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Zukunftsthema Strahlenschutz

Deutschland steigt aus der Kernenergie aus. Braucht es da noch ein Bundesamt für Strahlenschutz? Unbedingt, sagt Amtschefin Inge Paulini. Ein Interview über Röntgentherapien, 6G und die Energiewende – und über kurzsichtige Forschungsförderung und den Wert von Vorlaufforschung.

Strahlenschutz bedeutet auch Vorlaufforschung für Zukunftstechnologien.

Foto: Thomas Wolter / Pixabay.

Frau Paulini, das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) wurde nach der Tschernobyl-Katastrophe gegründet. Tschernobyl ist 35 Jahre her, und in Deutschland gehen nächstes Jahr die letzten Kernkraftwerke vom Netz. Verliert das BfS seine Existenzberechtigung? 

 

Beim Strahlenschutz geht es doch nicht nur um Tschernobyl und Fukushima. Strahlung ist überall, sie umgibt uns, war immer da und wird immer da sein.

 

Sie reden von der natürlichen Strahlung aus der Natur, aus dem Weltraum, von der Sonne. Ändert die sich denn so großartig? Immerhin hat die Menschheit sie auch Tausende von Jahren ohne BfS überlebt. 

 

Ja, aber es sind auch viele Menschen an den Folgen der natürlichen und künstlichen Strahlung erkrankt oder gar gestorben. Und damit meine ich nicht die Kernenergie. Der Strahlenschutz hat das geändert. Das hohe Strahlenschutzniveau müssen wir erhalten. Unsere Aufgabe ist es, die Auswirkungen von Strahlung auf die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zu erforschen, zu bewerten und die Politik und Gesellschaft zu beraten. Im Übrigen muss ich Sie korrigieren: Auch die Folgen der Kernenergie werden uns lange begleiten. Tschernobyl mag über drei Jahrzehnte her sein, aber das entspricht gerade einmal der Halbwertzeit von Cäsium, das damals mit der radioaktiven Wolke bis Deutschland kam. Immer noch kommt es dadurch in Deutschland vereinzelt zu erhöhten Strahlenbelastungen zum Beispiel in Pilzen. 

 

"Wir müssen unsere  Themen und

Aufgaben noch verständlicher

in die Breite kommunizieren."

 

Stört es Sie, dass Strahlenschutz und auch das Bundesamt für Strahlenschutz in der Öffentlichkeit häufig auf die Atomkraft-Debatte reduziert wird? 

 

Die Reduktion von Strahlung auf das Thema Kernenergie ist zu kurz gegriffen. Wir verstehen dies aber auch als Ansporn, unsere Themen und Aufgaben noch verständlicher in die Breite zu kommunizieren. Es ist zum Beispiel so, dass einen großen Teil unserer Arbeit inzwischen die sogenannte Vorlaufforschung ausmacht: Wir beobachten neue technologische Entwicklungen und wir bewerten ihre Wirkungen und Risiken aus Sicht des Strahlenschutzes.


Inge Paulini ist Toxikologin und Ernährungswissenschaftlerin. Seit 2017 ist sie Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Vorher war sie Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).



Das klingt fast so, als hätten Sie die Kernenergie, einst das BfS-Kernthema, gedanklich schon hinter sich gelassen. 

 

Wenn Ende 2022 die letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet werden, heißt das nicht, dass sie uns nicht mehr beschäftigen werden. Sie müssen zurückgebaut und die radioaktiven Abfälle endgelagert werden, was Jahrzehnte dauern wird. Aber es ist ja nicht so, dass auch alle anderen Länder aus der Atomenergie aussteigen. Wir müssen also weiter auf mögliche nukleare Notfälle vorbereitet sein. 

 

Vor einigen Jahren ist das ehemalige BfS aufgespalten worden, das ganze Thema Endlagerung der radioaktiven Abfälle ist ans BASE gegangen, das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung.

 

Durch die Umorganisation der Endlagerung konnte auch das BfS sich neu ausrichten. Unser Fokus liegt jetzt auf Themen wie Radon, medizinischem Strahlenschutz, Notfallschutz, UV-Strahlung und elektromagnetischen Feldern. Wir beschäftigen uns mit den Strahlenschutz-Aspekten der großen Themen: Digitalisierung, Klimawandel, Mobilität, Medizin. Alles Themen, die wir schon vorher hatten, die aber jetzt aus dem Schatten der Kernenergie getreten sind. Das verdeutlicht auch, dass Strahlenschutz ein wichtiger Teil der laufenden Transformation ist und bleiben wird. 

 

Machen Sie das doch mal konkret.

 

Ich würde gerne erst nochmal einen Schritt zurückgehen. Sie hatten eingangs gesagt, dass Strahlung schon immer da war und die Menschheit immer begleitet hat. Ein in der Bevölkerung noch wenig bekanntes Thema ist das radioaktive Gas Radon, das aus dem Untergrund kommt, sich in Arbeits- und Wohnräumen anreichern und zu Lungenkrebs führen kann. Wer eine Messung durchführt, kann ermitteln, ob er betroffen ist und Gegenmaßnahmen einleiten. Und Radon ist hier nur ein Beispiel, es gibt andere natürliche Strahlenquellen, die wir genauso im Auge behalten und weiter erforschen müssen. 

 

"Wir wollen und

müssen den Trend

beim Hautkrebs brechen."

 

Zum Beispiel?

 

Sie haben vorhin selbst das UV-Licht der Sonne erwähnt. Je schneller der Klimawandel voranschreitet, desto stärker steigt die Strahlenbelastung, zum Beispiel durch unser verändertes Freizeitverhalten. Die Zahl der Hauttumoren nimmt stetig zu. Wir wollen und müssen den Trend beim Hautkrebs brechen. Dabei geht es nicht nur um die Erforschung des Risikos an sich, sondern um ganzheitliche Schutzkonzepte, wie etwa die systematische Planung schattiger Orte in unseren Städten. Wer Schatten sucht, sollte ihn auch finden. Darüber hinaus müssen wir kommunizieren, wie Menschen sich selbst schützen können. Übrigens kann sich jede Bürgerin und jeder Bürger selbst mit einem Blick auf den UV-Index auf unserer Website über die aktuellen UV-Werte informieren. Auch andere Messdaten stellen wir online zur Verfügung, zum Beispiel zur Umgebungsstrahlung.

 

Und was ist, wenn Sie eine ungewöhnliche Strahlenbelastung feststellen?

 

Wir gehen ungewöhnlichen Messungen natürlich auf den Grund. Unsere Messnetze sind – auch als Reaktion auf den Unfall von Tschernobyl – darauf ausgelegt, dass wir auch frühzeitig im Falle eines nuklearen Notfalls reagieren können. Sollte ein solcher Fall jemals eintreten, koordinieren wir uns mit den anderen zuständigen Bundes- und Landesbehörden. Dafür wurde das Radiologische Lagezentrum beim Bundesumweltministerium eingerichtet, in dem wir vor allem für die Lagebeurteilung und die Messdaten verantwortlich sind. Das Zusammenspiel in unserem föderalen System muss kommunikativ gut vorbereitet sein und regelmäßig geübt werden. Wir schauen natürlich auch auf andere Krisen und lernen aktuell sehr viel durch die Erfahrungen in der Corona-Krise oder in der Flut-Katastrophe. Wir überprüfen kontinuierlich unsere Abläufe und schärfen unsere eigenen Notfallpläne.

 

Dann lassen Sie uns über die Zukunftsthemen reden – oder das, was Sie darunter verstehen.

 

Die Medizin ist da ein wichtiger Bereich. Die Fortschritte in Diagnose und Therapie sind gewaltig – insbesondere auch durch die technologische Entwicklung. Bisher haben wir ja vor allem über natürliche Strahlung gesprochen. Sonne und Radon. Im Bereich der künstlichen Strahlung, die wir in der Medizin anwenden, ändert sich die Betrachtungsweise: Wir setzen Menschen willentlich Strahlung aus, um ihre Gesundheit zu schützen. Dafür müssen Nutzen und Risiko streng gegeneinander abgewogen werden. Ein Thema im Bereich der Früherkennung ist zum Beispiel das Mammographie-Screening durch Röntgen, dort haben wir ein großes Evaluierungsprogramm gestartet. Parallel schauen wir aber auch schon, wie wir die gewonnenen Erkenntnisse auf die Früherkennung anderer Krankheiten wie Osteoporose oder Lungenkrebs übertragen können. 

 

Da sind wir dann auch schnell im Bereich der Digitalisierung.

 

Auch mit der zunehmenden Vernetzung beschäftigen wir uns im Strahlenschutz, denn die geht einher mit elektromagnetischen Feldern. Durch die Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G ist gerade der Mobilfunk ein großes Thema. Und auch der nächste Technologiesprung – 6G – wird schon vorbereitet. Es bestehen keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Nutzung von Mobilfunk-Technologien zu gesundheitlichen Wirkungen oder Schäden führt. Das gilt auch für 5G. Bei höheren 5G-Frequenzen über 20 Gigahertz gibt es weniger belastbare Studien, daran wird aktuell von uns und anderen geforscht. Genau wie bei der Energiewende: Auch der Ausbau der Stromnetze geht einher mit elektromagnetischen Feldern. Und da können wir klar sagen: Bei Einhaltung der gesetzlich festgelegten Grenzwerte haben wir keine Risiken zu befürchten. Verbliebene offene Fragen und neue technologische Entwicklungen verfolgen wir mit einem eigenen Forschungsprogramm. 

 

Wie ist das eigentlich mit Elektroautos? Die müssten doch eigentlich auch strahlen.

 

Die E-Mobilität ist auch ein Transformationsthema, das wir aufmerksam begleiten. Welche Felder entstehen im Auto beim Betrieb oder beim Laden, und wo genau im Auto messen wir welche Feldstärken? Wie sind Mitfahrer exponiert? Sind die bestehenden Schutzkonzepte ausreichend oder besteht Handlungsbedarf? Das gilt es zu erforschen, und das tun wir.

 

 

"Wir brauchen die Fachkräfte,

wir brauchen die Forschung."

 

So, wie Sie darüber berichten, klingt das alles sehr wichtig und spannend. Trotzdem haben Sie Probleme, junge Wissenschaftler für Strahlenschutz als Forschungsgebiet zu gewinnen. 

 

Das ist eine ganz, ganz große Herausforderung: Deutschland besitzt ein hohes Strahlenschutzniveau und wir sind international noch führend bei der Strahlenforschung. Auch in den internationalen Gremien ist der deutsche Strahlenschutz gut vertreten. Doch wir beobachten zunehmend einen Kompetenzverlust: er betrifft den Rückgang an Forschungsgeldern genauso wie die geringer werdende Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in unserem Forschungsfeld. Das betrifft  neben dem BfS auch viele Ministerien und technische Einrichtungen in Bund und Ländern, Universitäten und Forschungsinstitute, aber auch Unternehmen. Sie alle brauchen Menschen, die sich mit Strahlenschutz auskennen, nicht nur mit nuklearer Sicherheit, sondern mit dem Strahlenschutz in seiner gesamten von mir beschriebenen Breite. Im Zuge des Atomausstiegs ist die Attraktivität des Forschungsfelds für viele offenbar gesunken. Dabei geht es im Strahlenschutz ja um soviel mehr als um die Kernenergie – ich hoffe, das konnte ich verdeutlichen. Wir brauchen die Fachkräfte, wir brauchen die Forschung. 

 

Was muss Ihres Erachtens passieren?

 

Grundsätzlich denke ich als Wissenschaftlerin, dass die Gesellschaft eine breite wissenschaftliche Basis benötigt, um mit gesellschaftlichen Krisen und Veränderungen umzugehen und sich darauf vorzubereiten. Diese Breite ist schwierig zu bewahren, denn Drittmittel und Forschungsprogramme werden häufig mit Blick auf neue Entwicklungen und drängende Fragen zugeschnitten. Ich kann das anhand des Strahlenschutzes verdeutlichen: Es bedarf eines integrierten Verständnisses in der Forschungsförderung und die Verbindung verschiedener Fächer, etwa Technik, Biologie, Medizin, Wirkungsforschung und Sozial- und Kommunikationswissenschaften. Die Realität ist aber eine andere: Es werden große Forschungsinstitute im Bereich des Strahlenschutzes umgewidmet und es werden eher Leuchttürme in der Spitzenforschung gefördert. Nicht nur wir, sondern auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie die Strahlenschutzkommission, sehen die Bedarfe in der Breite, in der angewandten wie auch in der Vorlaufforschung. 

 

Der Strahlenschutz als Sparopfer?

 

Unser Parlament hat die Finanzhoheit und entscheidet über die Mittelverteilung. Da gibt es immer eine Konkurrenz der Haushaltsprioritäten. Wenn bei der Strahlenforschung eingespart wird in dem Glauben, wir steigen aus der Kernenergie aus, die brauchen wir nicht mehr, ist das eine falsche Prioritätensetzung. Ich vermute, sie beruht darauf, dass die Kernkraft in der Vergangenheit alle wichtigen Themen des Strahlenschutzes im wahrsten Sinne "überstrahlt" hat. Strahlung wurde lange mit Kernenergie gleichgesetzt und die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit ist durch den Atomausstieg gesunken. Gemeinsam mit anderen sagen wir im BfS: Strahlenforschung ist Zukunftsforschung.

 

Das BfS ist eine sogenannte Ressortforschungseinrichtung. Sehen Sie sich vor allem als nachgeordnete Behörde des Bundesumweltministeriums oder als Forschungsinstitut?

 

Wir sind beides: Wir haben hoheitliche Aufgaben, die uns per Gesetz übertragen wurden wie zum Beispiel Notfallschutz, Politikberatung und öffentliche Kommunikation. Doch damit wir diese Informationsleistung erbringen können, müssen wir forschen: im eigenen Haus und indem wir Forschungsaufträge vergeben. Die Ergebnisse unserer – und auch anderer – Forschung müssen wir dann bewerten, wofür wir Teil der Forschungscommunity und des wissenschaftlichen Diskurses sein müssen. Forschung vor dem Hintergrund des Schutzgedankens, der Blick auf die Anwendung, das ist der Unterschied der Ressortforschung gegenüber der Grundlagenforschung. 

 

"Wie stärken wir die Resilienz

unserer Gesellschaft?"

 

Wo bleibt da die Forschungsfreiheit?

 

Die Forschungsfreiheit ist im Zuge unserer Ressortforschung, also der angewandten Forschung, natürlich gewährleistet. Das ist so selbstverständlich wie wir auch die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis beachten. Aber das heißt nicht, dass jede Forschung durchgeführt werden kann. Mit dem Bundesumweltministerium einigen wir uns auf die Forschungsthemen und erstellen den Ressortforschungsplan. Für die Durchführung der Forschungsvorhaben gelten die wissenschaftlichen Standards: Unsere Forschung muss ergebnisoffen und belastbar sein, sonst könnten wir keine adäquate Beratung darauf aufbauen. 

  

Würden Sie sich da nicht manchmal mehr Bewegungsspielraum wünschen?

 

Ressortforschung folgt ja einem bestimmten Zweck und dient der Beratung der Politik. Das ist aus meiner Sicht sehr sinnvoll. Die für mich wichtigere Frage ist eine andere: Wie stärken wir die Resilienz unserer Gesellschaft? Dass das erforderlich ist, zeigen die aktuellen Krisen gerade wieder deutlich. Die dafür nötigen Kompetenzen müssen langfristig aufgebaut und erhalten werden. Gerade in einer sich wandelnden Gesellschaft und angesichts einer rasanten technischen Entwicklung müssen wir Wirkungen und Risiken von Beginn an mitdenken, erforschen und abwägen. Da bin ich dann wieder beim Strahlenschutz und der Strahlenforschung, die gestärkt werden sollte. 



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