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Falsch verbunden

Es ist unethisch, die schnellstmögliche Corona-Impfung möglichst aller Kinder voranzutreiben, solange die Risiken nicht ausreichend ergründet sind. Bis dahin dürfen Impfung und das Recht auf Präsenzunterricht nicht miteinander verknüpft werden.

DIE RUFE, möglichst alle Schüler zu impfen, damit sie im neuen Schuljahr vollen Präsenzunterricht haben können, werden vor dem morgigen Impfgipfel immer lauter und prominenter. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission bremst derweil und sagt, erstmal müsse genau geklärt sein, wie dringend die Kinder die Impfung tatsächlich bräuchten zu ihrem eigenen Gesundheitsschutz. Andere Argumente wie die Öffnung der Schulen im neuen Schuljahr, die Teilhabe am Leben oder an den Urlauben der Eltern seien im Vergleich dazu sekundäre Argumente, schließlich würden da »keine Bonbons verteilt«, sagte StiKo-Vorsitzender Thomas Mertens im Deutschlandfunk.

 

Medizinisch gesehen hat Mertens Recht: Kinder und Jugendliche werden sehr selten ernsthaft krank. Wodurch mögliche Nebenwirkungen der Impfungen bei Kindern ohne Vorerkrankung schwerer wiegen als bei Erwachsenen oder bei Risikogruppen.

 

Gesellschaftlich bedenklich aber finde ich, dass in der öffentlichen Debatte die Impfung der Kinder vielfach zur Voraussetzung für ihre Rückkehr zur vollen Teilhabe mutiert. Zumindest implizit. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der besonders vehement für eine große Impfkampagne für Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Sommerferien eintritt, wiederholte laut Spiegel zuletzt zwar mehrfach, dass er nicht sehe, "dass wir eine verpflichtende Impfung haben werden für den Schulbesuch".

 

Doch schon die von vielen Politikern so intensiv betriebene rhetorische Verknüpfung mit dem täglichen Schulbesuch erhöht den sozialen Druck auf Kinder und Eltern enorm und erzeugt den Eindruck, das eine bedinge das andere.

 

Aber warum ist das eigentlich so? Woher kommt die Eile? Geht es am Ende vor allem um die schnellere Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Impfquote wegen der absehbar großen Zahl erwachsener Impfverweigerer? Werden Kinder deshalb über den Hebel Schule und Teilhabe zum Impfen gedrängt, noch bevor die Nutzen-Risiko-Analyse für sie selbst abgeschlossen ist? Eine Impfung mit teilweise noch unbekanntem Risiko, die noch dazu weniger dem Eigen- als dem Fremdschutz dient – und von der am Ende gerade auch diejenigen Erwachsenen profitieren, die für sich selbst eine Impfung ablehnen? Und wenn ja, wollen wir das als Gesellschaft wirklich akzeptieren? Die Kinder- und Jugendärzte jedenfalls akzeptieren es nicht und fordern, dass die Rückgabe von Grundrechten bei Kindern nicht an die drei Gs – "geimpft, genesen, getestet" gekoppelt wird.

 

Und das gilt übrigens ganz unabhängig davon, ob infizierte Kinder, wie Charité-Chefvirologe Christian Drosten bekräftigt, in etwa genauso viel Viruslast tragen wie Erwachsene oder nicht. Denn die Erwachsenen können sich, Stichwort Impfung, selbst schützen. Lassen wir ihnen dafür doch den Impfstoff.

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meinem Newsletter.



Nachtrag am 28. Mai:

 

Der Impfgipfel endete aus Sicht der Länder mit einer Enttäuschung – und mit Streit. In Sachen Verknüpfung von Impfung und Teilhabe der Kinder gab es dafür eine eindeutige Ansage.

 

Zwar einigten sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten, dass vom 7. Juni an, parallel zur bundesweiten Aufhebung der Impfpriorisierung, auch Kinder zwischen 12 und 16 eine Corona-Impfung erhalten können, wenn die EU bis dahin die Freigabe erteilt. Doch die angeblich versprochenen zusätzlichen Impfkontingente für die Kinder und Jugendlichen gab es nicht.

 

Dafür stellte Angela Merkel (CDU) im Anschluss an den Gipfel klar: eine Verknüpfung zwischen Impfung und Präsenzunterricht werde es nicht geben. Die Impfungen seien vollkommen freiwillig. "Ein sicherer Schulbetrieb wird auch in Zukunft völlig unabhängig von der Frage sein, ob ein Kind geimpft ist oder ein Kind nicht geimpft ist." Das gelte auch für die 12 bis 18-Jährigen. Für den Urlaub gelte im Übrigen dasselbe: "Sowohl im europäischen Ausland als auch in Deutschland kann man, wenn man nicht geimpft ist, Urlaub machen, weil Testungen als Voraussetzung für die Urlaubsangebote natürlich vollkommen ausreichen werden."

 

Ob und wann die Ständige Impfkommission eine generelle Empfehlung zur Impfung von Kindern ausspricht, ist weiter unklar. Stiko-Mitglied Martin Terhardt sagte im Bayerischen Rundfunk: "Wir sind ein unabhängiges wissenschaftliches Gremium, wir haben eine Satzung und eine Geschäftsordnung, die uns einer bestimmten Methodik verpflichten." Man werde entscheiden wie immer: nach wissenschaftlichen Kriterien und nicht nach politischen – und "uns auch nicht auf irgendeinen Druck beeinflussen lassen".

 

Alles in allem sind das sehr gute Nachrichten: Kinder und Jugendliche ab 12 erhalten demnächst (zumindest theoretisch, solange der Impfstoff knapp ist) die Möglichkeit zur Impfung. Die Politik stellt klar, dass Impfung und Teilhabe von Kindern nicht verknüpft werden. Und die StiKo lässt sich nicht zu einer Entscheidung über eine generelle Empfehlung treiben.

 

Der soziale Druck, der bereits auf Eltern erzeugt wurde, geht dadurch natürlich nicht weg. Hoffentlich führt diese unschöne Episode insofern nicht zu Abwehrreaktionen, falls die StiKo ihre Schaden-Nutzen-Analyse der Impfung von Kindern mit dem Votum abschließt, dass Kinder doch generell geimpft werden sollten. Auch müssten bis dahin dann natürlich auch einmal die nötigen Impfdosen vorliegen. 


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