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Und was ist mit den Schulen?

Deutschlands Regierungschefs diskutieren über neue Grenzwerte in der Corona-Pandemie. Was bedeutet das für den Präsenzunterricht, wenn die Inzidenzen weiter steigen? Schon heute konferiert das Präsidium der Kultusministerkonferenz.

EIGENTLICH HATTEN SICH die Regierungschefs von Bund und Ländern erst Ende August das nächste Mal treffen wollen. Doch wegen der steigenden Corona-Zahlen beschlossen sie, ihre Beratungen auf den 10. August vorzuziehen. Genau, wie es mehrere Ministerpräsidenten vorher gefordert hatten.

 

Wenn man sich anschaut, welche Ministerpräsidenten sich am lautstärksten dafür eingesetzt hatten, fällt auf: Sie stammen aus Bundesländern, in denen demnächst bereits die Schulferien zu Ende gehen. Michael Müller (SPD) aus Berlin zum Beispiel, zurzeit Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), der zügig eine Veränderung der Regularien für Reiserückkehrer forderte und laut dpa sagte: "Der Korridor, um der gegenwärtigen Entwicklung noch wirksam entgegenzuwirken, wird enger." Oder Dietmar Woidke (SPD) aus Brandenburg, der ebenfalls eine zügige Abstimmung gefordert hatte. Genau wie Manuela Schwesig (SPD) aus Mecklenburg-Vorpommern,  die schon vergangene Woche verlangt hatte, das Treffen vorzuziehen, um insbesondere über die Ausbreitung der Delta-Mutation und das Impfen von Jugendlichen zu beraten.

 

Tatsächlich ist die 7-Tages-Inzidenz in den vergangenen Wochen in den Bundesländern, die früh in den Urlaub starteten, überdurchschnittlich stark gestiegen. In Berlin liegt sie aktuell laut Robert-Koch-Institut (RKI) schon bei 28, in Hamburg bei 29, in Schleswig-Holstein bei 21. In Mecklenburg-Vorpommern zwar nur bei 9 und in Brandenburg nur bei 7, doch wird die Dynamik dort noch durch das niedrigere Ausgangsniveau verdeckt.

 

Das RKI will auch künftig Schulschließungen
von Inzidenzwerten abhängig machen

 

Zuletzt gingen die Wachstumsraten bei den Neuinfektionen zwar bundesweit zurück, doch reicht auch das gegenwärtige Tempo noch, um die Inzidenzen in wenigen Wochen über die 50 springen zu lassen. Und dann? Das RKI hat seine Empfehlung, bereits bei einer Inzidenz von über 50 unter gewissen Umständen in den Wechselunterricht überzugehen, bislang offiziell nicht revidiert. Und in Hintergrundgesprächen mit Kultusministern ließ RKI-Chef Lothar Wieler erkennen, dass er, wenn es nach ihm ginge, auch künftig präventive Schulschließungen von Inzidenzwerten abhängig machen will.

 

Dazu passend plädierte Wieler in einer Bund-Länder-Schaltkonferenz mit den Staatskanzlei-Chefs für eine Niedrig-Inzidenz-Strategie auch in der vierten Welle, die nach seinen Worten bereits begonnen habe. Pläne aus dem RKI, auch andere Kriterien für die Corona-Politik zu berücksichtigen, hatten laut Bild bei seinem Vortrag keine Rolle gespielt. Stattdessen habe Wieler darauf beharrt, die Inzidenz bleibe "wichtig, um die Situation in Deutschland zu bewerten und frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle zu initiieren".

 

Die meisten Ländervertreter seien mit Wielers Plädoyer nicht einverstanden gewesen, berichtete die Bild weiter. Gestern widersprach auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dem RKI – ebenfalls in der Bild – und wiederholte seine zuletzt häufiger geäußerte Einschätzung: Mit steigender Impfrate verliere die Inzidenz an Aussagekraft. Daher brauche es "zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten", etwa die Zahl der neu aufgenommenen Covid-Patienten im Krankenhaus. 

 

Doch was heißt das nun für die Länder, die demnächst ins neue Schuljahr starten und womöglich schon bald ganz konkret mit höheren Inzidenzen konfrontiert werden? Die betreffenden Ministerpräsidenten und ihre Kultusminister wüssten es gern – und sie drängen auf eine möglichst bundesweite und eindeutige Abstimmung, auf die sie sich berufen können.

 

Ob die Kultusminister sich noch vor dem Treffen
ihrer Chefs öffentlich äußern, ist offen

 

Schon heute trifft sich das Präsidium der Kultusministerkonferenz unter dem Vorsitz von Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) zu einer Online-Besprechung, um zusammen mit eingeladenen Wissenschaftlern die Lage zu sondieren. Es wird um die künftigen Quarantäne-Regeln gehen (Gegenstand der Debatte: Sollten bei einem positiven Test künftig nicht mehr alle Kinder einer Gruppe zu Hause bleiben?), um die Aussagekraft von Inzidenzen und Erkrankungswahrscheinlichkeiten, sicher auch um das leidige Thema Luftfilter. Das Thema einer Impfflicht (auch) für Lehrkräfte tauchte zwar kurz in der öffentlichen Debatte auf, dürfte aber heute kaum Thema sein. 

 

Man wolle eine Konferenz aller Kultusminister vorbereiten, die allerdings, heißt es, erst Sinn ergebe, wenn die Regierungschefs sich über die Inzidenz-Frage geeinigt hätten. Ob sich die KMK noch vor der MPK mit einem Plädoyer öffentlich zu Wort melden wird, weiß sie selbst bislang nicht.

 

Das Ziel der meisten Kultusminister ist jedenfalls klar: Sie wollen erneuten Wechselunterricht unbedingt vermeiden. Wegen der Schäden, die die teilweise monatelangen Schulschließungen bereits verursacht haben: an Lernrückständen, die bei Kindern aus bildungsfernen Familien besonders groß zu sein scheinen. Aber auch psychosozial durch die Kontaktsperren, durch zunehmende Vernachlässigung und Gewalterfahrungen. Von den gesundheitlichen Folgen (mehr Depressionen, eine Schwächung des natürlichen Immunsystems durch den Mangel an Kontakten) ganz zu schweigen.

 

Hinzu kommt, dass erneuter Wechselunterricht auch das milliardenschwere Corona-Aktionsprogramm von Bund und Ländern ad absurdum führen würde: Denn die zusätzlichen Kurse und Nachhilfe-Angebote funktionieren nur, wenn unterschiedliche Gruppen gemischt werden dürfen. 

 

Zwischen allen
Stühlen?

 

Was viele Kultusminister in dieser Situation besonders frustriert: dass die unterschiedlichen Signale, die da aus der Wissenschaft kommen, so gar nicht zusammenpassen. Auf der einen Seite ist da das RKI mit seiner Niedrig-Inzidenz-Strategie. Auf der anderen Seite steht die am RKI angesiedelte, inhaltlich jedoch unabhängige Ständige Impfkommission, deren Mitglieder eine grundsätzliche Empfehlung zur Impfung aller 12- bis 17-Jährigen bislang nicht geben wollen. Weil die Experten die Nebenwirkungen der Impfungen für nicht ausreichend erforscht halten, umgekehrt aber ihren Nutzen für begrenzt, weil die meisten Jugendlichen eben nicht schwer erkrankten – was wiederum implizit eine Abkehr von der Inzidenz als Leitwert bedeutet. 

 

Zuletzt wurde jedoch sogar der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der die STIKO wochenlang verteidigt hatte, ungeduldig. "Ich ärgere mich über die intransparente Art, wie da im Moment gearbeitet wird", sagte Verbandpräsident Thomas Fischbach der Funke Mediengruppe. "Es wird gesagt, dass man die Datenlage nicht für ausreichend hält, aber nicht, warum man das so einschätzt, und auch nicht, wann es denn ausreichend wäre." Es müsse inzwischen Daten geben, in anderen Ländern würden Millionen Kinder über zwölf Jahre geimpft. Die STIKO selbst hatte immer betont, dass ihre Einschätzung vorübergehend sei und sich jederzeit ändern könne. 

 

So starten einzelne Länder bereits eigene Impfkampagnen für die Schulen. In Schleswig-Holstein etwa sollen ab 19. August an 250 Standorten im Land durch mobile Impfteams allen Schülern ab 12 und allen Schulbeschäftigten ein Impfangebot gemacht werden, teilte Kultusministerin Karin Prien (CDU) mit. Gleichzeitig sagte sie, dass es in den ersten drei Wochen des Schuljahrs bei der Maskenpflicht in Innenräumen und bei den Pflichttests für alle nicht Geimpften oder Genesenen bleiben werde. Ähnliche Regelungen ergreifen auch die anderen Bundesländer zum Schulstart. Bayern will die Tests auch längerfristig beibehalten und nach einer Übergangsphase zumindest an den Grundschulen auf PCR-Pool-Testungen umstellen. Der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) reicht das nicht, sie fordert PCR-Test für alle Schularten, weil sie wesentlich aussagekräftiger seien.

 

Am 10. August läuft es auf eine
Richtungsentscheidung hinaus

 

Unterdessen läuft es am 10. August bei der Ministerpräsidentenkonferenz auf eine Richtungsentscheidung hinaus, die dann wiederum Folgen für die Kultusminister haben wird. Denkbar wäre, dass die Regierungschefs die Inzidenz als Leitindikator ganz aufgeben und künftig eine Mischung aus Infektionszahlen, Impfquote, Krankenhauseinweisungen, Belegung der Intensivstationen und weiteren Faktoren als ausschlaggebend bestimmen. Möglich ist auch, dass Bund und Länder dem RKI entgegenkommen und der Inzidenz weiter eine zentrale Rolle zugestehen – aber mit neuen Schwellenwerten. 200 könne dann die neue 50 werden, mutmaßen manche Landespolitiker – auch für die Schulen? 

 

Selbst dann müssten sich die Länder auf einen gemeinsamen Kurs einschwören und ihn auch gegen Kritik durchhalten – denn eine gesamtgesellschaftliche Inzidenz von 200 würde bedeuten, dass der volle Präsenzunterricht auch dann noch stattfände, wenn die Inzidenz in der Altersgruppe der 0- bis 19-Jährigen deutlich oberhalb dieses Wertes läge.

 

Vielleicht dann für die Schulen doch lieber spezielle Schwellenwerte in Abhängigkeit allein von den Krankenhauseinweisungen unter Schülerinnen und Schülern? Das wäre vermutlich die evidenzbasierteste und altersgruppengerechteste Lösung. Zur Einordnung: Die Wahrscheinlichkeit für ungeimpfte 0- bis 14-Jährige, wegen einer Corona-Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen, liegt aktuell ein gutes Drittel so hoch wie bei den größtenteils geimpften 60- bis 79-Jährigen. So kamen nach vorläufigen RKI-Zahlen in der vergangenen Kalenderwoche 18 Einweisungen auf 11,5 Millionen Kinder und Jugendliche, während 76 60- bis 79-Jährige stationär behandelt werden mussten (von insgesamt 18,2 Millionen Menschen in dieser Altersgruppe). 

 

Hessen prescht vor, will es
aber nicht so ernst meinen

 

Doch dass die Regierungschefs eine so zielgenaue Lösung für die Schulen beschließen, ist eher unwahrscheinlich.

 

In jedem Fall wundert, dass mit Hessen ein Land schon vor der MPK-Abstimmung seine Grenzwerte für den Wechselunterricht im neuen Schuljahr festgelegt hat. Das Landeskabinett beschloss vergangene Woche das hessische "Eskalationsgesetz", demzufolge oberhalb einer Inzidenz von 100 Wechselunterricht angeordnet werden müsste. Doch betont ein Sprecher von Kultusminister Alexander Lorz (CDU) auf Anfrage: "Ob die Regel im Lichte der aktuellen Debatte zur Aussagekraft von Inzidenzwerten am Ende auch so kommen wird, ist etwas anderes." Ministerpräsident Volker Bouffier habe sich bereits dahingehend geäußert, dass der Inzidenzwert nicht mehr die Aussagekraft besitze wie im zurückliegenden Winter, er aber eine bundesweite Klärung anstrebe, bevor über den Wert 100 und den Wechselunterricht abschließend final entschieden werde. 

 

Schleswig-Holstein hat dagegen seine bisherigen (befristeten) Inzidenz-Regelungen nicht verlängert. Man wolle vor weitergehenden Pläne zum  Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen die aktuelle Debatte berücksichtigen. "Der Inzidenzwert jedenfalls ist als Kriterium in den nächsten Monaten nicht mehr geeignet", sagt Ministerin Prien. "Jetzt ist es an der Zeit, dass die Gesellschaft Solidarität mit Kindern und Jugendlichen zeigt. Eine realistische Risikobewertung muss dabei die Belange der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund stellen."

 

In einigen anderen Bundesländern, Baden-Württemberg etwa, gilt die 100er-Regel, die Teil der ausgelaufenen Bundesnotbremse war, weiter, sie wurde allerdings nicht neu bekräftigt. Und auch im Stuttgarter Kultusministerium heißt es, man gehe davon aus, dass es noch zu einer Überarbeitung der Corona-Verordnung kommen werde – bis zum Beginn des neuen Schuljahrs, das in Baden-Württemberg erst Anfang September beginnt. 

 

Dort hat man also Zeit. In den Bundesländern, wo die Schule demnächst losgeht und Urlaubsrückkehrer die Infektionsraten hochtreiben, wird man dagegen zunehmend ungeduldig. Denn auch der 10. August ist zwar schon in elf Tagen, in der Pandemie-Zeitrechnung aber dennoch noch ziemlich weit weg. Beispiel Hamburg: In den vergangenen elf Tagen stieg die Inzidenz um 103 Prozent. Ging es so weiter, läge sie am Tag der MPK bei 61. Und würde am 18. August die 100 übersteigen. Welche Regelung wohl bis dahin gilt?


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