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Die Gesellschaft mit Bildung boostern

Sozialer Aufstieg braucht beste Bildung für alle. Damit nicht nur Ellenbogen in die Mittelschicht führen, muss der Staat massiv investieren. Ein Kommentar.

KLAR, ES KÖNNTE SCHLIMMER SEIN. In Schweden, Finnland und Luxemburg ist die Mittelschicht seit Mitte der 90er Jahre stärker geschrumpft als in Deutschland, zeigt ein neuer OECD-Vergleich. Und immer noch erreichen hierzulande mit 64 Prozent deutlich mehr Menschen ein mittleres Einkommen als in den USA (51 Prozent) oder Italien (56 Prozent). Wo zudem noch 18 beziehungsweise 15 Prozent der Arbeitnehmer als einkommensarm gelten, weil sie weniger als die Hälfte des Durchschnitts erreichen. Was in Deutschland auf zehn Prozent zutrifft.

 

Es könnte allerdings auch viel besser sein. Denn in Sachen bröckelnder Mittelschicht folgt die Bundesrepublik laut OECD unter 26 Staaten direkt hinter den drei erstgenannten Ländern. Und obwohl es zum Beispiel in Finnland schneller bergab ging, steht dort immer noch bei 70 Prozent der Leute nach Steuern und Transfer ein Betrag auf dem Gehaltszettel, der sie in die Mitte der Gesellschaft hebt.

 

Ebenso viele in Norwegen und Tschechien, in Slowenien sind es sogar 71 Prozent. Um zur Mittelschicht zu gehören, bedarf es übrigens keiner astronomisch hohen Einkommen. Für einen Single reichen 1500, für eine vierköpfige Familie 3000 Euro netto, inklusive Kindergeld & Co.

 

Die bitteren OECD-Statistiken stehen in einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung gefördert hat, und sie liefern die Empirie zu einem Gefühl, das sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten tief in die Gesellschaft hineingefressen hat: die Angst vor dem Abstieg. Wobei das eigentlich die falsche Formulierung ist.

 

Viele Mittelschichtseltern kämpfen

verbissen um Bildungschancen

 

Es geht in den wenigsten Fällen um den gesellschaftlichen Abstieg von denen, die es bereits in die Mittelschicht geschafft haben. Es geht um die immer geringer werdenden Aussichten für junge Menschen, noch das Wohlstandsniveau ihrer Elterngeneration zu erreichen.

 

Die Angst führt dazu, dass viele Mittelschichtseltern immer nervöser, immer früher und immer verbissener um die Bildungschancen ihrer Kinder kämpfen: um den Platz in der Kita, die Grundschule mit der vermeintlich besten sozialen Mischung, den Übergang zum Gymnasium. Verständlich: Denn, wie die OECD berichtet, wurden vor allem die weniger Gebildeten abgehängt. Gehörten 1995 noch 67 Prozent der Menschen mit maximal einem Realschulabschluss, aber ohne Berufsausbildung zur Mittelschicht, waren es zuletzt noch 40 Prozent.

 

Andere haben weniger Ellbogen

und können kaum helfen

 

Besonders Eltern, die selbst eine gute Bildung hatten, wissen um ihren Wert. Und indem sie ihre Ellbogen ausfahren, verschärfen sie – unbewusst – die soziale Schieflage weiter. Weil die Kinder von Nichtakademikern so noch schlechtere Chancen haben, beim Wettstreit um die besten Bildungskarrieren mitzuhalten. Und das vollkommen unabhängig von ihren Talenten und ihrer Intelligenz. Sondern weil ihre Eltern sich des Wettbewerbs, in dem sie stehen, gar nicht bewusst sind. Oder weil sie selbst nicht die Mittel und die Bildung haben, ihren Kindern zu helfen.

 

Nur will man denen, die ihren Nachwuchs dann erfolgreich nach vorn schieben, vorhalten, das Beste für ihre Kinder zu wollen? Nein, die einzige Lösung liegt beim Staat. Erst wenn das Bildungssystem nicht mehr von einem Mangel an Bildungschancen geprägt ist, endet der ruinöse Verdrängungswettbewerb – der umso stärker auf die Einkommensverteilung durchdrückt, je mehr in einer digitalisierten Gesellschaft einfache Tätigkeiten entwertet werden.

 

SPD, Grüne und FDP haben sich schon bei ihren Sondierungsgesprächen den Beinamen "Fortschrittskoalition" gegeben, ein zentrales Kapitel des Koalitionsvertrages heißt "Bildung und Chancen für alle".

 

Darin stehen viele Versprechungen: mehr Platz und mehr Qualität in den Kitas, ein Digitalpakt 2.0, hochwertige Ganztagsschulen, zentral auch ein "Startchancen"-Programm mit massiven Investitionen, Extrabudgets und Sozialarbeitern für tausende Schulen, die von besonders vielen sozial benachteiligten Kindern besucht werden. Alles in allem werden sich die Ampel-Versprechungen auf viele Milliarden Euro zusätzlich summieren.

Schon bei ihnen heißt es Daumen drücken, dass Olaf Scholz und seinen Finanzminister Christian Lindner beim Blick auf die Zahlen nicht der Mut verlässt. Und selbst diese Milliarden werden nur ein Anfang sein können.

 

Denn das größte Problem unseres Bildungssystems ist nicht, wie manchmal suggeriert wird, der Föderalismus, so kompliziert er die Dinge macht. Das größte Problem unseres Bildungssystems ist seine Finanzierung. Wie das Geld verteilt wird: Pro Kopf am meisten erhalten zum Beispiel die Gymnasien – und am wenigsten die Grundschulen. Und auch wieviel Geld überhaupt da ist: Deutschland investierte vor der Coronakrise 3,0 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Kitas und Schulen, die OECD im Schnitt 3,4 Prozent, Norwegen gar 4,7 Prozent. In der Pandemie gingen die Bildungsausgaben zwar auch in Deutschland rauf – aber sind die Krisenausgaben mehr als ein Strohfeuer? Zu hoffen wäre es. 

 

Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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