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"Die Kitas und Schulen haben viel geleistet"

Die Integration geflüchteter Kinder und Jugendliche in Deutschlands Bildungssystem hat nach 2015 besser geklappt, als viele es befürchtet haben, sagt Jutta von Maurice vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe. Doch was wird nach der Schule aus ihnen?

Jutta von Maurice ist Leiterin des Zentrums für Studienmanagement des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe. Foto: LIfBi.

Frau von Maurice, als Projektleiterin haben Sie gerade die Geflüchtetenstudie "ReGES – Refugees in the German Educational System" abgeschlossen. Hat sich das Thema damit wissenschaftlich erledigt?

 

Natürlich nicht. Wir wissen heute deutlich mehr über die Situation von Geflüchteten im Bildungssystem, aber bei Bildung handelt es sich ja nicht um ein punktuelles Ereignis. Und so wie Integration ein fortlaufender Prozess ist, muss ihre wissenschaftliche Begleitung von Dauer sein. Auch gesellschaftlich hat sich das Thema nicht erledigt. 

 

Machen wir es konkret: Von 2015 bis 2020 sind nach offiziellen Angaben knapp 700.000 Kinder und Jugendliche nach Deutschland geflüchtet, meist ohne jede Deutschkenntnisse. Wie geht es ihnen heute? 

 

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben nach 2015 schnell reagiert und Fördermittel bereitgestellt, damit die Situation Geflüchteter wissenschaftlich in den Blick genommen werden konnte. Das hat wunderbar funktioniert und ist nicht selbstverständlich. Seitdem gab es größere und kleinere Studien, quantitative und qualitative. Wir wissen, dass die Kinder und Jugendlichen insgesamt gut in den Kitas und Schulen angekommen und betreut worden sind. Besser übrigens, als viele erwartet haben. Was wir noch so gut wie gar nicht erforscht haben: was ihnen die erworbene Bildung im weiteren Leben und auf dem Arbeitsmarkt bringt.

 

Die Integration lief also besser als erwartet?

 

Es ist jedenfalls so, dass das Bildungssystem an dieser Stelle viel geleistet hat, weshalb ich mich auch nicht an dem üblichen Bashing beteiligen werde. Die Kitas und Schulen haben sich einer Riesenherausforderung gestellt. Ja, die Kita-Besuchsquote liegt unter Geflüchteten immer noch niedriger als in der Gesamtbevölkerung. Aber sie liegt bei 80 Prozent und nicht bei den fünf Prozent, die einige noch 2015 erwartet hatten. Ja, die Zuweisung der Kinder zu den Schulen lief teilweise mit Verzögerung, aber sie lief, und wir konnten feststellen, dass der Rechtsstatus der Kinder keinen Einfluss auf die Zuweisung zu einer Schulform hatte. Und was mich besonders freut: Die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen und ihrer Eltern liegt in etwa auf dem Niveau der deutschen Mehrheitsbevölkerung.

 

Und was sorgt Sie an den Ergebnissen?

 

Die Bildungskarrieren vieler Kinder und Jugendlicher waren im Schnitt deutlich länger als ein Jahr unterbrochen. Zugleich wurden sie häufig in Klassen eingeschult, in denen ihre Mitschülerinnen und Mitschüler deutlich jünger waren. Ich frage mich, was das mit den jungen Leuten macht, wenn sie kaum Gleichaltrige kennenlernen, weil die womöglich schon in Ausbildung sind und ihr eigenes Geld verdienen – was den Geflüchteten wiederum bewusst ist. 


Die Bildungskarrieren von 4800 geflüchteten Kindern und Jugendlichen haben die ReGES-Forscher:innen zwischen 2018 und 2020 in insgesamt sieben Befragungsrunden begleitet und auch die Eltern einbezogen. Es handelt sich je zur Hälfte um Kitakinder oder um Jugendliche zwischen 14 und 16. Sie wachsen nach im Schnitt fast einjähriger Flucht in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Bayern auf.

 

Fast Dreiviertel von ihnen stammten aus Syrien, die übrigen zumeist aus dem Irak und aus Afghanistan. 17 Prozent der in die Studie aufgenommenen Eltern verfügten selbst über keinerlei Schulbildung und 34 Prozent nur über eine Grundschulbildung. 

 

Erfreulich und für die Forscher überraschend: Die Kitabesuchsquote lag zum ersten Erhebungszeitpunkt bei 79 Prozent – gegenüber 94 Prozent bei sonstigen Einwandererkindern und 98 Prozent bei Menschen ohne Migrationshintergrund. 

 

Als Gründe für den Nicht-Kitabesuch gaben fast zwei Drittel der betroffenen Eltern an, sie hätten für ihr Kind keinen Platz bekommen. Allerdings nannten immerhin auch acht Prozent religiöse oder kulturelle Werte als Grund, sechs Prozent fürchteten eine Ausgrenzung ihrer Kinder. 

 

Die 14- bis 16-Jährigen berichteten bereits 2018 überwiegend von guten bis sehr guten Deutschkenntnissen, wobei die Einschätzung je nach eingeschätzter Situation variierte. Begrüßungen oder Essenbestellen gingen demzufolge am besten, Fernsehen immer 

noch mehrheitlich gut, doch nur 19 Prozent konnten  anspruchsvolle Texte lesen, 15 Prozent anspruchsvolle Texte schreiben. 

 

Die Befragungen wurden später wiederholt, hier liegen die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht vor.

 

Wie stark die objektiven Kompetenzen den subjektiv berichteten entsprechen, ist allerdings fraglich. Im Juli sollen die Ergebnisse der ersten Kompetenztestung wissenschaftlich publiziert werden, sie stammen von 2018. Eine zweite Testrunde fand 2020 statt. Es zeige sich aber bereits, "dass Selbsteinschätzung und getestete Kompetenzen zwar positiv miteinander zusammenhängen, aber nicht so stark, dass eine Selbsteinschätzung eine objektive Kompetenztestung ersetzen könnte".

 

Das Besorgniserregende: Fast zwei Drittel der Kitakinder und der Jugendlichen befanden sich schon zum ersten Befragungszeitpunkt 2018 in keiner Deutsch-Sprachförderung mehr. "Bei Kindern, die in keine Kita gingen, konnten sogar nur sieben Prozent von Deutschförderung profitieren", berichtet das ReGES-Team.

 

55 Prozent der Eltern und 89 Prozent der Jugendlichen gaben an, dass sie täglich, mehrmals pro Woche oder wöchentlich Kontakt mit Deutschen hätten. "Umgekehrt", schreiben die Forscherinnen, "bedeutet dies aber auch, dass ein substantieller Anteil wenig Kontakt zu Deutschen hat." 14 Prozent der befragten Eltern und gut drei Prozent der Jugendlichen hatten nach eigener Auskunft gar keinen Kontakt zu Deutschen.



Sie fürchten die emotionalen Folgen?

 

Die Aspirationen unter den geflüchteten Kindern und Jugendlichen sind groß. 70 Prozent von ihnen wollen Abitur machen. Bestehen langfristig adäquate Förderangebote, damit sie auch die akademische Sprache erlernen? Gibt es ausreichend emotionale Begleitung neben der Schule? Wir müssen uns immer vor Augen halten: Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling. Wir tun oft so, als handle es sich um eine homogene Gruppe, dabei unterscheiden sich die Geflüchteten enorm in Hinblick auf ihre Herkunftsländer, die sozialen Schichten, ihre Bildungsziele und ihre Lebensgeschichte. Wir haben die vielen, die Abitur machen wollen, die intensive Kontakte zu Deutschen pflegen. Wir haben aber auch die zehn Prozent der geflüchteten Jugendlichen, die selten Kontakt zu Deutschen haben. Unter den Eltern ist das sogar ein Drittel.

 

Die Aspirationen sind das eine. Was wird aus den Kindern und Jugendlichen nach der Schule?

 

Genau da liegt die von mir bereits erwähnte Lücke. Bildung dient vor allem dazu, Kinder und Jugendliche zur Teilnahme am sozialen Leben und am Arbeitsmarkt zu befähigen, sie in die Lage zu versetzen, die Gesellschaft mitzugestalten. Wir sprechen an der Stelle von der Rendite von Bildung, in einem umfassenden, nicht nur in einem ökonomischen Sinn. Und über diese langfristige Bildungsrendite für geflüchtete Kinder und Jugendliche wissen wir bislang fast nichts.

 

Das Interesse an Geflüchteten hat in der Coronakrise stark nachgelassen. Eine zu erwartende Normalisierung oder ein Problem?

 

Ich weiß gar nicht, ob das öffentliche Interesse stärker wegen Corona nachgelassen hat oder wegen der gesunkenen Zuzugszahlen. Fest steht: Die Jugendliche sind jetzt ja da. Und auch wenn im Augenblick alle über Corona reden: Die Pandemie wird irgendwann verschwinden, zumindest ich hoffe das, doch die nächste Fluchtbewegung kommt bestimmt.

 

Und was ist mit den Folgen der Coronakrise für geflüchtete Kinder und Jugendliche?

 

Dazu liegen noch gar keine Forschungsergebnisse vor. Was ich aber sagen kann: Für den Spracherwerb ist der Kontakt zur deutschen Sprache hochrelevant. Fernsehen und Internet leisten da zwar einen Beitrag, der Kontakt zu Gleichaltrigen ist aber von überragender Wichtigkeit. Weil der durch Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen stark verringert war, ist absehbar, dass auch der Spracherwerb und die weitere Integration verzögert worden sind. 

 

ReGES entstand am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, das das Nationale Bildungspanel betreut. Über das Bildungspanel werden tausende Menschen über ihr ganzes Leben hinweg begleitet. Gilt das auch für die Geflüchteten jetzt?

 

Das BMBF hat uns in einer Projektförderung ermöglicht, dass wir die Teilnehmenden unserer Studie weiter begleiten können, nicht mehr wie bislang jedes halbe Jahr, aber langfristig. Wir werden also verfolgen können, wie sie in unserer Gesellschaft klarkommen und ob die Übergänge in die Zeit nach der Schule und in den Beruf gelingen. Was mich besonders freut: dass die Geflüchteten uns Forschende in ihr Leben hineingelassen haben; dass sie uns Einblicke geben in ihr privates Leben. Diese Offenheit ist nicht selbstverständlich. Vor allem aber ist sie sehr ermutigend.  

 

Dieses Interview erschien in gekürzter Fassung zuerst in meinem Newsletter.

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