oder in die Fabrik, solange ihre Firma ihnen ein "Testangebot" machte – was übrigens trotz gesetzlicher Verpflichtung ein beträchtlicher Anteil von Unternehmen erst verspätet oder teilweise bis heute gar nicht getan hat. Welch verpasste Gelegenheit im Kampf gegen Corona. Aber es ging ja um Erwachsene und ihre Rechte.

 

Die Kinder hocken zu Hause, die Erwachsenen 

feiern Fußball-Partys

 

Und dann die Debatte um Impfungen: Die Bundesregierung, allen voran Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), fordert die schnellstmögliche Impfung der Kinder und Jugendlichen und erklärt diese zu einem "Weg zu regulärem Unterricht". Doch sehen viele Kindermediziner und auch Mitglieder der Ständigen Impfkomission (Stiko) das deutlich zurückhaltender. Noch sind viel zu wenige junge Menschen in Studien auf mögliche Nebenwirkungen und Komplikationen der Impfungen untersucht worden. Umgekehrt erkranken aber nur sehr wenige Kinder und Jugendliche schwer an Covid-19.

 

Das spricht keineswegs generell gegen eine Impfung für alle jungen Menschen, also nicht nur der Risikopatienten, sehr wohl aber dagegen, schon jetzt aufs Tempo zu drücken. Woher die Eile dann kommt? Weil Experten befürchten, dass sich zu wenige Erwachsene freiwillig impfen lassen werden,  um die zum Besiegen der Pandemie nötige Herdenimmunität zu erreichen. Wodurch die Rückkehr zur "Normalität" für alle länger dauern könnte. Weshalb es auf die junge Generation ankommt. Die man über den Hebel Schule erneut besonders gut wird aktivieren können. 

 

Nur solange Kindermediziner und die Stiko keine Impf-Empfehlung für gesunde Kinder und Jugendliche aussprechen, müssen sich all jene, die sie dennoch fordern, zumindest fragen lassen, inwieweit es ihnen um die Kinder und Jugendlichen geht und inwieweit um den Fremdschutz der Erwachsenen. Und warum man dann nicht erst einmal mehr Impf-Druck auf die Erwachsenen ausübt anstatt auf die Kinder und Jugendlichen. 

 

Ein weiteres praktisches Beispiel, was es bedeutet, wenn bei Kindern und Erwachsenen in der Pandemie mit zweierlei Maß gemessen wird, hat am Wochenende – wenig verwunderlich – erneut Berlin geliefert.

 

Kurz nachdem Michael Müller den Unterricht in vollen Klassen für dieses Schuljahr ausgeschlossen hatte, feierten am Samstagabend auf dem Stadion-Parkplatz tausende Fans des FC Union dicht gedrängt und zumeist ohne Maske die Qualifikation ihres Teams für die Playoffs der Conference League. Das sei leider nicht zu vermeiden gewesen, sagte der Vereinspräsident laut B.Z. – sondern so "abgesprochen". Weil die feiernden Menschen sonst anderswo hingegangen wären. Die Berliner Polizei teilte danach mit, der Einsatz sei "sehr entspannt gelaufen".


Fallende Zahlen, steigende Anteile

Was sich aus den neuen Corona-Zahlen für Kinder und Jugendliche herauslesen lässt

Die gesamtgesellschaftlichen Corona-Zahlen fallen rasant, und was ist mit den Kindern? Die RKI-Statistik der vergangenen Kalenderwoche lässt zwei unterschiedliche Lesarten zu.

 

Die erste: Das beobachtete Infektionsgeschehen verschiebt sich immer stärker in Richtung der Kinder und Jugendlichen. Zwischen dem 17. und 23. Mai machten die gemeldeten Neuinfektionen unter den 0- bis 14-Jährigen bereits 18,0 Prozent aller hinzugekommenen Corona-Fälle aus. Die Zahlen sind noch vorläufig, es wird noch Nachmeldungen geben, doch der Trend ist eindeutig:  Vor acht Wochen betrug der Anteil der Kinder und Jugendliche 15,1 Prozent, vor vier Wochen lag er bei 15,7 Prozent. Und jetzt sind es also noch einmal rund 2,3 Prozentpunkte mehr. 

 

Die zweite Lesart: Die Corona-Zahlen bei den 0- bis 14-Jährigen fallen ebenfalls kräftig. In der Kalenderwoche 16 registrierte das RKI in dieser Altersgruppe 22.763 Neuinfektionen. In Kalenderwoche 18 waren es 15.857, und in der vergangenen, der Kalenderwoche 20, 9.356. Ein Minus um fast 60 Prozent innerhalb eines Monats.

 

Doch was bedeutet das? Die Antwort: ebenfalls mindestens zweierlei. Erstens: Die zunehmende Impfquote unter den Erwachsenen wirkt sich immer deutlicher aus. So ging der Anteil der

Über-60-Jährigen an allen Neuinfektionen innerhalb von acht Wochen von 17,3 auf nur noch
14,3 Prozent zurück.

 

Und inzwischen tragen offenbar auch die zunehmenden Impfungen in den jüngeren Altersgruppen erste Früchte. So stellten die 30- bis 59-Jährigen vor acht Wochen noch 47,4 Prozent aller Fälle. Zuletzt lag ihr Anteil noch bei 44,9 Prozent. Woraus zwangsläufig folgt, dass sich relativ gesehen immer mehr umgeimpfte Junge infizieren.

 

Zweitens: Die schon vergangenes Jahr häufig gemachte Beobachtung, dass das Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen und damit auch in den Schulen dem in der Gesamtgesellschaft folgt, zeigt sich erneut. Obwohl sie nicht geimpft sind, stecken sie sich – mit Verzögerung – ebenfalls weniger häufig an. Die 7-Tages-Inzidenzen sinken auch bei den 0- bis 14-Jährigen merklich und ganz offenbar unabhängig davon, wie offen die Bildungseinrichtungen sind.

 

Beispiel Schleswig-Holstein, das Land mit dem bundesweit niedrigsten Infektionsgeschehen: Dort befinden sich seit Wochen die meisten Schüler im vollen Präsenzunterricht. In der vergangenen Woche gab es im ganzen Bundesland 195 neue Corona-Fälle bei 0- bis 14-Jährigen. Vier Wochen zuvor waren es noch 431.




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Kommentare: 7
  • #1

    Mutter (Dienstag, 25 Mai 2021 08:58)

    Sehr gelungene Zusammenfassung, besser und verstörender hätte man die aktuelle Situation nicht zusammen fassen können. Und wenn Eltern darauf hinweisen ( https://www.openpetition.de/petition/online/100-schule-bei-niedriger-inzidenz), werden sie als „laute“ Eltern verunglimpft.

  • #2

    Mama (Dienstag, 25 Mai 2021 13:29)

    Das ist leider bei den vielen u schweren Entscheidungen in der Pandemie, eine der erschütternsten!!! Und endlich ein Artikel, der diesbezüglich kein Blatt vor d Mund nimmt!

  • #3

    Django (Dienstag, 25 Mai 2021 14:48)

    Man sollte sich das merken, für die bevorstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Das Problem nur, dass zumindest ich sehe: Diejenigen Parteien, die in Berlin derzeit in der Opposition sind, möchte ich auch nicht im Senat sehen. Je nachdem, um wen es geht, aus unterschiedlichen Gründen.

  • #4

    Jannik (Dienstag, 25 Mai 2021 15:42)

    Ich schätze Ihren Blog und Artikel sehr und ihre häufig sehr fundierte Berichterstattung bringt mich zum Nachdenken. So haben sie schon sehr früh in der Pandemie haben darauf hingewiesen, dass Meinungsmache bei Schulen als Gefahrensherde gemacht wird. Das zog sich durch die gesamte Gesellschaft und Medienberichterstattung, sodass ich das auch in meinem privaten Umfeld gemerkt habe. Dabei ist mir aufgefallen, wie schwer es ist sich ein vernünftiges Gesamtbild zu machen. So wird auf anderen Schulplattformen mit recht hoher Reichweite teils komplett widersprüchliche Meinungen publiziert (https://www.news4teachers.de/2021/05/nach-corona-mit-diesen-kultusministern-ist-kein-staat-mehr-zu-machen/), wodurch m.E. die allgemeine Verunsicherung nur steigt. Vielleicht können Sie sich das einmal genauer anschauen? Ich wäre auf Ihre Einschätzung gespannt

  • #5

    Vater von 4 Kindern (Dienstag, 25 Mai 2021 20:59)

    Danke! Leider will das immer noch keiner hören. Hauptsache, wir können zum Friseur, Shoppen und in den Biergarten!

  • #6

    Holger Impekoven (Mittwoch, 26 Mai 2021 09:58)

    Vielen Dank, lieber Herr Wiarda, dass Sie immer wieder den Finger in die Wunde legen und öffentlich darauf aufmerksam machen, wie sehr wir inzwischen gesellschaftlich in eine Schieflage geraten sind! Als Vater von drei schulpflichtigen Kindern kann ich Ihren Analysen nur zustimmen und teile Ihre Enttäuschung. Es bedarf in diesem Lande einer ehrlich-kritischen Diskussion über Generationengerechtigkeit, die die Frage zu stellen wagt, ob denn die Teile der Gesellschaft, zu deren Schutz Kinder (und deren Familien) nun 14 Monate lang massive Einschränkungen (die längste Zeit bereitwillig) in Kauf genommen haben, im gleichen Maße bereit sind, umgekehrt Verantwortung für die Jüngsten zu übernehmen - auch über "Corona" hinaus (Stichwort: Klima).
    Nur, wer stößt diese Debatte an und treibt sie voran? Kinder und Familien haben, so mein Eindruck, in unserer Gesellschaft keine Lobby. Und die Eltern über all dies leider auch keine Zeit - sie sitzen nämlich im home schooling.

  • #7

    René Krempkow (Donnerstag, 27 Mai 2021 09:39)

    Vielen Dank auch von mir, lieber Herr Wiarda, dass Sie die Situation auf den Punkt bringen. "Brot und (Fußball-)Spiele" statt "Priorität für Kinder" lautet offenbar eigentliche Devise der regierenden Politik - besonders in Berlin.

    Aber welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen, um an der Situation etwas zu verändern? Klagen bis zum Bundesvefassungsgericht wegen Nichtgewährleistens der Mindeststunden des Pflichtschulangebotes bzw. nicht erfolgter Güterabwägung bzgl. des Grundrechtes auf Bildung der Kinder sind die eine Möglichkeit, ziehen allerdings oft über Jahre.

    Eine andere Möglichkeit wäre, die Ursache der Nichtberücksichtigung der Kinder- und Familieninteressen seitens der Politik durch ein stellvertretendes Wahlrecht von Eltern für ihre Kinder künftig zu vermeiden.
    Evtl. könnten Sie ja hier im Blog einmal über entspr. Initiativen zur Wahlrechtsreform berichten, oder über Antworten zu entspr. "Wahlprüfstein"-Fragen an die Parteien, wie sie von vielerlei Gruppierungen derzeit an diese gerichtet werden?