Die Zahl der deutschen Studienanfänger in Großbritannien ist um 50 Prozent eingebrochen, meldet der britische Zulassungsservice. Was das mit dem Brexit zu tun hat und warum ausgerechnet der Erasmus-Austausch noch floriert, sagt Stephan Geifes vom DAAD.
Stephan Geifes ist Direktor der Nationalen Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im Deutschen Akademischen Austauschdienst. Foto: DAAD.
Herr Geifes, die Zahl der deutschen Studierenden an britischen Universitäten sinkt rasant. Laut Universities & College Admissions Service (UCAS) haben zum Herbstsemester nur 820 Deutsche einen neuen Studienplatz an einer britischen Hochschule erhalten – halb so viele wie die 1650 vor einem Jahr. Ist der Brexit schuld?
Natürlich hat der Brexit damit zu tun. Aber ich warne davor, die vom UCAS angegebenen Zahlen als Abbild des gesamten Studierendenaustausches mit dem Vereinigten Königreich misszuverstehen.
Wie meinen Sie das?
Der UCAS gibt die Zahl der sogenannten "degree-seeking students" an, die sich für ihr gesamtes Studium im Land einschreiben. Sie machen jedoch nur einen Teil der deutschen Studierenden im Vereinigten Königreich aus. Über Erasmus kommen weitere 5000 pro Jahr, und nochmal 1000 gehen mit dem DAAD auf die Insel. Sie bleiben nicht für das ganze Studium, sondern für ein oder zwei Auslandssemester, und bei ihnen ist die Nachfrage nach dem Brexit ungebrochen hoch.
Verlässt Großbritannien mit dem EU-Austritt nicht auch das EU-Austauschprogramm Erasmus?
Die Programmgeneration, die bis Ende 2020 dauerte, war zwar die letzte unter Beteiligung des Vereinigten Königreichs. Doch die Bewilligungen laufen über mehrere Jahre, so dass noch bis einschließlich Sommersemester 2023 Förderungen möglich sind. Und danach folgt im neuen Erasmus-Programm eine weltweite Öffnung des Programms. Damit können EU-Studierende auch ins Vereinigte Königreich.
"Die Selbstverständlichkeit
der Zusammenarbeit ist weg."
Der Ausstieg Großbritanniens aus Erasmus tut dem deutsch-britischen Studierendenaustausch also gar nicht so weh?
Doch! Nach all den Jahren des intensiven und unkomplizierten Austauschs zwischen unseren beiden Ländern ist durch neue bürokratische Hürden, Visa, Versicherungsfragen und Studiengebühren die Selbstverständlichkeit dieser Zusammenarbeit weg. Welche Auswirkungen das langfristig und vor allem auf neue Kooperationen haben wird, ist heute noch gar nicht abzuschätzen. Über Erasmus weltweit können zwar auch zukünftig Deutsche weiter auf die britischen Inseln gehen, doch steht die Destination Großbritannien dabei in Konkurrenz zum Rest der Welt. Außerdem haben britische Austauschstudierende von 2023 an umgekehrt nicht dieselben Möglichkeiten. Das britische Turing-Programm, das Erasmus ersetzen soll, ist bei weitem nicht so umfangreich, so dass viel weniger Briten werden kommen können. Außerdem gibt es eine Besonderheit beim bisherigen Erasmus-Austausch mit dem Vereinigten Königreich: Von den 5000 Deutschen pro Jahr gingen neben 3500 für einen Studienaufenthalt weitere 1500 für ein Praktikum. Und für Praktika braucht man künftig ein Arbeitsvisum, das führt schon im laufenden Wintersemester zu empfindlichen Einbrüchen. So, wie die Bürokratie überhaupt zum Hindernis wird.
Warum sind denn bislang überhaupt so viele Studierende für ein Praktikum nach Großbritannien gegangen?
Weil die Austausch-Studienplätze an britischen Hochschulen schon immer europaweit begehrt und entsprechend knapp waren, die jungen Leute aber trotzdem einen Auslandsaufenthalt im Vereinigten Königreich wollten und sich ersatzweise einen Praktikumsplatz gesucht haben. Was zwar für viele erstmal eine Verlegenheitslösung war, aber trotzdem eine einmalige Erfahrung und Einblicke in die internationale Arbeitswelt gewährte, die künftig fehlen werden. Das ist schon bitter.
Wenn es aber weiter stabile Zahlen im Erasmus-Austausch trotz Brexit gab, warum ist das bei den "degree-seeking students", die ein Vollstudium absolvieren wollen, anders?
Weil sich für sie die Rahmenbedingungen sofort und unmittelbar geändert haben – und zwar signifikant. Sie müssen nun drei- bis viermal so hohe Studiengebühren zahlen, weil sie jetzt als internationale Studierende gelten und nicht mehr wie bis zum Brexit den einheimischen Studienanfängern gleichgestellt sind, die die weitaus niedrigeren "home tuition fees", also Studiengebühren, zahlen.
Von welchen Beträgen reden wir?
Die Hochschulen legen die Höhe selbst fest, aber wir reden von vielen tausend Pfund pro Jahr, die jetzt zusätzlich anfallen. Bisher waren es für einen Master rund 11.000 Euro Studiengebühren im Jahr. Nun muss man für einen einjährigen Master mit durchschnittlich rund 25.000 Euro rechnen, in laborintensiven Studiengängen wie Pharmazie oder Medizin sogar weit mehr. Bachelor-Studiengänge sind nicht viel günstiger. Übrigens ist der Rückgang um rund 50 Prozent bei den Deutschen noch unterdurchschnittlich. Die Zahl der polnischen Studienanfänger ist sogar um 82 Prozent gesunken, die der Rumänen um 76 und die der Portugiesen um 69 Prozent. In diesen Ländern ist die Zahl der Studierenden, die sich ein Studium in Großbritannien nicht mehr leisten können, offensichtlich noch höher. Das ist für die Studierenden eine Enttäuschung, es ist aber auch für die britischen Universitäten ein großes Problem, weil sie ihre Reputation und ihre akademische Qualität auch auf ihrer internationalen Vielfalt aufgebaut haben.
Die Erklärung mit den Studiengebühren liegt nahe, aber gibt es nicht noch eine andere Erklärung? Corona hat den Studierendenaustausch doch weltweit abgewürgt, und in Großbritannien war und ist die Infektionsrate vergleichsweise hoch.
Dann hätte der Rückgang aber schon zum Herbstsemester 2020 kommen müssen, und den konnte der UCAS nicht feststellen. 2020 war das letzte Jahr, um das Studium noch zu den niedrigeren Home Tuition Fees zu beginnen, die dann fürs ganze Studium gelten. Auch war es das letzte Jahr, in dem EU-Studierende die britischen Studiengebührenkredite nutzen konnten. Und diese Umstände könnten die Angst vor der Pandemie überwogen haben. Ich bin gespannt, wie sich die Einschreibezahlen bei den Vollzeitstudierenden in den nächsten Jahren entwickeln werden – und welche finanzielle und intellektuelle Bilanz man in London daraus ziehen wird.
Kommentar schreiben