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"Das einzige Licht am Ende des Tunnels"

Wie muss sich das Wissenschaftssystem verändern, um nach Corona agiler und resilienter zu werden? Ein Gespräch zwischen dem Informatiker Johannes Schöning und dem Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Georg Schütte, über Redundanzen und thematische Bazookas, die Handlungslogiken von Forschern und Politikern und einen neuen Führungsstil in der Wissenschaft.

Georg Schütte (links) und Johannes Schöning. Fotos: Ludwig Schöpfer für VolkswagenStiftung.

Herr Schöning, Sie sind Informatiker an der Universität Bremen. Wie hat die Corona-Krise Ihre Arbeit getroffen?

 

Johannes Schöning: Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit der Entwicklung, Implementierung und Evaluierung von neuartigen Benutzerschnittstellen. Da der Mensch bei uns in der Mensch-Technik-Interaktion im Mittelpunkt steht, bedeutete es gerade für unsere Promovierenden und Studierenden einen tiefen Einschnitt, dass wir seit über einem Jahr keine Studien mehr im direkten Kontakt mit Nutzern durchführen können. Ich weiß aber auch, dass andere Disziplinen deutlich stärker unter den Einschränkungen leiden als wir. 

 

Herr Schütte, seit Januar 2020 sind Sie Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Was hat die Krise für Sie bedeutet?

 

Georg Schütte: Auch wir mussten als Organisation unter neuen Bedingungen arbeiten lernen, das heißt: ortsunabhängiger und flexibler. Inhaltlich haben wir unsere Autarkie genutzt, indem wir schon im Frühjahr 2020 Förderangebote im Corona-Kontext gemacht haben (Ausschreibung "Corona Crisis and Beyond"). Denn die wissenschaftlichen Leerstellen, die durch die Pandemie entstehen, sind sehr groß. Sie gilt es ein Stückweit auszugleichen.

 

"Die Universität als Ort
der Begegnung ist lahmgelegt."

 

Schöning: Die Leerstellen bestehen für mich vor allem darin, dass die Universität als Ort der Begegnung lahmgelegt ist. Keine Frage: Das einzige Mittel gegen die Pandemie, das uns bis vor kurzem zur Verfügung stand, war das Einschränken von Kontakten. Doch wenn ich aus meinem Fenster nach draußen schaue, sehe ich: Die Universität existiert noch, aber sie lebt nicht mehr. 

 

Schütte: Und aus der Begegnung entsteht ja im weitesten und abstraktesten Sinne Kreativität. Die neue Idee, das Unvorhergesehene, das gemeinsame Gedankenspiel, um neue Richtungen zu finden, das alles droht auf der Strecke zu bleiben.

 

Schöning: Ich muss ehrlich sagen, ich hatte letztes Jahr kaum noch gute Ideen. Die sind in einer Krise Mangelware, weil man an alles Mögliche denken muss, aber kaum Zeit zum tiefen Bohren bleibt. Aber dann haben wir uns mit Elan auf das erwähnte Förderangebot gestürzt und können das beantragte Projekt "COVID-19 misinformation on social media" jetzt umsetzen.


Georg Schütte übernahm nach zehn Jahren als Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung Anfang 2020 die Leitung der VolkswagenStiftung. Dem Medien- und Kommunikationswissenschaftler liegt auch in seiner Funktion als Generalsekretär daran, die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft zu stärken. 

Johannes Schöning ist Informatiker und leitete die Arbeitsgruppe Mensch-Technik-Interaktion an der Universität Bremen. Er wird über eine Lichtenberg-Professur der VolkswagenStiftung gefördert und ist ab August 2021 an der Universität in St. Gallen tätig. Mehr Informationen zu Johannes Schöning finden Sie auf seiner Webseite.



Worum geht es da?

 

Schöning: Um die Wirkweisen der sozialen Netzwerke in Zeiten der Pandemie. Wir sehen, etwa beim Thema Impfstoffe, wie auch viele Falschinformationen verbreitet werden, und welche Wirkmächtigkeit diese über die diversen Kanäle entwickeln können. 

 

Schütte: Ja, das sich ändernde Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit birgt auch Risiken. Die Handlungslogik der Wissenschaft, die Suche nach temporären Wahrheiten im ständigen Spiel von Ergebnissen, die kritisch hinterfragt werden, stößt auf die Handlungslogik der Medien. Die besteht in der schnellen Vermittlung von Neuigkeiten und stilisiert jedes wissenschaftliche Zwischenergebnis zu einer bedeutenden Nachricht hoch. Was zu einer Überflutung der Öffentlichkeit führt, die irgendwann entnervt fragt: Wo ist denn nun die verlässliche Aussage? Und die Politik funktioniert wieder anders. Sie steht vor der Dauerherausforderung, auf der Basis temporären und unzureichenden Wissens Entscheidungen treffen zu müssen, die langfristige Auswirkungen haben. In diesem komplexen Verhältnis spielen die Akteure unterschiedliche Rollen, und es kommt zu Brüchen. Damit muss auch Wissenschaft umgehen.

 

Schöning: Die Pandemie zeigt uns, wie wichtig die Wissenschaft ist. Sie war und ist das einzige Licht am Ende des Tunnels. Gleichzeitig, und das ist das große Paradox, profitiert sie von dieser Sonderrolle selber kaum. 

 

Wie meinen Sie das? 

 

Schöning: Die Erkenntnisse, die jetzt so schnell zu neuen Impfstoffen geführt haben, beruhen auf 25, 30 Jahren Forschungsarbeit. Mindestens so lange waren die entscheidenden Ideen schon in den Köpfen der Forschenden. Doch diese Langfristigkeit als Bedingung von Wissenschaft führt eigentlich nie zu der Erkenntnis, sie auch entsprechend langfristig zu finanzieren. Im Gegenteil, in Bremen sehen wir angesichts der geplanten Millionenkürzungen gerade das Gegenteil, auch beim EU-Forschungsbudget gibt es bestenfalls Stagnation. 

 

Schütte: Das ist für mich eine der ganz zentralen Fragen: Wie stellen wir unser Wissenschaftssystem so auf, dass es uns auch in Zukunft hilft, Krisen zu bewältigen? Das nächste Virus kommt bestimmt, aber wir müssen auch über Risiken wie Cybersicherheit reden oder terroristische Bedrohungen. Wir müssen diese Vielzahl von Herausforderungen in den Blick nehmen und die Wissenschaft über langfristig tragfähige Strukturen besser in die Lage versetzen, kurzfristig und agil zu reagieren.

 

"Ökosysteme sind dann am stärksten, wenn sie vielfältig sind, und diese Vielfalt erreichen sie nur durch eine langfristige, hingebungsvolle Pflege."

 

Schöning: Es werden sicher weitere globale Krisen kommen, ausgelöst durch den Klimawandel, Umweltverschmutzung oder soziale Ungleichheit. Ich sehe auch die wachsende Gefahr KI-basierter Überwachungssysteme. Und all diesen Problemen und weiteren, die wir noch gar nicht denken können, können wir nicht durch kurzfristig eingesetzte Bazookas begegnen, wo Politiker auf einmal mit Abermillionen Euro schießen, und dafür soll die Wissenschaft dann aber auch gefälligst sofort Ergebnisse ausspucken. Ich stamme aus einem Gärtnerhaushalt, und daher weiß ich: Ökosysteme sind dann am stärksten, wenn sie vielfältig sind, und diese Vielfalt erreichen sie nur durch eine langfristige, hingebungsvolle Pflege. 

 

Schütte: Der Wissenschaftsrat hat vor kurzem sehr richtig argumentiert, dass wir unser Wissenschaftssystem resilienter machen müssen: Resilient sei ein Wissenschaftssystem, das über eine hohe interne Pluralität verfügt und durch partielle Redundanzen Ausfallsicherheit und schnelle Skalierbarkeit gewährleistet. Als wesentliches Element, um dieses Ziel der Resilienz zu erreichen, sehe ich die Hochschulen. Insofern haben Sie vollkommen Recht, Herr Schöning: Es braucht die thematische Bazooka. Es braucht aber auch die Redundanz.



Wie passt das zu der Bevorzugung der außeruniversitären Forschungsorganisationen in den großen Wissenschaftspakten? 

 

Schütte: Im Rückblick muss ich als damals Beteiligter seitens der Politik sagen, dass die Verhandlungen um die Pakte fast ausschließlich aus der Perspektive von Finanzströmen geführt wurden. Von einem inzwischen leider verstorbenen Mentor im Wissenschaftsmanagement habe ich aber gelernt, dass eine gelungene Wissenschaftsförderung drei große G voraussetzt: Geist, Geduld und Geld. Und zwar in dieser Reihenfolge. Auch deshalb würde ich mir wünschen, dass die bei den Paktverhandlungen ausgefallene inhaltliche Debatte zwischen Bund und Ländern jetzt nachgeholt wird.

 

Eine sehr selbstkritische Antwort, Herr Schütte.

 

Schütte: Wir lernen alle dazu, und diese Pandemie hat uns als Gesellschaft insgesamt doch sehr deutlich gezeigt, wo Defizite liegen. 

 

Gehört dazu auch eine Debatte über die Kultur in der Wissenschaft als Ganzes, Herr Schöning?

 

Schöning: Das ist die große thematische Klammer. Die Universitäten sind in ihrer Grundförderung lange vernachlässigt worden, das darf aber jetzt nicht zu dem simplen Argument führen: Gebt den Außeruniversitären weniger und uns mehr, und dann ist es gut. Die Frage muss doch gleichzeitig lauten: Was können die besser, und was wir? Zum Beispiel sind die außeruniversitären Forschungsinstitute im Schnitt viel internationaler und diverser. Vergleichen Sie das mal mit dem einstelligen Prozentsatz deutscher Universitätsprofessoren mit einem ausländischen Pass. Die Homogenität der deutschen Hochschulen ist doch katastrophal. Wie bekommen wir diese Betondecken an den Universitäten, die mehr Diversität verhindern, beseitigt, und was können wir da von den Außeruniversitären lernen? Geht es wirklich nur um Geld? Ich glaube nicht. Starke Wissenschaft braucht den Input von außen, wir brauchen den Input der unterschiedlichen Geschlechter, Herkünfte und Lebenswege. Wir können nicht länger sagen, wir lassen 50 Prozent oder 80 Prozent der Talente außen vor. 

 

"Nur wenn Wissenschaftseinrichtungen professionell geführt werden, können sie künftig satisfaktionsfähig werden gegenüber der Politik."

 

Schütte: Ich war unlängst bei der Begutachtung eines großen Forschungsverbundes dabei, und die Botschaft des internationalen Gutachtergremiums lautete: "Wenn Ihr euch nicht diverser und menschenoffener aufstellt, werdet ihr die exzellenten Leute aus dem Ausland nicht erreichen." Das hat mich in dieser Klarheit sehr beeindruckt. 

 

Schöning: Wir reden hier von moderner Führung.

 

Schütte: Genau! Bei allem finanziellen Mangel: Wir investieren gesamtstaatlich inzwischen über drei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in Forschung, Entwicklung und Innovation. Das ist ein substanzielles gesellschaftliches Engagement und verlangt als Gegenleistung eine Professionalisierung in der Führung der Wissenschaft – nicht zuletzt aus der großen Verantwortung für die nächste Generation junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus, die zu Recht mit einem anderen Anspruch in dieses System hineingehen. 

 

Wie würden Sie diesen neuen Führungsstil beschreiben?

 

Schütte: Transparent. Partizipativ. Er bringt das Verhältnis von Fordern und Herausfordern, von Mitnehmen und Unterstützen in einen Ausgleich. Nur wenn Wissenschaftseinrichtungen professionell geführt werden, können sie künftig satisfaktionsfähig werden gegenüber der Politik. Dann können sie mehr Geld fordern und zugleich zeigen, dass sie auch in der Lage sind, verantwortungsvoll mit diesem Geld umzugehen.

 

Schöning: Was aber auf keinen Fall passieren darf: dass diese Forderung nach moderner Führung dazu führt, dass der Wissenschaft Manager von außen oktroyiert werden. Wissenschaft unterscheidet sich essenziell von der Wirtschaft, weshalb entsprechende Anleihen aus meiner Sicht immer fehlgehen müssen. Moderne Führung in der Wissenschaft bedeutet eine professionelle Führung der Wissenschaft durch sich selbst. 

 

"Jetzt in der Krise an der Forschung zu sparen,
enthebt uns der Möglichkeit, nach der Krise die Zukunft gestalten zu können."

 

Die Attraktivität der Wissenschaft hängt aber eben nicht nur von Fragen der Kultur ab, sondern auch von den verfügbaren Mitteln. Wie geht es insgesamt weiter?

 

Schütte: Spardiskussionen führen immer auch zu Priorisierungsdiskussionen. Das kann zunächst durchaus heilsam sein, um offensichtliche Systemschwächen endlich auch anzugehen. Dann aber muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass Investitionen ins Wissenschaftssystem Zukunftsvorsorge sind. Das heißt: Jetzt in der Krise an der Forschung zu sparen, enthebt uns der Möglichkeit, nach der Krise die Zukunft gestalten zu können. Wir müssen insgesamt nach vorne denken. Wir haben jetzt – individuell, aber auch als Gesellschaft als Ganzes – schmerzhaft erfahren, wo es uns auf den Nägeln brennt, und jetzt ist die Zeit, konsequent nach Antworten zu suchen. 

 

Was bedeutet das konkret? 

 

Schütte: Dass uns gar nichts anderes übrigbleibt, als noch ideenreicher zu werden. Als Stiftung, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist, stehen uns im Durchschnitt jährlich rund 90 Millionen Euro zur Verfügung, um die bundesweite und internationale Förderung von Wissenschaft weiterzuentwickeln. Wir haben jetzt drei neue Profilbereiche gestartet, einer davon heißt "Wissen über Wissen". Unser Ziel ist, aus der kritischen Reflexion über das Wissenschaftssystem heraus Pilotinitiativen auf den Weg zu bringen, die zeigen, wie man es besser machen kann. Dabei hoffen wir natürlich wie immer, dass erfolgreiche, gute Ideen sich verbreiten, dass sie Resonanz im Wissenschaftssystem finden. 

 

Sie sprachen noch von zwei weiteren neuen Bereichen.

 

Schütte: Der zweite Profilbereich – mit dem Titel "Gesellschaftliche Transformationen" – soll den Diskurs voranbringen über die Frage, wie Gesellschaften sich verändern, und was die großen Herausforderungen sind, die sie in die Veränderung treiben. Der dritte Profilbereich "Exploration" dagegen folgt dem Bottom-Up-Prinzip und fragt nach neuen Ideen, die sich in der Wissenschaft entwickeln und die das Potenzial haben, die Wissenschaft insgesamt deutlich voranzubringen. Hier setzen wir stärker auf die innerwissenschaftlichen Prozesse, um neuem Wissen den Weg zu ebnen. Wir denken unsere Förderung also von zwei Polen her: einerseits von den gesellschaftlichen Veränderungen und andererseits von der wissenschaftlichen Eigendynamik und Kreativität.

 

Schöning: Die Frage ist aber auch, wie man die Bereiche näher zusammenbringen kann. Ich persönlich würde mir mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Politik wünschen, die dort die langfristige Wirkweise von Wissenschaft besser verdeutlichen könnten. Politische Debatten haben immer auch eine emotionale, personalisierte Ebene, und genau diese Ebene könnten Wissenschaftler, die in die Politik gehen, ein Stückweit bedienen. 

 

Schütte: Ein wichtiges Stichwort ist für mich Schnittstellenkompetenz. In vernetzten Gesellschaften brauchen wir Leute, die Schnittstellen besetzen können. Das gilt in der Wissenschaft zwischen den Disziplinen, das gilt aber auch im Verhältnis von Wissenschaft zu Politik. Trotzdem stimme ich Ihnen nicht ganz zu, wenn Sie sagen, wir bräuchten einfach mehr Personen aus den Hochschulen in der Politik. Politik ist ein anspruchsvolles Berufsfeld, und diese Kompetenz erwirbt man nicht mal eben so. Aber natürlich ist das Ziel, wissenschaftliches Denken in der Politik zu verankern, richtig und wichtig.–  Es ist aber auch schwierig zu erreichen, eben weil es in der Politik andere Mechanismen gibt.

 

Dieses Gespräch erschien zuerst in der Publikation Impulse der VolkswagenStiftung.

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Kommentare: 1
  • #1

    Georg Schubens (Mittwoch, 21 Juli 2021 09:01)

    "Die Universität existiert noch, aber sie lebt nicht mehr."
    Das ist ja mal ein Satz, der die augenblickliche Situation und Strategielosigkeit an den Hochschulen beschreibt. Wenn ganze Jahrgänge von Studenten und Doktoranden das dortige Leben nicht mehr verinnerlichen, dann "Gute Nacht". Da helfen die abgehobenen Exzellenz-Initiativen
    einfach nicht, wenn das "normale" Leben an den Unis nicht mehr existiert.