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Richtig, aber nicht genug

Wie Bund und Länder auf die Corona-Pandemie reagieren. Und was sie dringend zusätzlich tun sollten. Ein Kommentar.

DIE POLITIK REAGIERT ENDLICH. Die Maßnahmen, die sie gegen die vierte Corona-Welle ergreifen will, sind richtig. Doch sie kommen viele Wochen zu spät. Und sie reichen nicht aus.

Schon seit September, spätestens aber seit Anfang Oktober ließ sich an den Corona-Meldezahlen ablesen, dass diesen Herbst keine Krankenhaus-Welle der ungeimpften Kinder und Jugendlichen drohen würde. Sondern dass erneut die über 60-Jährigen und noch stärker die über 80-Jährigen enorm gefährdet sein würden.

Besonders die Ungeimpften unter ihnen. Aber längst nicht nur. Denn was viele Politiker und auch Medien immer noch nicht richtig verstanden zu haben scheinen: Das Risiko geimpfter Senioren, schwer an Covid-19 zu erkranken, ist zwar massiv niedriger als das ungeimpfter Senioren. Aber trotzdem noch deutlich höher als bei ungeimpften Kindern und jungen Erwachsenen.

Geimpfte Ältere müssen häufiger ins Krankenhaus als ungeimpfte Kinder

Konkret: Die Krankenhaus-7-Tages-Inzidenz bei geimpften über 60-Jährigen lag – berechnet auf der Basis der vorliegenden RKI-Zahlen – in den Kalenderwochen 40 bis 43 im Schnitt bei 5,5 Hospitalisierungen pro 100.000 Einwohnern. Bei den über 80-Jährigen sogar bei etwa 8,1.Was jeweils etwa einem Siebtel der Inzidenz gleichaltriger Ungeimpfter entspricht. Aber bei den zum größten Teil noch nicht doppelt geimpften 5- bis 14-Jährigen lag die Krankenhaus-Inzidenz im gleichen Zeitraum laut RKI nur bei 0,69. Also um den Faktor 8 bis 11 niedriger. Trotz der immer noch deutlich höheren Meldeinzidenzen (meine ausführliche Berechnung siehe unten).

Bund und Länder, aber auch Teile der Medien und der Wissenschaft werden sich mit der Tatsache konfrontieren müssen, dass sie monatelang auf die Kinder und Jugendlichen geschaut und über die Schulen diskutiert haben, anstatt die viel drängendere Problematik, die fortgesetzte Gefährdung der Älteren, ins Zentrum aller Überlegungen zu stellen.

Immerhin: Jetzt passiert etwas. Es ist richtig, dass die Gesundheitsminister von Bund und Ländern vergangene Woche endlich beschlossen haben, den Zugang zu Alten- und Pflegeheimen mit einer umfassenden Testpflicht zu regeln, auch für geimpfte oder genesene Besucher. Umgekehrt ist unglaublich, dass noch vor kurzem vielerorts der Zugang ganz ohne Test möglich war – während etwa Schulkinder bis zu dreimal in der Woche pflichtgetestet werden.

Richtig ist auch, dass es jetzt besonders für ältere Menschen verstärkt Booster-Impfungen geben soll. Fragwürdig ist, dass die Gesundheitsminister gleichzeitig allen Altersgruppen die Auffrischung ermöglichen wollen. Dabei wäre eine Priorisierung für die besonders gefährdeten Älteren dringend angeraten angesichts der begrenzten Impfkapazitäten.

Warum 3G am Arbeitsplatz gut ist, aber längst nicht reicht

Richtig ist, dass die Ampel-Verhandlungspartner endlich eine bundesweite 3G-Pflicht am Arbeitsplatz "auf den Weg bringen" wollen. Problematisch ist, dass das schon vor einem halben Jahr hätte passieren müssen, als die Pflichttests an den Schulen begannen – und dass nicht klar ist, wann genau 3G kommen soll. Eigentlich ist keinerlei Zeit zu verlieren, doch so, wie die Berufswelt bislang bei Corona-Maßnahmen geschont wurde, steht zu befürchten, dass die Umsetzung dauern wird.

Hinzu kommt, dass eine 3G-Pflicht am Arbeitsplatz nicht ausreicht. Die Corona-Impfungen schützen zwar längerfristig sehr gut vor schweren Erkrankungen (obgleich, siehe oben, vom Alter abhängig unterschiedlich stark). Doch der Schutz vor Ansteckungen geht innerhalb eines halben Jahres wieder stark nach unten. Deshalb müsste am Arbeitsplatz wie auch sonst überall 2G Plus gelten, soll heißen: Auch Geimpfte und Genesene sollten sich wieder regelmäßig testen. Dazu gleich mehr.

Richtig ist schließlich auch, dass SPD, Grüne und FDP die Coronatests wieder kostenlos machen wollen. Die Idee, dass man mit kostenpflichtigen Tests Ungeimpfte zu Impfungen bewegen könnte, war nachvollziehbar (auch ich habe es eine Weile gedacht), aber sie ist an der Realität eine hartnäckigen Impfskepsis gescheitert.

Ein Kernirrtum der deutschen Corona-Politik

Ein Kernirrtum der deutschen Corona-Politik bleibt allerdings weiter bestehen. Es heißt 2G. Um die Impfungen attraktiver zu machen, wird bei steigenden Zahlen (und das heißt: auch gerade jetzt in immer mehr Regionen) der Zugang zu Restaurants oder Freizeitangeboten auf Geimpfte und Genesene beschränkt, für Ungeimpfte reicht dann selbst ein Test nicht mehr aus.

Im Sinne eines Anreiz-Denkens ist das – so ähnlich wie bei den kostenpflichtigen Tests – nachvollziehbar. Nur führt 2G praktisch dazu, dass weniger getestet wird und auch bei den Geimpften eine enorme Dunkelziffer unentdeckter Infektionen entsteht. Das treibt die Pandemie, was dann aber noch nicht einmal bemerkt wird.

Richtig wäre also eine grundsätzliche Test-Pflicht für alle, unabhängig vom Impf- oder Genesenenstatus, als Zugangsvoraussetzung für möglichst viele Orte.

Aber wäre das nicht unfair?, werden jetzt einige entgegnen – welche Belohnung gäbe es dann noch für die Geimpften? Und muss nicht die Unsolidarität der Ungeimpften bestraft werden?

Ich finde so eine Argumentation nachvollziehbar, vor allem emotional, wenn man sich die Erkrankungsraten unter Ungeimpften anschaut. Doch nüchtern betrachtet hilft man so lediglich der Pandemie, sich weiter auszubreiten. Und sollte nicht die größte Gratifikation für Geimpfte sein, dass sie nachweislich so viel seltener ins Krankenhaus müssen?

Noch fällt es der Politik schwer, von ihrem 2G-Denken wegzukommen. Hoffentlich bekommt sie auch hier die Kurve. Es wäre dringend. Allerdings helfen alle Testpflichten nur dann, wenn sie endlich auch umfassend kontrolliert und Verstöße geahndet werden – sei es, wenn Restaurants und andere Orte sich nicht an die Kontrollpflicht halten oder wenn Gäste versuchen, sich ohne oder mit gefälschten Testzertifikaten hineinzuschummeln. Die behördliche Laxheit war hier in den vergangenen Monaten vielerorts atemberaubend.

Übrigens hätte eine ernsthaft durchgesetzte Test-Pflicht für alle, auch für Genesene und Geimpfte, vermutlich zwei überraschende Nebenwirkung. Erstens: Die Meldeinzidenz unter Geimpften würde stark steigen und sich nicht mehr so drastisch von der unter Ungeimpften unterscheiden (im Gegensatz zu den Krankenhausraten). Zweitens: Die Inzidenzen von Kindern und Jugendlichen wären mit einem Mal nicht mehr außerordentlich hoch, weil die Dunkelziffer bei den Erwachsenen endlich auch viel geringer würde. Vielleicht würde dann etwas von der ständig so aufgeregten Debatte über die Situation in Kitas und Schulen endlich auf die Büros und Fabriken überspringen. Zeit wär's.


Wie ich die Hospitalisierungs-Inzidenzen nach Altersgruppen berechnet habe:
Im vergangenen Wochenbericht gab das RKI den Anteil Geimpfter unter allen ins Krankenhaus eingewiesenen über 60-Jährigen mit wahrscheinlich 44,9 Prozent an. Da gleichzeitig die Impfquote in dieser Altersgruppe offiziell bei 84,9 Prozent liegt (vermutlich eine Unterschätzung) ergibt sich über eine Dreitsatzberechnung, dass Ungeimpfte mit einer 6,9mal so hohen Wahrscheinlichkeit ins Krankenhaus müssen. Was bei einer vom RKI für die Kalenderwochen 40 bis 43 angegebenen durchschnittliche Krankenhaus-Inzidenz von 10,68 bei über 60-Jährigen bedeutet, dass sie für Ungeimpften bei gut 38 lag und bei Geimpften bei gut 5,5. Da das RKI die Krankenhaus-Inzidenz für über 80-Jährige bezogen auf die Kalenderwochen 40 bis 43 im Schnitt mit 15,74 angibt, folgt rechnerisch eine Inzidenz für Geimpfte von etwa 8,1 (wenn man ebenfalls von einer Impfquote von 84,9 Prozent ausgeht). Die Rechnung ist, wie Sie sehen, etwas komplex. Falls ich falsch gerechnet habe, bitte um Nachricht und Korrektur.


Höher und höher

Rekordinzidenzen in der Corona-Pandemie: Was steckt hinter den aktuellen Zahlen? Eine Analyse über ein doppeltes Schisma, die Welle der Alten und die Entwicklung in den Krankenhäusern. (09. November 2021) >>>

Kommentare

#1 -

David Bosold | Di., 09.11.2021 - 23:54
Danke, Herr Wiarda. Eine stringente und wissensbasierte Einschätzung, die ich vorbehaltlos teile. Leider findet sich der 2G-Populismus mittlerweile an zahlreichen Universitäten. Dass 2G per se keine Ansteckung verhindert, unfreiwillig einer hohen Dunkelziffer an nicht erkannten Infektionen Vorschub leistet und daher eher umfangreiches Testen als Druck auf Ungeimpfte helfen wird, die Zahlen nach unten zu drücken: hoffentlich wird das auch bald von jenen verstanden, die schon wieder reine Onlinelehre fordern oder den Ausschluss von Ungeimpften (was auch immer deren Beweggründe sind).

#2 -

Christian | Mi., 10.11.2021 - 16:53
Ich schätze Ihre Analyse auch als sehr stringent und wissensbasiert. Gerne würde ich aber ein weiteres Argument hinzufügen. Es ist auf Dauer unvermeidlich, dass sich jeder impfen lässt oder infiziert. Leider scheinen sich große Teile der Bevölkerung nicht impfen lassen zu wollen. Deshalb wird sich ein Großteil der Ungeimpften irgendwann infizieren. Wenn wir die Ungeimpften in diesem Winter durch Testen der Geimpften schützen, trifft es sie dann in dem nächsten Winter.

Natürlich gibt es Bereiche wie Pflegeheime, in denen Geimpfte durch Tests geschützt werden müssen. Gesunde geimpfte Erwachsene brauchen aber doch keinen Schutz mehr. Der Schutz von Ungeimpften aber verlängert die Pandemie nur.

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