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Ineffektiv, spaltend, rechtswidrig?

Vor zehn Tagen kritisierte die inzwischen entlassene Staatssekretärin Julia Heesen über den Account des Thüringer Bildungsministeriums Schulschließungen – und bezeichnete sie unter anderem als Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz. Gestern hat das Bildungsministerium Schulschließungen verkündet. Eine skurrile Geschichte, die für Minister Holter noch Folgen haben könnte.

ALS HELMUT HOLTER, der linke Bildungsminister von Thüringen, vergangene Woche seine Staatssekretärin Julia Heesen feuerte, klang die Begründung dafür so dünn wie seltsam. Heesen hatte zuvor über den Ministeriumsaccount eine Reihe von Tweets mit Gründen verfasst,  warum "wir die Schulen mit hoher Priorität offenhalten und die Ferien nicht verschieben." Mindestens einer der Tweets, teilte Holters Sprecher mit, sei "falsch" und "mindestens ein weiterer... missverständlich" gewesen.  Diese politische Krisenkommunikation und die Feststellung des Ministers, dass das Vertrauensverhältnis gestört sei, sei "ausschlaggebend" für die Entlassung der Staatssekretärin.

 

Dass die beiden inkriminierten Tweets verunglückt, aber nicht so daneben oder skandalös waren, dass sie eine solche harsche Reaktion rechtfertigten, war offensichtlich. Aber was war dann der eigentliche Grund?

 

Die gestern getroffene Entscheidung des Thüringer Kabinetts, die Weihnachtsferien um zwei Tage zu verlängern und anschließend bis zum 14. Januar Distanzunterricht an den Schulen im Freistaat anzuordnen, schafft nun Klarheit. Denn die Tweets Heesens lesen sich nun wie die scharfe Kritik einer Staatssekretärin, die offenbar die absehbare Entscheidung ihres Ministers nicht verhindern konnte, aber zumindest aus Überzeugung ein Zeichen gegen diese setzen wollte. Ob sie ihre Entlassung damit bewusst einkalkulierte?

 

Wer wissen will, was alles falsch ist an der Entscheidung Holters und des Kabinetts des linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, der muss jetzt lediglich die Tweets des Bildungsministeriums vom vorgegangenen Wochenende lesen.  

 

Sogar die Entscheidung, kaum Kinder in die Notbetreuung
zu lassen, kritisierte die Staatssekretärin vorab

 

Da stand: "Wir haben Kindern und Jugendlichen versprochen, dass sie nicht wieder in den Lockdown müssen." Man wolle nicht die Planungen an den Schulen umwerfen und auch nicht, dass alle Familien ihre Pläne wieder neu schreiben müssten. Und: "Wir sehen den geringen Effekt von Schulschließungen." Die Pandemie sei in Ländern, die die Schulen immer offen hatten, nicht anders verlaufen als in Deutschland. Außerdem verlagere,  wer Schulen schließe, die Verantwortung für das Testen in die Familien".

 

Sogar die Entscheidung Holters, nur solche Kinder für die Notbetreuung zuzulassen, deren Eltern in kritischen Infrastrukturen arbeiten, kritisierte der Ministeriumsaccount vorab: Offene Schulen verhinderten eine "neue Spaltung" in Kinder und Familien mit oder ohne Notbetreuung. "Denn wer Schulen schließt, muss auch sagen, welche Kinder und Familien nicht in Notbetreuung dürfen."

 

Bis zu diesem Punkt ist es lediglich skurril, die Tweets jetzt im Nachhinein zu lesen und sich vorzustellen, wie Holter angesichts seiner Schließungspläne auf sie reagiert haben muss. Doch der allerletzte Grund, den die Juristin Heesen in ihrem Thread vorbrachte, hat es in sich, und er ist es, der Holter so richtig gefährlich werden könnte. Heesen twitterte: "Wir halten uns an das Infektionsschutzgesetz." Also solange die Schulen offen seien. Denn das Gesetz verbiete den Ländern die Schließung aller "Gemeinschaftseinrichtungen nach Paragraph 33", zu denen Schulen und Kindergärten gehörten.

 

Mit anderen Worten: Das Ministerium verkündet auf seinem Account, dass Schulschließungen ein Gesetzesverstoß seien, und zehn Tage später verkündet dasselbe Ministerium Schulschließungen. Aber genauso ist es passiert. Und so fragte gestern die Bochumer Rechtswissenschaftlerin und Infektonsschutzrecht-Expertin Andrea Kießling auf Twitter: "Mich würde interessieren, auf welche Rechtsgrundlage Thüringen das stützt: Nach dem Infektionsschutzgesetz sind Schulschließungen dieser Art (in Form von Distanzunterricht) nicht erlaubt." Interessant finde sie auch, dass Schulen vor Restaurants geschlossen würden, "die sind nämlich noch auf".  Nach wie vor, ergänzte Kießling später, könnten einzelne Schulen nach dem Infektionsschutzgesetz geschlossen werden, "wenn es dort einen Corona-Ausbruch gibt (§ 28 Abs. 1 S. 2). Was nicht mehr möglich ist, sind flächendeckende Schließungen nach § 28a."

 

Die juristische Begründung der Landesregierung
muss außerordentlich triftig sein

 

Welche Antwort das Ministerium von Holter auf die sehr berechtigte Frage Kießlings hat, habe ich heute Morgen dort nachgefragt. Die Antwort steht noch aus. Die Begründung, warum die Thüringer Landesregierung glaubt, mit ihrer Entscheidung über dem bindenden Bundes-Infektionsschutzgesetz zu stehen, muss jedenfalls außerordentlich gut und triftig sein.

 

Juristisch vor allem, aber auch inhaltlich. Der Leipziger Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Julian Schmitz, kritisierte in einer ersten Reaktion auf die Schulschließungs-Entscheidung, man habe "offensichtlich nichts gelernt und setzt damit insbesondere sozial benachteiligte Kinder seelischer und körperlicher Gewalt sowie weiteren Bildungslücken aus."

 

Ab dem 17. Januar soll es Wechselunterricht und feste Gruppen geben, was vermutlich konform mit dem Infektionsschutzgesetz ist, regionale Schulschließungen sind es ebenfalls. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) schloss zuletzt beides angesichts von Omikron nicht aus.

 

Immerhin hat sich bislang kein Bundesland den Thüringer Schulschließungs-Plänen angeschlossen – aus Gründen des Kinderschutzes oder mit Blick auf das Infektionsschutzgesetz. 

 

Als die damals noch im Amt befindliche Staatssekretärin Heesen ihre Tweets absetzte, gab es übrigens einen fleißigen Retweeter aller zehn Gründe, inklusive dem, dass das Infektionsschutzgesetz Schulschließungen verbiete. Er hieß Bodo Ramelow.



Nachtrag am 23. Dezember, 12 Uhr:

Ist die Klarheit bei den Ansagen von Bettina Stark-Watzinger doch nicht durchgehend so groß? Nachdem die BILD, ironischerweise unter der Dachzeile "Bildungsministerin spricht Klartext" Stark-Watzinger mit dem Satz "Müssen Schulschließungen vorbereiten" zitierte, kritisierte die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder auf Twitter: "Was für ein fatales Signal" und schrieb an die Adresse von Stark-Watzinger: "Sie wissen doch auch, dass solche Ankündigungen Eigendynamik entfalten. Deutschland hatte europaweit mit die längsten Schulschließungen und jetzt wollen wir das Kindern wirklich wieder antun?" 

 

Die Angesprochene reagierte umgehend. Nein, sie wolle keine Schulschließungen, twitterte Stark-Watzinger. "Kinder, Jugendliche & Eltern haben genug gelitten. Aber ja, wenn durch Quarantäne & Omikron Unterrichtsausfall droht, dann müssen wir vorbereitet sein. Sei es durch zusätzliche Räumlichkeiten, sei es durch genug Serverkapazitäten, etc." 

 

Schröder antwortete darauf, Quarantäneregeln seien aber "kein Naturgesetz, sondern politische Entscheidung. Bei Delta sind wir inzwischen bei einigermaßen verhältnismäßigen Regelungen angekommen." Sie bat die Ministerin, sich dafür einzusetzen, dass diese Regelungen auch bei Omikron gelten würden "und nicht absurde 14-Tage-ganze-Klasse-Regeln".

 

Die Antwort Stark-Watzingers: "Ich bin sehr froh, dass wir jetzt eine Expertenkommission haben, in der kontinuierlich über solche Dinge beraten wird. Mit Prof. Dötsch ist dort explizit auch der spezielle Blick auf Kinder und Jugendliche vertreten." 

 

Die nächsten Tage und Wochen werden spannend, was die Debatte über Schulschließungen angeht. Stark-Watzinger wird sie mitprägen durch ihre Tonalität.

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