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Zurück in die Gesellschaft

Die deutsche Forschungslandschaft ist starr und geprägt von selbstreferenziellen Scientific Communities. Das kann so nicht bleiben. Wir müssen die Wissenschaft endlich wieder stärker am gesellschaftlichen Nutzen ausrichten. Ein Gastbeitrag von Andreas Knie und Dagmar Simon.

Illustration: Gerd Altmann / Pixabay.

IN DEUTSCHLAND hat die öffentlich-rechtliche Wissenschaftslandschaft in den vergangenen Jahrzehnten einen bislang nicht gekannten Aufwuchs von Mitteln erfahren. Die Exzellenzinitiative, die Hochschulpakte und der Pakt für Forschung und Innovation dokumentieren zusammen mit der Projektförderung durchs BMBF den starken Anstieg der öffentlichen Zuwendungen. 

 

Doch eben weil der Aufwuchs hauptsächlich auf die erwähnten Paktmittel zurückzuführen ist, bleiben die Grundmittel der Hochschulen chronisch unterfinanziert. Die Schere zwischen der großzügigen Ausstattung der außeruniversitären Forschung, verbunden mit einem gesicherten jährlichen Zuschlag, und der prekären Finanzsituation vieler Hochschulen ist weiter groß und wird tendenziell sogar noch größer. Mit Folgen für die strategische Planungsfähigkeit.

 

Inklusive der Ausgaben der gewerblichen Wirtschaft hat Deutschland im Jahr 2018 104,7 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert. Das entspricht einem Zuwachs von 106 Prozent gegenüber den 50,8 Milliarden, die 2007 aufgewendet wurden. Der Anteil der FuE -Ausgaben an der Wirtschaftsleistung wuchs im selben Zeitraum von 2,41 auf 3,13 Prozent, wovon alleine 2,16 Prozentpunkte auf die Wirtschaft entfielen. Der Anstieg der FuE -Ausgaben seit 2000 betrifft laut Gemeinsamer Wissenschaftskonferenz (GWK) alle drei Sektoren. 


Andreas Knie ist Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor an der TU Berlin. Am WZB leitet er die Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung".

Dagmar Simon ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin von EVACONSULT.

Bis 2016 war sie Leiterin der Forschungsgruppe "Wissenschaftspolitik" am WZB.

Fotos: privat.



2019 ergaben sich im Bereich der öffentlichen Forschungsförderung von Bund und Ländern gewichtige Änderungen. Der "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" als Nachfolger der Hochschulpakte wurde verstetigt, der "Pakt für Forschung und Innovation" wurde in seiner vierten Phase bis 2030 geschlossen, hinzu kommt die Einrichtung einer Stiftung "Innovation in der Hochschullehre", die ebenfalls dauerhaft die Exzellenz in der Lehre fördern soll. 

 

Auf den ersten Blick sieht damit alles gut aus. Man darf sich allerdings nicht täuschen lassen. Das deutsche Wissenschaftssystem ist zwischen Ressortforschung, Hochschulen und außeruniversitärer Forschung ausdifferenziert, aber in den Forschungspraktiken zu starr, zu disziplinär, zu selbstreferenziell orientiert und vor allen Dingen für die beruflichen Perspektiven viel zu unattraktiv. Über 90 Prozent der wissenschaftlichen Beschäftigten sind an Hochschulen befristet – ohne Aussicht, dass sich dies substanziell ändert.

 

Forschung genügt sich in Deutschland in erster Linie selbst und ist attraktiv für die Menschen, die "drinnen" sind. Der Einfluss der Scientific Communities ist in der Forschungsförderung ungebrochen: sowohl in der Selbstverwaltung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als auch in allen relevanten wissenschaftspolitischen Einrichtungen wie wie den Akademien, der HRK oder dem Wissenschaftsrat. Entsprechend dominiert in der Forschungsförderung die Orientierung an innerwissenschaftlichen Qualitätskriterien – was Folgen für den wissenschaftlichen Output hat: Denn auch wenn der Erfolg von BioNTech, eines im Rahmen eines BMBF Förderprogramms Go-Bio entstandenen Unternehmens, derzeit gern hergenommen wird, um das Gegenteil zu beweisen, sollte man ihn in Wahrheit nicht überbewerten.

 

Strukturprobleme der
deutschen Wissenschaftslandschaft

 

Vergleichbare Beispiele sind nämlich extrem selten: Der hohe Mittelaufwand materialisiert sich bislang zu wenig in Beiträgen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme noch in neuen wettbewerbsfähigen Dienstleistungen oder Produkten. Angebotene Lösungen der öffentlich-rechtlichen Forschung in Feldern, die von hoher gesellschaftlicher Relevanz sind wie die Bekämpfung des Klimawandels, nachhaltige Mobilität, die Resilienz von Infrastrukturen sowie der Abbau sozialer Ungleichheit, sind zu wenig erkennbar. Währenddessen steigt die Zahl der Artikel in hochangesehenen referierten Zeitschriften umso stärker.



Diese Schieflage ist eine Folge der gegenwärtigen Strukturen unseres Wissenschafts- und Forschungssystems, das Wissenschaft immer noch als elitäres System von wenigen und nicht als moderne Form der Wissensproduktion von vielen begreift. Dies kann nicht über Nacht verändert werden, sollte aber von einer nach der Bundestagswahl neu ausgerichteten Wissenschafts- und Forschungspolitik stärker adressiert werden:

 

Die Reputationsordnung ist in Deutschland hauptsächlich auf die disziplinäre Peer-to-Peer Bewertung ausgerichtet. Inter- und transdisziplinäre Formen der Wissensproduktion gewinnen zwar an Bedeutung, aber in den wissenschaftlichen Kerninstitutionen fehlen inter- und transdisziplinäre Bewertungskulturen, die auch die Anerkennung von pluralen Karriereverläufen implizieren.

 

Spätestens mit der Exzellenzinitiative zeigte sich, dass auf die Frage, wie die Wissenschaftslandschaft sich weiterentwickeln soll, weiter keine klare Antwort existiert. Will man durch Profilbildungen tatsächlich eine ausdifferenzierte Hochschullandschaft erreichen, die auch andere Ziele als die der exzellenten Grundlagenforschung honoriert?  Oder geht es darum, dass sowohl Hochschulen als auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen von allem etwas betreiben sollen (Forschung, Lehre, Transfer, Internationalisierung, regionale Bezüge, unternehmerisches Handeln)? Das vermeintliche Zauberwort zur Überwindung dominanter Orientierungen vor allem der Universitäten an dem disziplinär geprägten Reputationsregime heißt Kooperationen. Es besteht dabei aber die Gefahr, dass allseitig die Kooperationen noch zusätzlich die Unklarheit und Unentschlossenheit verklären, wie eine Rollen- und Funktionsdifferenzierung überhaupt aussehen könnte.

 

Eine moderne Personalentwicklung findet in der öffentlich finanzierten Wissenschaft so gut wie gar nicht statt. Abgesehen von Förderprogrammen, die zum Beispiel die Einrichtung von Tenure Track-Optionen an einzelnen Universitäten adressieren, bleiben die beruflichen Entwicklungsperspektiven für die Postdocs sehr begrenzt, ein Denken in Karrieresystemen befindet sich in den allerersten Anfängen. Darüber hinaus ist das System einseitig auf die Professur ausgerichtet, die für die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler/innen objektiv kein erreichbares Ziel darstellt. Es fehlen ein professionelles Verständnis von Wissenschaft als Beruf und die dafür möglichen Karrierewege;

 

Der Zugang zum Wissenschaftssystem ist asymmetrisch und verkrustet. Eliten reproduzieren und stabilisieren sich selbst (knapp 90 Prozent der Absolventen eines medizinischen Fachabschlusses in Chirurgie haben mindestens ein Elternteil mit dem gleichen Abschluss), es gibt zu wenig Durchlässigkeit und kaum Möglichkeiten zur Teilhabe bereiter sozialer Gruppen.

 

Neue Akteure und

neue Bewertungsregime 

 

Auf der strukturellen Ebene fehlen dem deutschen Wissenschaftssystem fließende (institutionelle) Übergänge von Grundlagenforschung, anwendungsorientierter Forschung und unternehmerischen Handelns, die sowohl für die Innovationsfähigkeit als auch für die Ausrichtung an gesellschaftliche Fragestellungen (was keineswegs eine Orientierung an wissenschaftlichen Qualitätskriterien außer Kraft setzt) eine notwendige Voraussetzung wären. Erfolge können strukturelle Veränderungen nur zeitigen, wenn die Bewertungs-, Reputations- und Karrieresysteme auch eine Orientierung auf gesellschaftliche Relevanzkriterien honorieren und nicht nur innerwissenschaftliche Erfolge.  

 

Mehr noch: Die Governance, also die Finanzierungsformen, Anreizstrukturen, Organisations- und Evaluationspraktiken wissenschaftlicher Arbeit, muss neben innerwissenschaftlichen Perspektiven ebenfalls gesellschaftliche Relevanzaspekte inkludieren – und zwar in einer Weise, die sich für die Wissenschaft "auszahlt". Politischen Druck auf das System auszuüben, funktioniert nicht.

 

Das Peer Review als wissenschaftliches Qualitätssicherungsinstrument bleibt für moderne Wissenschaft zwar konstitutiv, es muss aber durch eine weiteres Instrument erweitert werden,  das die Qualität der gesellschaftlichen Relevanz bewertet, so dass es zu einer doppelten Validierung kommt. Reputation, Ressourcenzuführungen und Karriereverläufe sind damit auch nach dem gesellschaftlichen Nutzen wissenschaftlicher Ergebnisse auszurichten. Im Kern geht es darum, die bestehende wissenschaftliche Bewertung durch externe Impulse und einen breiteren Orientierungsrahmen zu ergänzen. 

 

Die staatliche Forschungsförderung
muss ebenfalls auf den Prüfstand

 

Dabei muss auch die Art der Forschungsförderung durch die Ministerien auf den Prüfstand. Es ist zu überlegen, ob beauftragte Forschungsagenturen mit strategischer Ausrichtung nicht besser geeignet wären, um einen veränderten Orientierungsrahmen zu entwickeln und zu gewährleisten. Auch die strategische Ausrichtung der DFG und ihrer zentralen Bewertungsmechanismen sollten in diesem Zusammenhang überdacht, die Zusammensetzungen ihrer Gremien erweitert werden.

 

Anzuregen wäre darüber hinaus, dazu den Wissenschaftsrat zu einem Deutschen Forschungsrat auszubauen, in dem neben der Wissenschaft und der Politik gesellschaftlich relevante Interessensgruppen bei der Bewertung der vorgelegten Ziele nicht nur Legitimationsrollen einnehmen, sondern maßgeblich in Strategie- und Bewertungsprozesse einbezogen werden. 

 

Es wäre trotz alldem nicht davon auszugehen, dass rasch eine neue Anerkennungskultur etabliert werden kann, aber die Begründungs- und Rechtfertigungsaufwände der Wissenschaft würden sofort steigen, die strategischen Programme wären neu zu justieren.

 

Neue wissenschaftpolitische Akteure sind auf den Plan getreten, Citizen Scientists,  Vertreter der Zivilgesellschaft, von NGOs oder Spin-offs wollen in der Wissenschaft und Wissenschaftspolitik mitwirken. Sie effektiv, nachhaltig und auf Augenhöhe in die Programmorientierungen von Forschung und in die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen einzubinden, ist eine neue Aufgabe für die Wissenschaftspolitik. Zugleich ist es die Chance, gesellschaftliche Orientierungen in Wissenschaft und Forschung wirkungsmächtiger einzubauen. Dabei entstehen auch Anreize für plurale Karriereentwicklungen. Das System würde gleichsam vom Kopf wieder auf die Füße gestellt und von einer viel zu enggeführten Selbstreferenzialität in die Gesellschaft zurückgeführt – mit einer breiteren Verankerung für neue Berufsbilder in der Wissenschaft zwischen Lehre, Vermittlung und Forschung.

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Kommentare: 3
  • #1

    Uwe Gebhardt (Dienstag, 17 August 2021 11:13)

    Mal ein Beispiel: Wie würde man denn die bei Herrn Dr. Wiarda (zurecht) scharf kritisierte, disaströse statistische Erfassung im deutschen Corona-System über eine solche Förderung verbessern? Wie geschieht das denn etwa im UK?

  • #2

    lN2 (Dienstag, 17 August 2021 11:19)

    Bei allem Respekt für die beiden Autoren, der Text strotzt vor unbelegten, tendenziösen und wissenschaftlich nicht belegten Aussagen: „Das deutsche Wissenschaftssystem ist zwischen Ressortforschung, Hochschulen und außeruniversitärer Forschung ausdifferenziert, aber in den Forschungspraktiken zu starr, zu disziplinär, zu selbstreferenziell orientiert und vor allen Dingen für die beruflichen Perspektiven viel zu unattraktiv.“ So eine Aussage kann man machen, richtig ist sie deshalb noch lange nicht. Interdisziplinarität wird zumindest in den Natur- und Ingenieurwissenschaften schon seit Jahren stark gefördert und gelebt. Selbstreferenziell ist auch der Artikel, geschrieben von einer Geschäftsführerin einer Beratungsagentur, die die Beteiligung von Forschungsagenturen beim wissenschaftlichen Entscheidungsprozess fordert, und über Nachwuchsmangel kann sich die Wissenschaft nicht beklagen. Weiter: „Angebotene Lösungen der öffentlich-rechtlichen Forschung in Feldern, die von hoher gesellschaftlicher Relevanz sind wie die Bekämpfung des Klimawandels, nachhaltige Mobilität, die Resilienz von Infrastrukturen sowie der Abbau sozialer Ungleichheit, sind zu wenig erkennbar.“ Angebote existieren, Forschung auf diesen Gebieten wird an nahezu allen Standorten mit großem Erfolg betrieben, allein für die riskante Umsetzung in wirtschaftliche Lösungen fehlt der unternehmerische und politische Wille. Dies ist kein Strukturproblem der Forschungslandschaft! Man mag über die Bewertungspraxis in der Wissenschaft kontrovers diskutieren, die wissenschaftliche Redlichkeit vorausgesetzt ist das Peer-Review-Verfahren immernoch durch den kleinstmöglichen Fehlerbalken charakterisiert. Die Beteiligung von Agenturen und weiteren „Gesellschaftsvertretungen“ würde den Einfluß von Partikularinteressen erhöhen und eben nicht für die bestmöglichen Entscheidungen sorgen.

  • #3

    R.S. (Donnerstag, 26 August 2021 12:15)

    Das deutsche Wissenschaftssystem erinnert gerade in seiner Gremienstruktur tatsächlich immer noch an die alte "Deutschland AG", wo "man" sich kannte und "man" auch gerne unter sich blieb, um Dinge "im kleinen Kreis" zu regeln. Insofern ist es eine Auseinandersetzung von Innen und Außen, so wie die Autoren es darstellen, die Debatten um die "Deutsche Transfergemeinschaft", die es in Ergänzung zur DFG geben soll, zeigen es beispielhaft, von den katastrophalen Befristungsverhältnissen zu schweigen.

    Mir scheint nur, dass in der Darstellung aus Sicht der Wissenschaftskommunikation noch etwas fehlt: Wissenschaft wird auch durch die Digitalisierung immer exkludierender, nicht nur durch Strukturprobleme. Wir haben ja gegenwärtig die Situation, dass die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts ihre Ergebnisse mit Mitteln des 17. Jahrhunderts kommunizieren muss. Das funktioniert nicht besonders gut - allein die hohe Anzahl an zurückgezogenen Artikel gerade bei hochrangigen Journals zeigt, dass allzu oft nicht mal die Reviewer überblicken, was sie da begutachten sollen - der Weg vom Labor zum Dokument ist vor allem bei datenintensiver Forschung einfach zu weit, es gibt zu große "Übersetzungsverluste", die Manipulationen und Verzerrungen jede Tür öffnen. Gleichwohl wird die Illusion gepflegt, dass man sich doch wunderbar informieren könnte - "Steht doch da - lies halt!" Das gehört dann zu den elitären Verkrustungen, die in dem Beitrag aufgespießt werden. Würde das Ganze zeitgemäßer, wäre dann zwar der Wissenschaft geholfen, der Gesellschaft aber immer noch nicht unbedingt. In den datengetriebenen Wissenschaften würde dann ja über eine Art GitHub kommuniziert, damit man direkt Daten, Code und Dokumentation im Zugriff hat und bruchlos weiterarbeiten kann. Damit fängt der interessierte Laie in der Regel aber auch nichts an - wenn man dem Sequenzdaten vorlegt, was hilft das? Es hilft der Wissenschaft, die schneller, qualitätvoller und gesicherter wird, wenn die Verlage als Intermediäre, die heute alle ihre eigene, nicht wissenschaftsförderliche Agenda verfolgen, draußen wären. Aber für die breite Öffentlichkeit bräuchte es weiterhin eine Pufferschicht oder eine Art Babelfisch, um das Ganze aufzuschließen. Bibliotheken als Informationsvermittler könnten hier eine dem digitalen Zeitalter angemessene Rolle finden, anstatt nur das Helferlein für die Verlage zu spielen. Aber die wenigsten haben sich hier bislang auf den Weg gemacht.