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Damit aus Unsicherheit nicht Ungleichheit wird

Die Schule ist vorbei, doch wie geht es weiter? Was braucht der Abi-Jahrgang 2021, um Orientierung in der Krise zu finden? Und was können Schulen, Hochschulen, Wissenschaft und Politik schon heute für die Schulabgänger von morgen tun? Ein Gastbeitrag von Annabell Daniel und Jan Scharf.

Foto: Lukas Moos / Pixabay.

IN DIESEN TAGEN halten viele junge Erwachsene endlich ihr Abiturzeugnis in den Händen. Hinter ihnen liegen pandemiebedingte Einschränkungen, die sich nun als neue Unsicherheiten auf ihre Bildungsentscheidungen nach der Schulzeit auswirken könnten. Denn das Abitur gilt als vielfältige Eintrittskarte – sowohl für ein Studium als auch für prestigeträchtige Ausbildungsplätze.

 

Aus der Bildungsforschung ist bekannt, dass Studienberechtigte diese Eintrittskarte sozial selektiv einlösen. Kommen sie aus nichtakademischen Elternhäusern, fallen die Kosten für ein Studium schwerer ins Gewicht. Und selbst bei vergleichbaren Abiturdurchschnittsnoten trauen sie sich seltener zu, die Studienanforderungen bewältigen zu können. Zusätzlich wird der Wert eines Studiums höher eingeschätzt, wenn schon die Eltern studiert haben. In der Folge schreiben sich Akademiker*innenkinder häufiger für ein Studium ein als andere Studienberechtigte. Die Pandemie könnte nun diese gesellschaftlichen Ungleichheiten verstärken.

 

Unsichere Studienfinanzierung

 

Zwar werden in Deutschland keine Studiengebühren erhoben, die Wohn- und Lebenskosten müssen aber dennoch aufgebracht werden. Gegenüber Auszubildenden im dualen System, die ab dem ersten Lehrjahr mit einem festen Gehalt rechnen dürfen, können zum Beispiel Studierende nur auf die finanzielle Unterstützung durch das BAföG und ihre Familie hoffen.

 

Doch gerade nichtakademische Haushalte dürften von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie besonders betroffen sein: Entlassungen oder Verdienstausfälle durch Kurzarbeit schränken die finanziellen Ressourcen der Familien erheblich ein. Die Studienaufnahme des Kindes könnte zu einer zusätzlichen Belastung werden. Ein weiteres Digitalsemester, das jedoch täglich unwahrscheinlicher wird, hätte es ihnen – ungeachtet vieler Nachteile – zwar ermöglicht, zu Hause wohnen zu bleiben, "auf Distanz" zu studieren und Umzugs- und Mietkosten zumindest im ersten Semester einzusparen. Doch wie sollen die Mittel aufgebracht werden, wenn die Präsenz am Studienort absehbar wieder Alltag wird?

 

Unsichere Erfolgsaussichten

 

Darüber hinaus weisen internationale Studien schon jetzt darauf hin, dass die Lernrückstände infolge der Schulschließungen bei Schüler*innen aus sozial weniger begünstigten Familien größer sind als bei ihren sozial begünstigteren Mitschüler*innen. Das kann sich (noch stärker als bislang) in ungleichen Abiturnoten niederschlagen. Ein schlechteres Abschneiden im Abitur verwehrt wiederum aufgrund des Numerus Clausus nicht nur den Zugang zu bestimmten Studienfächern, sondern lässt den Studienerfolg insgesamt ungewiss erscheinen.

 

Neben der Unsicherheit, ob sie ein Studium überhaupt meistern können, dürften sich einige auch sorgen, wie sie ihr Studium organisieren und sozialen Anschluss finden sollen. Die Erfahrungen während des Distanzunterrichts haben Studieninteressierten einen Vorgeschmack darauf gegeben, wieviel Selbstdisziplin es erfordert, um im Hochschulalltag bestehen zu können. Die sozialen Unterstützungsressourcen scheinen nach dem Übergang ins Studium jedoch erst einmal knapper zu werden.

 

Auch wenn zunehmend wieder Präsenzveranstaltungen stattfinden, werden die geltenden Hygieneregeln es doch schwer machen, neue Kontakte zu schließen. Im digitalen Schulunterricht bestanden die sozialen Kontakte zwar monatelang nur noch als Kacheln auf dem Bildschirm, aber man kannte die Personen dahinter aus vielen gemeinsamen Jahren. Doch viele Erstsemester dürften, auch wenn sie sich zunehmend wieder auf dem Campus begegnen, einander erst einmal fremd bleiben. Studienanfänger*innen akademischer Herkunft könnten dies möglicherweise besser kompensieren, denn sie finden in ihren Eltern Ansprechpersonen, die selbst Studienerfahrungen haben und mit den Gepflogenheiten an der Universität vertraut sind.

 

Unsicherer Nutzen

 

Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach dem konkreten Nutzen eines Hochschulabschlusses. Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern sind, was das angeht, häufig auf zusätzliche Informationen angewiesen. Insbesondere dann, wenn es im direkten familiären und sozialräumlichen Umfeld keine Rollenvorbilder mit Hochschulerfahrung gibt, zählen die Kontakte aus Schule und Freundeskreis umso mehr. Aber eben diese Kontakte waren zuletzt beschränkt. Gemeinsam mit den Schulschließungen erschwerten sie den Austausch mit den Mitschüler*innen und die Beratung durch Lehrkräfte.

 

Hinzu kommt, dass Angebote zur Studienorientierung seit Beginn der Pandemie zu großen Teilen entfallen sein dürften. Außerdem war und ist es für alle Abiturient*innen durch die eingeschränkte Mobilität und die neue Stille auf dem Uni-Campus schwieriger, sich ein Bild vor Ort zu machen oder gar Beratungsgespräche in Anspruch zu nehmen. Die diesjährige Entscheidungsfindung, ob, und wenn ja welches Studium eine interessante Wahl wäre, wird von gänzlich neuen Unsicherheiten begleitet.



Vielleicht begünstigt das aktuell geringere Angebot an Ausbildungsplätzen die Entscheidung zugunsten eines Studiums. Dennoch könnten die beschriebenen Szenarien mit stärkeren sozialen Ungleichheiten einhergehen. Wie also auf solche Unsicherheiten reagieren, die sich letztlich auf die Gesellschaft auswirken?

 

Schule und Hochschule sollten die aktuellen Jahrgänge in der Oberstufe – also die künftigen Studienberechtigten – jetzt gezielt und gemeinsam unterstützen. Für die Schulen bedeutet dies, dass sie die Schüler*innen nicht nur fachlich qualifizieren, sondern auch deren Selbstlernkompetenzen weiter stärken müssen, damit sie sich später im Studium und in der Ausbildung bewähren können. Hinzu kommt, dass Beratungsangebote sowie Maßnahmen zur Studien- und Berufsorientierung nicht in Vergessenheit geraten dürfen, schließlich ist die Entscheidung über den weiteren Werdegang ein wichtiges Entwicklungsziel für junge Erwachsene. Wenngleich derzeit vielfältige Herausforderungen zu bewältigen sind, wissen Lehrkräfte oftmals sehr genau, welche Schüler*innen in ihren Familien weniger Unterstützung finden und für wen weiterführende Informationen sowie Gesprächsangebote hilfreich sein könnten. Hochschulen könnten mithilfe digitaler Angebote auch überregional die Zusammenarbeit mit den Schulen stärken. Durch Online-Vorträge zu den Anforderungen und Zukunftschancen der vielfältigen Studiengänge oder durch die Öffnung von Lehrveranstaltungen für Studieninteressierte können sie Einblicke in den Hochschulalltag ermöglichen, um Unsicherheiten zu verringern.

 

Die Wissenschaft sollte zeitnah gesichertes Wissen über die Folgen der Pandemie für nachschulische Bildungs- und Berufsentscheidungen bereitstellen. Ob und inwieweit die neuen Unsicherheiten den Hochschulzugang erschweren und inwiefern sich dadurch soziale Ungleichheiten vergrößern, sind Fragen, für die es perspektivisch wissenschaftlich fundierte Antworten braucht. Erst wenn wir mehr über die derzeitigen Mechanismen und Motive sozial selektiver Entscheidungen wissen, können gezielt Interventionsmaßnahmen entwickelt werden. Schließlich werden die Pandemie und damit begonnene gesellschaftliche Veränderungen nicht nur die aktuellen, sondern auch zukünftige Jahrgänge in ihrem Entscheidungsverhalten prägen. Das macht neue Strategien zum Abbau von Bildungsungleichheiten erforderlich. 

 

Die Politik sollte langfristig mehr in Bildung und Beratung investieren. Erste Ideen wären: Schulen brauchen Unterstützung, zum Beispiel durch zusätzliche Studien- und Berufswahlberater*innen sowie Sozialpädagog*innen, die gemeinsam mit den Lehrkräften in multiprofessionellen Teams zusammenarbeiten. Die Vernetzung mit außerschulischen Partner*innen kann verbessert und entsprechend gesteuert werden. Erhebungen an Schulen, etwa zu den Leistungsständen oder den Studienwahlmotiven, sollten ausdrücklich unterstützt werden, um belastbares Wissen zu schaffen. Für all das kann das Corona-Aufholprogramm einen Einstieg bieten. Allerdings ist es auf nur zwei Jahre befristet, danach sollten die Maßnahmen aber weitergehen. Und schließlich sollten auch die aktuell noch vorübergehenden finanziellen Leistungen für Studierende, die pandemiebedingt auf Unterstützung angewiesen sind, nachhaltig in einer grundlegenden BAföG-Reform verankert werden. 

 

Kann so vermieden werden, dass aus Unsicherheit Ungleichheit wird? In jedem Fall besteht jetzt die Chance, künftige Schulabgänger*innen aktiv zu begleiten und auch beim Ankommen in Hochschule und Studium zu unterstützen. Für eine gerechtere Zukunft wäre das ein Anfang.

 

Annabell Daniel und Jan Scharf sind Bildungsforscher*innen in der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens" am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Fellows am College of Interdiscplinary Educational Research (CIDER).

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