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Von der "Jetzt reicht es"- zur "Das reicht nicht"-Spirale

Nach den gestrigen Corona-Beschlüssen ist vor den Corona-Beschlüssen. Was von angekündigten Maßnahmen zu halten ist, was fehlt – und wie die Politik bei den Kindern und Jugendlichen mal wieder übers Ziel hinausschießt.

GESTERN WAR DER TAG der Corona-Beschlüsse. Doch so, wie er lief, war absehbar, dass bald schon der nächste Tag der Corona-Beschlüsse folgen wird. In Sachsen und Bayern etwas ist es schon heute soweit. Nicht nur, weil einige der Festlegungen in der vom Bundestag (und heute vom Bundesrat) verabschiedeten Infektionsschutz-Novelle unzureichend sind. Auch die Regierungschefs von Bund und Ländern haben gestern teilweise arg nachbesserungsbedürftige Arbeit abgeliefert.

 

Vor allem aber haben Politik, Medien und Öffentlichkeit jetzt wieder die schon aus alten Wellen bekannte Spirale von aufeinander aufbauenden, sich immer weiter verstärkenden "Das reicht nicht"-Vorwürfen erreicht – mit dem Ergebnis, dass die Zahl der Maßnahmen so exponentiell steigt, wie es die Corona-Zahlen schon seit vielen Wochen getan haben. Und anstatt zu diesen früheren Zeitpunkten mit zielgenauen, aber wirksamen Instrumenten zu reagieren, kompensiert die Politik ihre Unterlassung jetzt mit ihren ebenfalls bereits bekannten und gefürchteten Rundumschlägen.

 

Dabei gehen viele der gefassten Beschlüsse ja in die richtige Richtung. Die Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen zum Beispiel. Dass alle Mitarbeiter und Besucher von Alten- und Pflegeheimen täglich einen negativen Test vorlegen müssen, samt Zertifikat. Dass auch geimpfte Mitarbeiter sich regelmäßig testen müssen, dass es ein Monitoring-System für die Booster-Impfungen in den Heimen geben soll. Grundsätzlich sinnvoll sind auch die neuen Schwellenwerte, abhängig von der Hospitalisierungsrate, ab denen Einschränkungen im öffentlichen Leben greifen sollen.

 

Allerdings weist die Hospitalisierungsrate nach wie vor ärgerliche Schwächen auf, was ihre Aktualität angeht. Auch reicht es nicht, dass am Arbeitsplatz künftig die 3G-Regel gelten soll, weil "künftig" erstens nicht ab sofort ist und zweitens längst klar ist, dass auch Genesene und Geimpfte zumindest bei derart hohen Inzidenzen ebenfalls getestet werden müssen. Sollte die 3G-Regel in Büros und Fabriken tatsächlich ab 24. November gelten, wie es vor dem Wochenende aus dem Arbeitsministerium hieß, wäre das äußerst erstaunlich – bislang wurden der Wirtschaft immer alle möglichen Übergangsfristen eingeräumt. 

 

Testpflicht für Bus und Bahn,
aber nicht für Gottesdienste

 

Auch ist komplett unverständlich, warum vor acht Tagen noch in Menschenmassen Karneval gefeiert werden durfte und warum Großveranstaltungen wie die Fußball-Bundesliga nicht schon vor Wochen überall für den Publikumsbetrieb ausgesetzt worden sind. Es ist fahrlässig, dass dort weiter nur die 2G-Regel gelten soll, zumal schon die bisher geltenden Zugangsbestimmungen kaum einmal ausreichend überprüft wurden. Und wie kann es sein, dass Gottesdienstbesucher, darunter 80-Jährige, weiter ohne jede G-Regel in die Kirche gehen können, aber Kinder ab sechs einen negativen Test vorweisen müssen, wenn sie mit Öffentlichen zur Kita oder Schule fahren (immerhin gelten für Schulkinder wohl die Schultestungen als ausreichend)?

 

Warum werden 12- bis 17-Jährige nach all den Einschränkungen, die man ihnen im Laufe dieser Pandemie bereits zugemutet hat, grundsätzlich in die 2G-Regel mit eingeschlossen – obwohl die STIKO sich dagegen ausgesprochen hat, die soziale Teilhabe bei Jugendlichen von ihrem Impfstatus abhängig zu machen?  Zwar heißt es im Bund-Länder-Beschluss, für unter 18-Jährige könnte es Ausnahmen geben vom flächendeckenden 2G, aber diese Ausnahmen werden im Ungefähren gelassen, die Länder erhalten vollen Bewegungsspielraum. Nachdem die Politik all die älteren Erwachsene, die viel dringender auf den Impfschutz angewiesen wären, sich aber einer Impfung verweigern, monatelang mit Samthandschuhen angefasst hat? Warum so ein Herumgestückel, das wieder einmal besonders zu Lasten der bei den Maßnahmen kaum mitgedachten Kinder und Familien geht? 

 

Zu den dramatischen Inkonsistenzen gehört, dass laut neuem Infektionsschutzgesetz neue Einschränkungen für Hochschulen möglich sein werden – aber nicht für Bars und Restaurants. Und auch wenn es zu begrüßen ist, dass die vom Parlament beschlossene Novelle die flächendeckende Schließung von Kitas und Schulen ausschließt: Was bedeutet das praktisch, wenn Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schon einen Tag später "nichts mehr" mehr ausschließen will? 

 

Wir brauchen: Eine Testpflicht für alle in Freizeit und Beruf, bis die Inzidenzen stark gesunken sind. Wir brauchen eine Impfpflicht für alle Erwachsenen. Und wir brauchen eine Politik, die mutig genug ist, Fußballstadien, Diskotheken oder Bars zu schließen, aber Kitas und Schulen aufzulassen. Vor allem aber brauchen wir eine Politik, die willens und in der Lage ist, die Einhaltung der von ihr verfügten Zugangs-Auflagen dann auch effektiv zu kontrollieren und mit entsprechenden Bußgeldern durchzusetzen.

 

Übrigens brauchen wir all das nicht erst, seit die Meldezahlen neue Rekordlevel erreicht haben. Wir brauchten eine solche Politik schon seit August, als die gegenwärtige Welle tatsächlich begann. Nur dass Bund und Länder da gerade in einer anderen Spirale drinsteckten. Der "Jetzt-reicht-es"-Spirale. Die sich sogar noch im Oktober kräftig drehte.

 

Hinweis: Ich habe den Absatz zu 2G bei Jugendlichen ergänzt und den Absatz zur Hospitalisierungsrate und zu 3G am Arbeitsplatz aktualisiert.



Hoffnungszeichen

Nicht nur die Politik reagiert auf die hohen Corona-Zahlen, die Öffentlichkeit tut es ebenfalls – durch ihr Verhalten.

 

Die Zahl der Erstimpfungen steigt so schnell wie seit zwei Monaten nicht mehr, derzeit klettert die Quote um durchschnittlich 0,1-Prozentpunkte pro Tag auf heute offiziell 70,4 Prozent.

 

Was auf ziemlich genau 80 Prozent Erstgeimpfte über 12 hinausläuft – was (vielleicht erinnern Sie sich) das Robert-Koch-Institut noch im Mai als Ziel genannt hatte, bevor alle Maßnahmen und Regeln fallen könnten. Die 85 Prozent würden bei gleichbleibendem Tempo Ende des Jahres erreicht sein. 

 

Gleichzeitig nimmt die Booster-Impfkampagne Fahrt auf mit heute 0,6 Prozentpunkten mehr Geboosterten als gestern und 1,0 Prozentpunkte mehr als vorgestern.  Absolut sind es zwar erst 6,3 Prozent der Bevölkerung, aber die Erfahrung der Erstimpfung-Dynamik lehrt: Das geht jetzt schnell hoch. Was bei aller Freude darüber zwei unangenehme Fragen zu stellen gebietet:

 

1. Wie verhindern wir, dass sich die Jüngeren, Gebildeten, sozial Bessergestellten jetzt vordrängeln – und die Älteren und Schwächeren, die vor allem Gefährdeten, sich nicht hinten anstellen müssen?

2. Ist es eigentlich ethisch gerechtfertigt, jetzt in den wohlhabenden Ländern den Impfstoff wegzuboostern, während in weiten Teilen der Welt noch nicht einmal das medizinische Personal oder die ganz Alten erstgeimpft sind? Nur scheint auf solche Debatten gerade kaum einer Lust zu haben.

 

Ermutigend ist währenddessen auch, dass im Vorwochenvergleich die 7-Tages-Inzidenzen zuletzt spürbar langsamer stiegen, der Reproduktionswert R gegen 1 zurückfällt und der sehr aussagekräftige "NET CHECK Kontaktindex" nach seinem Aufwärtssprint endlich ebenfalls nach unten zeigt. 

 

Schon in der vergangenen Kalenderwoche war der Anteil der älteren Corona-Neuinfizierten erstmals seit längerem unterdurchschnittlich gestiegen. Es war das allererste Hoffnungssignal.

 

Die Leute, geimpft oder nicht, spüren den Ernst der Lage und schrauben ihre sozialen Kontakte zurück. Das war schon in früheren Wellen so und sollte zu diesem Zeitpunkt festgehalten werden – bevor die Politik in ein paar Tagen das Narrativ pflegt, ihre (viel zu spät) beschlossenen Maßnahmen hätten die Trendwende gebracht.

 

Wenn sich denn bereits eine abzeichnet. Hoffen wir es.



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Kommentare: 8
  • #1

    Django (Freitag, 19 November 2021 15:46)

    Die Krankenhauseinweisungen als Indikator sind theoretisch löblich, praktisch aber angesichts des Datendesasters unbrauchbar. Sie haben ja selbst darauf hingewiesen, dass die Zahlen erst mit einer enormen Verzögerung wirklich belastbar werden.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 19 November 2021 16:31)

    @Django:
    Da haben Sie Recht! Tatsächlich hatte ich noch überlegt, den Punkt noch zu erwähnen, es dann aber der um der Kürze willen unterlassen. Die Praktikabilität ist tatsächlich ungeklärt, wobei es immerhin inzwischen ein (allerdings nicht tägliches ) Nowcasting dazu gibt. Vielleicht sollte zumindest das dann genutzt werden?

    Hier nochmal mein Artikel dazu, auf den Django anspielt:
    https://www.jmwiarda.de/2021/08/25/der-indikator-der-nichts-anzeigt/

  • #3

    Django_hat_recht (Freitag, 19 November 2021 17:19)

    In Sachsen steigt der Wert im Verlauf von zwei Wochen sogar auf mehr als das Doppelte des tagesaktuellen Wertes. Tagesaktuell ist die Rate bei 3 bis 6 und kleiner als die beiden Warnstufen (7 und 13). Binnen zwei Wochen steigt der Wert durch die Nachmeldungen zur Zeit auf über 14! Betrachtet man nur diesen Indikator, so könnte Sachsen alle Maßnahmen aufheben.

  • #4

    Drängler (Freitag, 19 November 2021 23:32)

    “ Wie verhindern wir, dass sich die Jüngeren, Gebildeten, sozial Bessergestellten jetzt vordrängeln – und die Älteren und Schwächeren, die vor allem Gefährdeten sich nicht hinten anstellen müssEn”

    Die Boosterangebote für diese Gruppen gibt es doch schon seit Wochen - jetzt nehmen die Zahlen Fahrt auf, weil immer mehr Menschen, die nicht zu dieser Gruppe gehören, Uhr Sechsmonatsmarke erreicht haben und ein berechtigtes Interesse haben, geimpft zu werden. Warum sollten sie auf Menschen warten, die die Möglichkeit zur Impfung trotz Vorhandensein von Impfstoff und Stiko Empfehlung nicht wahrnehmen? Und bis wann?

  • #5

    Jan-Martin Wiarda (Samstag, 20 November 2021 18:08)

    @Django: Ich habe jetzt doch noch einen Halbsatz zur Hospitalisierungsrate im Artikel ergänzt. Viele Grüße!

  • #6

    Joachim K. Rennstich (Sonntag, 21 November 2021)

    Also beim Thema Rundumschläge:

    > wie kann es sein, dass Gottesdienstbesucher, darunter 80-Jährige, weiter ohne jede G-Regel in die Kirche gehen können

    Mit der gleichen rechtlichen Logik könnten Sie auch auch sagen im Bereich Datenschutz oder Arbeitsrecht herrscht in den Kirchen ein “rechtsfreier” - in der hier präsentierten Logik - nicht vom Bund oder Land regulierter Raum. Was natürlich Quatsch ist. Genauso wie die recht knackige These “ohne jede G-Regel” Behauptung. Dies ist einfach faktisch falsch. Jede der Rechtsträgerschaften im kirchlichen Bereich haben dafür Regelungen. Das mag man falsch finden. Aber zu behaupten, das hier “keine Regeln” gelten ist einfach falsch und nicht nur eine Verzerrung oder andere Interpretation. Es gibt klare, allgemein rechtlich verbindliche Bestimmungen für die Kirchen:

    > Aktuell regelt die Verordnung zum Schutz der Bevölkerung vor Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV 2 (Coronavirus-Schutzverordnung - CoSchuV) die allgemeinen Vorschriften für ein pandemiegerechtes Verhalten. Darin finden sich im § 17 die Regelungen für Zusammenkünfte von Glaubensgemeinschaften zur gemeinschaftlichen Religionsausübung sowie Trauerfeierlichkeiten und Bestattungen.

    Dort können die Bestimmungen nachgelesen werden. Also bitte das ganze Gesetz lesen und nicht einfach Sachen raushauen die dann schnell weitergetragen werden.

  • #7

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 22 November 2021 08:26)

    Lieber Herr Rennstich,

    mit Verlaub: Es ist genau, wie ich es schreibe: Gottesdienstbesucher können weiter ohne negativen Test in Gottesdienste gehen, weil es für Religionsgemeinschaften keine flächendeckende 3G-Regel gibt. Das bedeutet nicht, dass einzelne Religionsgemeinschaften in einzelnen Regionen sich auf der Grundlage der von Ihnen genannten Verordnung selbst eine geben, aber das ist etwas Anderes. Bitte schauen Sie hier zum Beispiel auf die Seite der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.
    https://www.ekkw.de/aktuell/meldung/aktuell_30373.htm

    Von rechtsfreien Räumen habe ich nicht gesprochen und auch nicht davon, dass gar "keine Regeln" gelten.

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #8

    David Bosold (Montag, 22 November 2021 13:24)

    "Wir brauchen: Eine Testpflicht für alle in Freizeit und Beruf, bis die Inzidenzen stark gesunken sind. Wir brauchen eine Impfpflicht für alle Erwachsenen. Und wir brauchen eine Politik, die mutig genug ist, Fußballstadien, Diskotheken oder Bars zu schließen, aber Kitas und Schulen aufzulassen." > damit ist eigentlich alles gesagt.

    Ergänzungen von mir: vermutlich würde auch eine Impfpflicht ab 60 Jahren ausreichen. Und Geimpfte müssen auch nicht jeden Tag zweimal essen gehen oder über 10 Personen treffen.

    Der eigentliche Skandal sind aber zwei Dinge: wir haben im Vergleich zu letztem Jahr ca. 4.000 weniger Intensivbetten (aufgrund Personalmangels) und trotz klarer Datenlage, dass es keine "Pandemietreiber" sind, kommen Politiker immer auf Kitas und Schulen zurück, die man dicht machen müsse.