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Die Q-Frage

Das DIW Berlin fordert einen Aufbruch in der Kita-Politik. Die Qualität der Betreuung muss besser werden. Das Problem ist aber, dass auch das Quantitäts-Problem noch längst nicht gelöst ist.

 

IST ES ZUMUTBAR, dass Dreijährige einen Kitaplatz erhalten, der 30 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt liegt? 35 Autominuten hin, 35 Autominuten zurück. Macht für die Eltern bis zu 140 Minuten Zeitaufwand am Tag. Jeden Tag. Und für das Kind fast unmöglich, Freundschaften außerhalb der Kitazeiten zu pflegen.

 

Der Landkreis Göttingen fand dennoch, dass er damit seine Pflicht auf Bereistellung eines bedarfsgerechten Ganztagsplatzes erfüllt habe. Und selbst dieses Angebot machte er erst, nachdem die Eltern des dreijährigen Kindes bereits vor dem Verwaltungsgericht geklagt hatten. Geklagt, nachdem sie seit Dezember 2020 vergeblich eine Kita für Kind gesucht hatten und auch vom Landkreis und ihrer Heimatgemeinde Staufenberg keinerlei Lösung angeboten bekamen. 

 

Die Verwaltungsrichter gaben der Familie nun Recht und gewährten ihr vorläufigen Rechtsschutz. Was konkret bedeutet: Der Landkreis Göttingen muss dem Kind ab sofort einen wohnortnahen Kitaplatz mit mindestens sechs Stunden Betreuung pro Tag zur Verfügung stellen.

 

Ein Kitakind habe den gesetzlichen Anspruch auf einen "bedarfsgerechten Ganztagsplatz", und dieser sei bei einer Fahrstrecke von mehr als 30 Minuten pro Richtung grundsätzlich nicht gegeben – und auch nicht bei nur vier Stunden täglich. Denn Kitas, wie die Richter weiter ausführten, sollten Eltern dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können, und dieser Funktion werde ein Halbtagsplatz nicht gerecht. Und was den Hinweis von Gemeinde und Landkreis auf die erschöpften Kapazitäten angehe: Die spielten keine Rolle. Denn der Landkreis als Jugendhilfeträger sei "dazu verpflichtet, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen".

 

Ein Halbtagsplatz
reicht nicht

 

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen ist bemerkenswert. Erstens weil er – wahrlich nicht zum ersten Mal – deutlich macht: Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, der für Über-3-Jährige schon seit 1996 besteht, lässt sich gerichtlich durchsetzen. Da mag ein Landkreis noch so oft darauf verweisen, dass alle Kitas schon voll seien oder dass die Wohnortgemeinde und nicht er für die Umsetzung des Anspruchs zuständig sei. Rechtlich spielt all das keine Rolle. Anspruch ist Anspruch. Und zwar gegenüber dem Landkreis.

 

Zweitens – und das nach Meinung des Verwaltungsgerichts wohl bundesweit zum ersten Mal so festgestellt – reicht ein Halbtagsplatz nicht aus, um den bundesrechtlich begründeten (Paragraph 24 SGB VIII) Anspruch zu erfüllen. Womit die Richter auch der entsprechenden Festlegung im niedersächsischen Kitagegesetz direkt widersprechen.

 

Weswegen der Gerichtsbeschluss drittens zeigt: So stark Bund, Länder und Kommunen den Ausbau von Kitaplätzen vorangetrieben haben, ihre Verpflichtung erfüllen sie damit noch lange nicht. Auf den ersten Blick mag das nicht immer sofort auffallen, weil Landesgesetze wie das niedersächsische den Platzanspruch auf wenige Betreuungsstunden kleinrechnen. Oder auch weil die meisten Eltern anders als die Familie aus Staufenberg die Sache eben nicht gerichtlich durchfechten.

 

357.000 fehlende Plätze allein
bei den Unter-3-Jährigen

 

Besonders groß ist die Lücke bei den Unter-3-Jährigen, für die es den Platzanspruch seit 2013 gibt. Trotzdem fehlen 2019 laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) allein dieser Altersgruppe 357.000 Plätze. Woraus folgt: Der Anteil der Eltern, die sich für ihre mindestens ein Jahr alten Kinder einen Kitaplatz wünschen (je nach Alter des Kindes 40 bis gut 80 Prozent), liegt rund 20 Prozentpunkte höher als der Anteil, die tatsächlich einen ergattern (wiederum je nach Alter 15 bis knapp 70 Prozent). 

 

Allerdings ist der Mangel gegenwärtig wie künftig ungleich verteilt: Das Deutsche Jugendinstitut und die Technische Universität Dortmund errechneten Ende 2020 in einer gemeinsamen Studie, dass in Westdeutschland bis 2025 je nach Szenario zwischen 20.400 und 72.500 Kita-Fachkräfte fehlen werden, um den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Über-Einjährige zu erfüllen und den Bedarf der Eltern zu decken. Während im Osten bald schon mehr ErzieherInnen ausgebildet als benötigt würden. 

 

Die Not macht viele Eltern schon seit langem erfinderisch: Weil die Wartelisten für Kitaplätze je nach Wohnort schnell Hunderte Namen umfassen können, schickten interessierte Mütter und Väter Urlaubskarten an die Kitaleitung oder bringen selbstgebackene Muffins vorbei. Auch im Alltag der Kita-Kinder hinterlässt die Personalnot Spuren. Schon vor Corona wurden Theaterbesuche und andere Bildungsangebote vielerorts gestrichen. In Brandenburg zeigte sich 2018 sogar ein privater Träger selbst an: Wegen der mangelnden Gegenfinanzierung durchs Land könne er die gesetzlich festgelegten Betreuungsschlüssel nicht einhalten.

 

Diese Schlüssel sind in einigen Bundesländern ohnehin miserabel, wie eine Erhebung der Bertelsmann-Stiftung vergangenes Jahr zeigte. In Mecklenburg-Vorpommern, dem bundesweiten Schlusslicht der Untersuchung, musste sich eine Erzieherin offiziell um 12,9 Kindergartenkinder kümmern. 

 

Am stärksten betroffen vom Kita-Platzmangel seien jene Familien, berichtet das DIW Berlin, "in denen die Mütter einen niedrigeren Bildungsabschluss oder beide Eltern einen Migrationshintergrund haben". Liegt das daran, weil es vor allem die selbstbewussten, besser gebildeten Eltern sind, die im Zweifel für ihr Recht zu kämpfen bereit bzw. in der Lage sind?

 

Das DIW konstatiert jedenfalls weiter, vom Kita-Ausbau hätten "insbesondere sozioökonomisch besser gestellte Haushalte profitiert, obwohl vielfache bildungsökonomische Studien belegen, dass insbesondere Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien von einer guten Kita-Qualität profitieren."

 

Und was ist
mit der Qualität?

 

 

Womit neben der Quantität – der Frage nach genügend Plätzen – auch der zweite Aspekt der Kita-Debatte angesprochen ist: die Qualität. Die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hat zu deren Verbesserung 2019 eigens ein "Gute-Kita-Gesetz" präsentiert. Wobei von den 5,5 Milliarden, die darüber allein bis 2022 in die Länder fließen, ein beträchtlicher Anteil in die Senkung oder Abschaffung der Kitagebühren auch für wohlhabendere Familien geht.

 

Rechtzeitig vor der Bundestagswahl hat Katharina Spieß, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie am DIW Berlin, nun einen lesenswerten "Zehn-Punkte-Plan für die Kita-Politik der nächsten Bundesregierung" formuliert.

 

Ganz vorn die Forderung: Der Ausbau der Kita-Platzkapazitäten müsse weitergehen, vor allem für sehr junge Kinder und weiter unter tatkräftiger Mithilfe der Bundesregierung. Deren Beteiligung an den Betriebskosten sollte weniger zeitaufwändig und nachhaltiger geregelt werden, etwa über einen Kita-Fonds, aber nicht mehr über 16 Einzelverträge mit allen Ländern und eine Neuverteilung der Umsatzsteuereinnahmen zugunsten der Länder.

 

Zweitens müssten Familien, "bei denen die Mütter einen geringeren Bildungshintergrund oder beide Eltern einen Migrationshintergrund haben", noch gezielter als bisher über ihre Möglichkeiten und Rechte, über Kita-Zugänge und Kita-Qualität, informiert werden.

 

Gebühren nicht abschaffen,
sondern staffeln

 

Darüber hinaus müssten, anstatt die Gebühren für alle abzuschaffen, diese überall einkommensabhängig gestaffelt und zugleich die regionalen Unterschiede reduziert werden, da diese auch dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse entgegenstünden. Spieß rät viertens von einer Ausdehnung der steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten ab, da diese wiederum die Haushalte mit mittlerem und höheren Einkommen noch besser stelle, obwohl "die im Hinblick auf die Kita-Kosten relativ betrachtet ohnehin am wenigsten belastet und bei den Angeboten für jüngere Kinder überrepräsentiert sind". 

 

Dann folgen etliche Plädoyers für mehr Qualität: etwa einheitliche Mindeststandards, was Gruppengrößen, Kind-Fachkraft-Schlüssel, Ausbildung und ähnliches angehe. "Dies wurde im Vorfeld des Gute-Kita-Gesetzes vielfach diskutiert, aber nicht umgesetzt", kritisiert Spieß. Auch die Einrichtungen selbst müssten einheitlich auf eine Mindestqualität überprüft werden, trägerübergreifend und perspektivisch  über die "bundesweit einheitliche systematische Erhebung von Qualitätsindikatoren". Den Entwicklungsstand der Kitakinder gelte es ebenfalls systematisch zu ermitteln. "Hier könnten Lernstandserhebungen im schulischen Bereich ein Vorbild sein, die aber den entsprechenden Altersgruppen und Bildungsphasen angepasst werden müssten".

 

 

 

Weiter geht der DIW-Katalog mit Forderungen nach der Stärkung von Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte, nach der systematischen Aufwertung des Erzieherberufs vor allem durch eine bessere Entlohnung, um so die drohende Personallücke von 50.000 ErzieherInnen allein in westdeutschen Kitas bis 2025 zu verkleinern – und nach einem "Digitalpakt Kita" – "allerdings", wie Spieß schreibt, "ohne die Fehler des Digitalpakts für Schulen, etwa die hohen Hürden beim Abruf der Fördermittel oder die Förderung von Hardware, ohne dabei den Umgang mit selbiger nachhaltig zu fördern". 

 

"Eine moderne Kitapolitik als Grundstein

für eine Moderne Gesellschaft"

 

Bleibt die zehnte Forderung, die die so schön klingt, wie ihre Umsetzung fern zu sein scheint: Kitas, schreibt die DIW-Expertin Spieß, "sollten nicht nur Orte für Kinder sein, sondern für die ganze Familie." Gerade internationale Studien zeigten, dass Kitas, die die qualitativ hochwertige Betreuung der Kinder mit Elternarbeit kombinierten, "besonders effektiv und effizient" seien. Auch hier gehe es um die entsprechende Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte, aber auch um die Öffnung der Kitas und die Verbreiterung ihres Föderangebots. "Eine Entwicklung hin zu familienorientierten Zentren, wie sie teilweise schon begonnen wurde, kann Investitionen in die frühe Bildung noch rentabler und nachhaltiger machen, da die Familien als Ganzes und nicht das Kind allein als Adressat des Bildungsauftrags gelten."

 

Kitas könnten so zu einer Kinder- und Jugendhilfe im sozialen Nahraum beitragen, um alle dort vorhandenen Bildungspotenziale zu fördern. "Der Bund könnte hier mit einem eigenen Programm Akzente setzen, wie er es zum Beispiel einst bei den Mehrgenerationenhäusern getan hat."

 

Eine schöne Vision? Das auf jeden Fall. Erst recht, wenn die Realität oft noch so ist, wie sie die Eltern des dreijährigen Kindes aus Staufenberg gerade erst wieder erlebt haben. Die nach der vorläufigen Anordnung jetzt noch das gesamte Hauptsacheverfahren durchmachen müssen.

 

Und doch müssen sich Bund, Länder und Kommunen an Ansprüchen wie den vom DIW formulierten messen lassen. Ansprüche, wie viele andere Experten für die frühkindliche Bildung und auch verschiedene Trägerverbände sie seit längerem ähnlich äußern.

 

Deutschland habe, was den Kita-Ausbau betrifft, in den vergangenen Jahren zwar massiv abgeholt, bescheinigt Katharina Spieß, doch das reiche nicht. "Denn eine effektive und effiziente Kita-Politik ist der Grundstein für eine moderne Gesellschaft, die die Herausforderungen der Zukunft meistert. Kita-Politik sei mehr als "nur" Familien- und Bildungspolitik: "Sie ist Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Sozial-, Integrations- und Wirtschaftspolitik und damit Zukunftspolitik."


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