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Was bedeutet der Schul-Beschluss?

Nachvollziehbar, ärgerlich, in Teilen eine gute Nachricht: Was die Verfassungsrichter zu Schulschließungen zu sagen hatten – und was daraus für die Zukunft folgt. Ein Kommentar.

DIE SCHULSCHLIESSUNGEN im Frühjahr gingen laut Bundesverfassungsgericht in Ordnung. Die Begründung, die die Richter für ihren Beschluss liefern, ist in Teilen nachvollziehbar, an anderer Stelle äußerst ärgerlich. In einigen Punkten aber bietet sie erstaunlich gute Nachrichten.

 

Nachvollziehbar: Wenn einerseits – erfreulicherweise – "das Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung" explizit anerkannt wird, dann jedoch mit dem "Schutz der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren von Leib und Leben und zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems" abgewogen wird.

 

Nicht nachvollziehbar, ja ärgerlich ist die Argumentation der Verfassungsrichter, warum diese Abwägung in ihrem heute veröffentlichten Beschluss zumindest für den Zeitraum der Bundesnotbremse zuungunsten der Kinder ausgegangen ist: Es sei nicht nachgewiesen, dass die damals eingeführten Pflichttests und die sonstigen Hygienemaßnahmen in offenen Schulen ausreichend wirksam gewesen seien, um mindestens denselben Effekt zur Eindämmung der Pandemie wie durch Schulschließungen zu erreichen.

 

Es reichte also zumindest im April nach Meinung der Richter aus, dass die Schließung der Schulen auch nur potenziell einen epidemiologischen Vorteil gegenüber deren Offenhalten hatte – selbst wenn sich dieser Vorteil nicht genau messen ließ. Es reichte demgegenüber nicht für das Offenhalten, dass die Schäden des Distanzunterrichts schon damals sehr gut nachgewiesen waren und die Richter sie in ihrem Beschluss auch ausführlich beschreiben. Im Zweifel gegen die Rechte der Kinder, lautet der Beschluss am Ende.

 

Und im Zweifel gegen die Wirksamkeit der Tests – was die Stelle in der Begründung des Beschlusses ist, wo es so richtig ärgerlich wird: Es gab laut Gericht einen Sachverständigen, der die Test- und Hygienemaßnahmen als ausreichend wirksam einschätzte, um offene Schulen zu rechtfertigen. Und ebenfalls nur ein Sachverständiger sagte das Gegenteil. Die Mehrheit der Sachverständigen aber meinte, es könne diesbezüglich kein Nachweis erbracht werden, weil die Daten zur Wirksamkeit der Test- und Hygienemaßnahmen nicht erhoben worden seien. 

 

Im Zweifelsfall gegen die Rechte
der Kinder und Jugendlichen?

 

Im Klartext: Politik und Wissenschaft haben es versäumt, systematisch zu evaluieren, ob Schulen mit den richtigen Hygienemaßnahmen offengehalten werden konnten – so, wie es das Bundesgesundheitsministerium und das Robert-Koch-Institut bis heute und trotz vielfacher Aufforderung durch Experten nicht geschafft haben, ein regelmäßiges, repräsentatives Corona-Panel auf die Beine zu stellen, um einen genauen Einblick ins Infektionsgeschehen zu erhalten. Einen Einblick auch für einzelne Altersgruppen, und zwar unabhängig von Testhäufigkeiten und Meldeverzügen. Viele andere Staaten, Großbritannien etwa, haben ein solches Panel seit über einem Jahr. 

 

Politik und Wissenschaft haben dies und andere Evaluationen versäumt, die Datenlage ist entsprechend schwach, und dennoch findet es das Bundesverfassungsgericht gerechtfertigt, deshalb im Zweifel den  Schülerinnen und Schülern Schulschließungen zuzumuten. Zumindest für den begutachteten Zeitraum der Bundesnotbremse. Die Richter stützen sich dabei auf den einen Sachverständigen, Christian Drosten von der Charité, der die ausreichende Wirkung zumindest von Antigen-Schnelltests nachhaltig bezweifelt. Das ist zum Kopfschütteln.

 

Ärgerlich ist überdies die Einschätzung der Richter, die Schulschließungen seien auch deshalb zulässig gewesen, weil die Bundesnotbremse sie auf gut zwei Monate befristet habe. Denn dabei lässt das Gericht völlig außer Acht, dass zu dem Zeitpunkt des Inkraftretens sich Millionen Schüler teilweise schon seit vier Monaten im Distanzunterricht befanden.

 

Immerhin lassen ein paar Formulierungen in der Beschlussbegründung die Hoffnung zu, dass künftig Schulschließungen auf eine veränderte Gesamtlage stoßen könnten – etwa, wenn die Richter darauf hinweisen, dass beim Inkrafttreten der Bundesnotbremse Ende April die Impfkampagne gerade erst begonnen habe. Inzwischen hat sich jede/r Erwachsene längst impfen lassen können, auch Booster stehen allen offen. Schon im April, betonen die Richter, habe der Gesetzgeber damit rechnen müssen, dass das Verbot von Präsenzunterricht bei einem Impfangebot an alle impffähigen Personen allmählich seine Rechtfertigung verlieren könnte. "Das gilt in noch stärkerem Maße, soweit sich das Verbot auf den Präsenzunterricht an Grundschulen erstreckt."

 

Außerdem erklärt das Gericht, dass Komplett-Schulschließungen durch die Notbremse damals auch deshalb in Ordnung gingen, weil sie anders als die übrigen Kontaktbeschränkungen und Schließungen nicht schon bei einer regionalen Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gegolten hätten, sondern erst ab 165. Auch dies sollten Bund und Länder, falls sie künftig Schulschließungen erwägen, beachten: Diese gehen laut Verfassungsgericht erst, wenn sonst so gut wie alles ausgereizt ist.

 

Angesichts jüngster Forderungen nach einem bundesweiten Vorziehen der Weihnachtsferien in den Schulen – ohne gleichzeitig Läden und Restaurants dichtzumachen – sind dies zwei gute Nachrichten, und die Botschaft an Kanzlerin und Ministerpräsidenten lautet: Finger weg von den Schulen – solange ihr nicht erst die Erwachsenen empfindlich einschränkt. 



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Kommentare: 3
  • #1

    Nicht überraschter Bürger (Dienstag, 30 November 2021 11:43)

    Was habt Ihr erwartet, nachdem jetzt Richter von "Mutti" zum Essen eingeladen werden?

  • #2

    Pimpf (Dienstag, 30 November 2021 12:53)

    Sehr geehrter Herr Wiarda, ich schätze Ihre Artikel, kann hier aber Ihre Ausführungen nicht teilen. Für mich heißt das Urteil, dass eine Beweislastumkehr völlig legitim war, also im Zweifel gegen die Kinder. In einer Pandemie hat man aber immer Unsicherheiten, wie die weitere Entwicklung aussieht und ich halte diese Signalwirkung des Urteils fatal.
    Und katastrophal finde ich auch dass vor allem derjenige Gutachter zur Urteilsfindung herangezogen wird, der die Regierung in weiten Teilen beraten hat. Und letztlich ist es einfach nur traurig dass das Gericht in Leitsatz 3 nur Distanzunterricht nach Möglichkeit fordert- ein Armutszeugnis nach mehr als einem Jahr Pandemie

  • #3

    Working Mum (Dienstag, 30 November 2021 13:07)

    Nach Lektüre der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts würde ich zumindest davon ausgehen, dass mit dem Fortschritt der Impfkampagne eine Schließung von Grundschulen kaum noch verhältnismäßig sein dürfte.