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Weltoffen trotz Corona

Deutschlands Hochschulen haben auch 2020 nicht dichtgemacht für internationale Studierende. Deren Gesamtzahl ist sogar leicht gestiegen im Krisenjahr, wie "Wissenschaft weltoffen" zeigt. Welche Folgen die Pandemie für den internationalen Akademikeraustausch insgesamt hatte, ist allerdings in Teilen noch unklar.

Wie sich die Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland entwickelt hat (links). Und die Ströme des internationalen Wissenschaftleraustauschs (rechts). Infografiken: DAAD, CC BY-SA.

DER DAAD HAT RECHT BEHALTEN. Schon im vergangenen Dezember hatte der Deutsche Akademische Austauschdienst die Angaben von 161 Hochschulen hochgerechnet und prognostiziert: Trotz Corona-Pandemie dürfte die Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland 2020 sogar noch gestiegen sein. Und genau das bestätigt jetzt die heute erscheinende Ausgabe von "Wissenschaft weltoffen 2021": 324.729 Studierende aus dem Ausland waren im Wintersemester 2020/2021 in Deutschland eingeschrieben – immerhin 4.800 mehr als ein Jahr davor. Erfreulich? Ja. Erstaunlich? Ja und nein.

 

"Wissenschaft weltoffen", jedes Jahr erstellt und herausgegeben vom DAAD und dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), ist die statistische Standardpublikation zu Deutschlands internationalem akademischen Austausch, eine Sammlung hunderter möglichst aktueller Datensätze, Tabellen und Analysen. Man könnte auch sagen: "Wissenschaft weltoffen" ist die regelmäßige (und meist schonungslose) Bestandsaufnahme der Beliebtheit, die der Wissenschaftsstandort Deutschland international tatsächlich genießt. 

 

Viertbeliebtestes Zielland
auch im Corona-Jahr

 

Tatsächlich war Deutschland auch im Corona-Jahr das viertbeliebteste Studienland weltweit – nach den USA, Australien und Großbritannien. Und seit dem Brexit zugleich das beliebteste in der Europäischen Union – was der DAAD natürlich heute gleich in seiner begleitenden Pressemitteilung herausstellt. Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland um 80 Prozent gestiegen.

 

So weit, so beeindruckend. Zur Wahrheit, wie "Wissenschaft weltoffen" sie zeigt,  gehört allerdings auch, dass die Zahl der internationalen Studierenden in anderen Top-Ten-Ländern seit 2010 ebenso schnell, teilweise sogar noch schneller gewachsen ist. Relativ gesehen ist Deutschland als internationaler Studienort also nur im Vergleich zu einzelnen Ländern beliebter geworden, insgesamt hat die Bundesrepublik schlicht ihren Teil vom Wachstum des globalen akademischen Austauschs abbekommen. Aber immerhin.

 

Hinzu kommt, dass 2020 zwar die absolute Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland auf einen Rekordwert stieg, zugleich aber die Entwicklung bei den Erstsemestern erwartungsgemäß einbrach. Auch das hatten die DAAD-Hochrechnungen bereits im Dezember gezeigt, jetzt liefert "Wissenschaft weltoffen" die genauen Statistiken: 63.699 ausländische Studienanfänger zählten die deutschen Hochschulen im vergangenen Jahr, gut 15.000 bzw. 19 Prozent weniger als 2019. Dass der DAAD fürs Wintersemester mit einer Stabilisierung rechnet, ist angesichts der Genauigkeit, mit der er im Winter den Rückgang hochgerechnet hatte, hoffentlich auch mehr als nur ein Bauchgefühl. Dazu müsste nämlich auch die Politik die in der Corona-Zeit entstandenen Einreise- und Bürokratiehürden noch weiter abbauen. 

 

Fest steht: Während Deutschland in den vergangenen zehn Jahren beim Wachstum des internationalen Studierendenaustauschs mitgeschwommen ist, so  nimmt es jetzt gleichermaßen am Einbruch teil. Möglicherweise sogar überdurchschnittlich: In Großbritannien etwa ist die Zahl der internationalen Undergraduate-Studierenden trotz Corona und trotz Brexit insgesamt sogar leicht gestiegen – wobei die Zahlen des Universities & College Admissions Service (UCAS) insofern mit Vorsicht zu genießen sind, weil hier nur Vollzeit-Studienanfänger und nicht die klassischen Gaststudierenden erfasst werden. Bei Vollzeit-Studienanfängern war der Rückgang in Deutschland auch geringer (aber immer noch ein Rückgang). Die Schweiz meldet – ebenfalls für das Corona-Jahr – sogar einen Anstieg bei den internationalen Studienanfängern (+7 Prozent). 

 

Das krasse Gegenstück ist Australien, wo die akademische Bildung vor der Pandemie zu den wichtigsten Exportgütern gehörte, das sich aber seit Corona-Beginn international streng abgeschottet hatte. Noch 2019 war es eines der Länder mit den höchsten Steigerungsraten bei den internationalen Studierenden, 2020 gehörte es zu denen mit dem stärksten Einbruch: nur noch 107.700 internationale Studienanfänger, 28 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Allerdings immer noch, um die Zahl in den Kontext zu setzen, zwei Drittel mehr als in Deutschland. Das mehr als dreimal so viele Einwohner hat. 

 

Wieso die Gesamtzahl der internationalen Studierenden im Corona-Jahr sogar noch gestiegen ist

 

Aus vielen Staaten gibt es nach DAAD-Angaben noch keine offiziellen Statistiken zur Entwicklung der internationalen Studierendenzahlen, so dass eine Einordnung der deutschen Performance schwerfällt. Insofern ist die heute  veröffentlichte Einschätzung von DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee, Deutschland befinde sich "nun in einer hervorragenden Ausgangslage für den internationalen Wettbewerb um die talentiertesten Köpfe nach der Corona-Pandemie", kaum mehr als programmatischer Optimismus. 

 

Wie aber lässt sich erklären, dass trotz des starken Rückgangs bei den internationalen Studienanfängern in Deutschland ihre Gesamtzahl sogar noch gestiegen ist? Zwei Gründe: Die Gesamtzahl 2020 setzt sich aus mehreren Ankunfts-Jahrgängen zusammen, von denen, siehe oben, vor der Pandemie jeder neue größer ausfiel als der davor. So dass die aktuelle Zahl der Studienanfänger vorrangig die Kohorte von vor einigen Jahren ersetzt, die noch deutlich kleiner war als der Anfänger-Jahrgang 2019, der jetzt aber der Vergleichsmaßstab ist.

 

Und zweitens: Die Pandemie hat offenbar dazu geführt, dass viele internationale Studierende ihren Studienaufenthalt in Deutschland verlängert haben. Weil sie im Digitalstudium langsamer vorangekommen sind? Weil sie wegen finanzieller Probleme ihrer Familien oder weggebrochenen Studierendenjobs hierzulande verstärkt um ihre Einkommenssicherung kämpfen mussten?

 

Die meisten internationalen Studierenden kamen 2020 aus China (41.000), Indien (25.000), Syrien (15.000), Österreich (12.000) und Russland (10.500). Interessant: Sie schrieben sich mit 71 Prozent deutlich häufiger an Universitäten ein als deutsche Studierende (61 Prozent), 29 Prozent entschieden sich für eine Hochschule für angewandte Wissenschaften.

 

Was "Wissenschaft weltoffen 2021"

sonst noch an Aha-Effekten enthält

 

o Deutschlands Hochschulen haben, zunächst wenig überraschend, ihre digitalen Angebote 2020 stark ausgebaut. Die konkreten Zahlen sind allerdings beeindruckend: Der Anteil der internationalen Studienanfänger, die von ihrem Heimatland aus rein digital ins Studium starteten, stieg von einem Sommersemester zum nächsten von 12 auf 21 Prozent. Wobei man sich allerdings den starken Rückgang bei den ausländischen Erstsemestern insgesamt vor Augen halten muss, denn das war die Grundgesamtheit.

 

o 135.000 Deutsche studierten 2018 im Ausland, womit ihre absolute Zahl seit 2009 stagniert. Der Anteil an allen deutschen Studierenden ist seitdem sogar von knapp sechs auf fünf Prozent gesunken. Lange vor Corona. "Wissenschaft weltoffen" verweist auf die starken Wachstumsraten zwischen 2002 und 2010, "also während der Einführung des neuen, gestuften Studiensystems", und sieht "einen deutlichen Mobilitätsimpuls" durch die Bologna-Reform. Seitdem aber ist die Dynamik komplett weg.

 

o Immerhin: Der Austausch über Erasmus ist weiter sehr beliebt, 42.000 deutsche Studierende gingen allein 2019 mit einem EU-Stipendium für ein, zwei Semester ins Ausland. Besonders gern gehen Deutsche Studierende nach Österreich, in die Niederlande, nach Großbritannien, in die Schweiz und in die USA. Allerdings fiel der Rückgang 2020 bei Erasmus mit rund der Hälfte auch besonders kräftig aus. 

 

o Wieviel weniger Deutsche insgesamt während der Corona-Krise ins Ausland gegangen sind, ist noch nicht klar. Belastbare Zahlen hierzu sollen erst in der nächsten Ausgabe von "Wissenschaft weltoffen" vorliegen. Mit Verweis auf die einzigen derzeit verfügbaren Statistiken aus der Schweiz (wo 2020/2021 sogar vier Prozent mehr deutsche Studierende eingeschrieben waren) könne jedoch "keineswegs davon ausgegangen werden, dass es aufgrund der Covid-19-Pandemie generell zu einem deutlichen Rückgang deutscher Studierender (mit Abschlussabsicht) in den relevanten Gastländern gekommen ist."

 

o Erstmals veröffentlichte Ergebnisse einer Befragung von rund 100.000 Einheimischen Studierenden (Deutsche und Bildungsinländer/innen) im Wintersemester 2020/2021 zeigen, dass akademische Überlegungen beim Gang ins Ausland eine untergeordnete Rolle spielen. 74 Prozent der Studierenden mit studienbezogenen Auslandsaufenthalten gaben im DAAD-Projekt "Benchmark internationale Hochschule" Motive im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung an, 64 Prozent kulturelles Interesse, 58 Prozent "spannende und aufregende Erfahrungen im Gastland außerhalb der Hochschule", 57 Prozent die Verbesserung der Sprachkenntnisse. Und nur 30 Prozent nannten Motive wie das Kennenlernen eines anderen Hochschulsystems oder anderer Lernmethoden oder die Erlangung fachbezogener Kenntnisse. 

 

o Eine ebenfalls zum ersten Mal durchgeführte Auswertung internationaler Forschermobilität über ihre bibliometrischen Daten zeigt, dass aus Deutschland nach den USA und Großbritannien am meisten Wissenschaftler in alle Welt gehen. Und dass nur in die USA, nach Großbritannien und nach China mehr internationale Wissenschaftler kommen. Am meisten deutsche Wissenschaftler zieht es in die USA (18,8 Prozent), nach Großbritannien (10,1 Prozent) und in die Schweiz (9,4 Prozent). Die meisten internationalen Wissenschaftler, die nach Deutschland kommen, stammen wiederum aus den USA (16,6 Prozent), Großbritannien (9,5 Prozent) und der Schweiz (6,4 Prozent). Wobei sich bei den in der Bundesrepublik Deutschland forschenden Wissenschaftlern aus dem Ausland insgesamt eine größere Vielfalt zeigt als umgekehrt bei den Zielländern der Deutschen. 

 

o Der internationale Wissenschaftleraustausch aus Deutschland heraus war offenbar deutlich stärker von der Pandemie betroffen als umgekehrt. 72 Prozent der Organisationen, die Wissenschaftler aus Deutschland beim Gang ins Ausland unterstützen und an der diesbezüglichen Umfrage teilnahmen, meldeten einen Rückgang um 26 Prozent oder mehr. Während von den Organisationen, die Aufenthalte internationaler Wissenschaftler in Deutschland fördern, nur 27 Prozent solche Dimensionen berichteten. Insgesamt schätzt das DZHW, dass 2020 rund 30 Prozent weniger internationale Wissenschaftler nach Deutschland gekommen sein dürften – zumindest gefördert von deutschen Organisationen. Insgesamt, das ist die gute Nachricht, blieb Deutschland aber auch im Corona-Jahr weltoffen.



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