· 

Die Bildungskrise aufarbeiten

Eine unabhängige Kommission soll die Entscheidungen in der Coronakrise untersuchen, fordert die Leopoldina – auch und gerade die Entscheidungen in der Bildungspolitik. Denn so, wie der Föderalismus sich in der Krise präsentiert habe, könne es nicht weitergehen, sagt Ludger Wößmann, der die Empfehlung der Nationalakademie mitgeschrieben hat.

Ludger Wößmann, 48, leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik und ist Professor für Bildungsökonomie an der Universität München. Foto: privat.

Herr Wößmann, die Nationalakademie Leopoldina hat eine Stellungnahme zu den "ökonomischen Konsequenzen der Coronavirus-Pandemie" veröffentlicht. Die öffentliche Resonanz war bislang erstaunlich gering, dabei sind die enthaltenen Empfehlungen auch für den so heftig diskutierten Bildungsbereich hochrelevant.

 

Die Stellungnahme ist ja darauf ausgerichtet, was wir mittel- und langfristig aus der Pandemie lernen müssen. Das ist vielleicht nicht so tauglich für Schlagzeilen. Aber ich denke schon, dass sie bei vielen Entscheidungsträgern Beachtung finden wird. Im Gegensatz zu den sogenannten Ad-hoc-Stellungnahmen wird so eine Stellungnahme ja auch über Monate hinweg in regelmäßigen Treffen der eigens eingerichteten Arbeitsgruppe erarbeitet und geht dann auch noch an zahlreiche hochrangige Gutachterinnen und Gutachter, deren Feedback in den Text einfließt, bevor er vom Leopoldina-Präsidium beschlossen wird.

 

Wie erklären Sie sich das verhaltene Echo?

 

Vielleicht liegt es an der Ferienzeit. Oder daran, dass im Titel vor allem von "ökonomischen Konsequenzen" die Rede ist, da erwarten diejenigen, die am Bildungssystem interessiert sind, vielleicht nichts zu Schulen und Bildung.

 

Die Stellungnahme konstatiert umfangreiche Schwächen bei der Leistungsfähigkeit staatlicher Organisationen und regt eine "politikexterne Untersuchungskommission" an, die auch, ich zitiere erneut, "den Umgang mit der Corona-Krise im Schulbereich" aufarbeiten soll. Müssen die Kultusminister ein Tribunal befürchten?

 

Darum geht es eben nicht. Es sind genau solche Missverständnisse und Befürchtungen, die dazu führen, dass eine neutrale Aufarbeitung des staatlichen Handelns in der Corona-Krise bisher nicht stattfindet. Politikextern bedeutet, dass sich schlaue Leute ansehen, was man zu bestimmten Zeitpunkten in der Pandemie tatsächlich hätte wissen können und was nicht. Im Augenblick werden Politiker häufig für Dinge verantwortlich gemacht, die keiner hätte voraussehen können. Eine Untersuchung, wie wir sie vorschlagen, würde sie an der Stelle also auch entlasten.

 

"Es geht nicht darum, den Verantwortlichen im Nachhinein für ihre Versäumnisse und Fehler Vorwürfe zu machen. Es geht darum, aus den Versäumnissen und Fehlern zu lernen."

 

Um was zu erreichen?

 

Um zu erreichen, dass wir aus der Krise lernen. Es geht nicht darum, den Verantwortlichen im Nachhinein für ihre Versäumnisse und Fehler Vorwürfe zu machen. Es war ja eine Ausnahmesituation. Es geht darum, aus den Versäumnissen und Fehlern zu lernen. Eine wichtige Frage lautet: Was ist nicht gut gelaufen, und woran lag das? Und die zweite wichtige Frage ist dann: Wie müssen wir die Dinge ändern, damit es in der nächsten Krise besser läuft?

 

Die Untersuchungskommission, wie die Leopoldina-Arbeitsgruppe sie vorschlägt, würde sich mit unterschiedlichen Politikfeldern befassen, vor allem aber eben auch mit der Bildung. Warum? 

 

Bildung gehört wie die Gesundheit zu den zentralen Themen in dieser Pandemie, und deshalb müssen beide zentral sein für eine solche Kommission. Viele Länder haben den Präsenzunterricht weniger stark zurückgefahren als wir in Deutschland. Da liegt es nahe, die Vor- und Nachteile der deutschen Vorgehensweise vergleichend zu bewerten. 

 

Sollte eine solche Kommission nicht auch die Funktionsweise des Bildungsföderalismus insgesamt einmal genauer unter die Lupe nehmen?

 

Wir schlagen nicht vor, den Föderalismus als Ganzes in Frage zu stellen, das wäre auch müßig, die Verfassungsrealitäten sind jedem klar. Klar ist in der Krise aber auch geworden, dass bestimmte föderale Prozesse so, wie sie derzeit organisiert sind, die Leistungsfähigkeit des Staates stark einschränken. Im Bereich der Bildung betrifft das die Zuständigkeiten und die Entscheidungswege zwischen Bund und Ländern, genauso aber auch die zwischen Ländern und Kommunen. Selbst wenn zum Beispiel eine Landesregierung zu Beginn der Pandemie beschlossen hätte, sofort auf verpflichtenden Video-Unterricht für alle umzuschalten, wären ihr bei der Anschaffung der nötigen Laptops vermutlich die Hände gebunden gewesen: Rein rechtlich gesehen sind dafür nicht die Bundesländer zuständig, sondern die Kommunen als Sachaufwandsträger der Schulen. Woraus folgt: Wenn wir an den Abläufen nichts ändern, wird unser föderales System in der nächsten großen Krise wieder genauso scheitern. 



Aber was heißt denn das praktisch? Was schlagen Sie zur Neuordnung der Zuständigkeiten vor?

 

Auch wir als Leopoldina behaupten nicht, dass wir genau wissen, wie es am besten geht. Dafür ist das Problem zu komplex, und Lösungen müssen politisch realistisch sein. Darum ist es ja höchste Zeit, eine solche Kommission einzurichten. Ein weiteres Beispiel, das einen wirklich traurig stimmen muss: der Digitalpakt Schule. Seit mindestens einem Jahrzehnt diskutieren wir darüber, dass Deutschlands Schulen in Sachen Digitalisierung hinterherlaufen. Einige Bundesländer haben früh signalisiert, dass sie die nötigen Investitionen nicht allein stemmen können, der Bund hat seinerseits schon vor Jahren gesagt, dass er Geld geben will, wenn er es verfassungsrechtlich irgendwie darf. Nach einem viel zu langen Hin und Her ist das Grundgesetz dann geändert worden, doch als die fünf Milliarden Euro endlich auf dem Tisch lagen, waren alle bestürzt: Warum nimmt sich denn keiner was von dem Geld? 

 

Ja, warum dauerte das so lange, bis die Gelder abzufließen begannen?

 

Weil es gar nicht anders kommen konnte. So, wie unser Bildungsföderalismus derzeit organisiert ist, musste der Bund erst mit den Ländern Verwaltungsvereinbarungen abschließen, dann musste jedes Land wiederum eine Förderrichtlinie für die Schulträger erarbeiten, und schließlich mussten die Schulträger Anträge schreiben und einreichen – wiederum in Absprache mit den einzelnen Schulen, von denen sie teilweise weit weg sind. Woraufhin dann der Genehmigungsprozess nach oben zurück läuft. Ist doch kein Wunder, wenn über all dem Jahre vergehen, ohne dass sich für die Schülerinnen und Schüler an den Schulen irgendetwas Reales ändert. Ich fürchte übrigens, dass das beim Corona-Aufholpaket wieder ähnlich sein wird. Da habe ich wenig Hoffnung, dass von der Nachhilfe-Milliarde so rechtzeitig etwas bei den Kindern und Jugendlichen ankommt, dass ihnen damit kurzfristig geholfen wird. Nicht, wenn wir nicht grundsätzlich an unseren bürokratischen Strukturen arbeiten.

 

"Wir müssen die Bildungspolitik endlich von den Kindern her denken, was sie gut auf die Zukunft vorbereitet –
und alles andere, auch die föderalen Strukturen, entsprechend dieses Ziels ausrichten."

 

Das sagen Sie so.

 

Und genau darum müssen wir uns doch jetzt vornehmen, die Probleme systematisch anzugehen. Wir müssen die Bildungspolitik endlich von den Kindern und Jugendlichen her denken, von der Frage, was sie gut auf die Zukunft vorbereitet – und alles andere, auch die föderalen Strukturen, entsprechend dieses Ziels ausrichten. Das hilft ja nicht nur für die nächste Krise, sondern auch im Alltag. Eine unabhängige Kommission kann und muss hier die nötigen Anstöße geben. 

 

Gibt es ein solches Gremium nicht schon? Vor wenigen Monaten hat die Kultusministerkonferenz eine Ständige Wissenschaftliche Kommission (Stäwiko) berufen. Das neue Gremium, bestehend aus hochrangigen Bildungswissenschaftlern, hat sich bereits konstituiert und arbeitet weisungsungebunden. 

 

Die Untersuchungskommission, die die Leopoldina vorschlägt, würde sich aber nicht vorrangig aus Bildungswissenschaftlern oder auch nur aus Wissenschaftlern insgesamt rekrutieren. Da sollten genauso Leute drinsitzen, die gezeigt haben, dass sie große staatliche Strukturen effektiv leiten können. Ehemalige Spitzenpolitiker zum Beispiel, die ein hohes Ansehen genießen und den Blick fürs Ganze haben. Und um den geht es: Wir wollen ja keine Untersuchungskommission speziell für die Bildung. Die Bildung ist ein gutes Fallbeispiel für die Leistungsdefizite staatlichen Handelns in der Pandemie, aber sie ist beileibe nicht das einzige. Ein Gesundheitssystem, das seine Daten noch mit Faxgeräten weiterleitet, ist ebenfalls Ausdruck eines generell nicht ausreichend funktionsfähigen Staates. 

 

Trotzdem die Nachfrage: Könnte nicht auch die Stäwiko wichtige Hinweise geben, wie der Bildungsföderalismus künftig wirkungsvoller aufgestellt werden sollte?

 

Wenn die Stäwiko gewillt ist, über solche grundsätzlichen Strukturen nachzudenken, und die Kultusminister dem zustimmen, dann sicherlich. Dabei könnte es sich aber als problematisch erweisen, dass die Stäwiko von den Ländern selbst beauftragt ist. 

 

"Lehrkräfte, die ihren Schülern jeden Tag oder jede Woche nur Materialien zum Selbstlernen geben, werden ihrem Bildungsauftrag nicht gerecht. Dafür braucht man dann keine Schulen mehr."

 

Sie haben vorhin den Video-Unterricht erwähnt. Die Leopoldina-Arbeitsgruppe schlägt vor, bei möglichen künftigen Schulschließungen "täglich verpflichtenden Online-Unterricht" vorzusehen. So machen Sie sich keine Freunde bei den Lehrergewerkschaften.

 

Es ist auch nicht unser Ziel gewesen, uns bei der einen oder anderen Interessengruppe Freunde zu machen. Aber ehrlich gesagt kann ich nicht verstehen, warum die Lehrergewerkschaften das nicht selbst fordern. Wir haben doch mittlerweile wirklich gesehen, wie negativ sich Schulschließungen auswirken. 

 

Was meinen Sie?

 

Als ifo haben wir die Eltern von Schulkindern zweimal nach ihren Erfahrungen gefragt: während der ersten Welle der Schulschließungen im Frühjahr 2020 und während der zweiten Welle Anfang 2021, als die Schulen erneut fast komplett dicht waren. Und da waren die Ergebnisse fast noch bedrückender, weil nach den ersten Schließungen genug Zeit gewesen wäre, um die Schulen besser vorzubereiten. Trotzdem haben auch Anfang dieses Jahres immer noch nur 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler täglich Online-Unterricht gehabt, bei 39 Prozent war es maximal eine Videokonferenz pro Woche. Das kann doch nicht wahr sein! Wir wissen doch, wie belastend es für viele Kinder ist, wenn man sie allein lässt mit der Ansage, sie sollten ihr Lernen mehr oder weniger selbst organisieren. Das schaffen viele nicht, gerade wenn die Unterstützung der Eltern fehlt. Lehrkräfte, die ihren Schülern jeden Tag oder jede Woche nur Materialien zum Selbstlernen geben, werden ihrem Bildungsauftrag nicht gerecht. Dafür braucht man dann keine Schulen mehr. Keiner will den Präsenzunterricht eins zu eins nach online verlegen, aber täglicher Austausch und Interaktion – mit Lehrkräften und Klassenkameraden – neben dem Selbstlernen sollten normal sein. 

 

Und wie wird das selbstverständlich?

 

Das hat etwas mit Lehrkräften zu tun, für die es selbstverständlich ist, jeden Tag Kontakt zu ihren Schülern zu haben, weil sie wissen, dass sie sonst einzelne verlieren. Es braucht aber auch eine politische Führung, es braucht klare politische Leitlinien und Vorgaben, damit Lehrkräfte wissen, was von ihnen erwartet wird, und damit Eltern etwas haben, an das sie sich halten können. Und das fordern wir als Leopoldina. Für die politischen Vorgaben braucht es aber auch mehr Wissen darüber, wie es den Schülerinnen und Schülern geht.

 

Weshalb die Leopoldina fordert, wieder verlässlich Lernstandserhebungen durchzuführen?

 

In der Tat. Während der Krise haben die meisten Bundesländer über einen langen Zeitraum ihre Lernstanderhebungen bewusst ausgesetzt. Das erschwerte eine evidenzbasierte Krisenreaktion in den Schulen und behinderte die kritische Auseinandersetzung der Gesellschaft mit den Ergebnissen staatlicher Bildungspolitik. So stellt man keine Verantwortlichkeit her. In künftigen Krisen brauchen wir mehr Wissen, nicht weniger.  

></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0