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Wie das System Schule bei der politischen Bildung versagt

Fridays for Future, Rezo-Videos und die Generation Z: Die Schulen müssen endlich anfangen, neue Brücken in die Lebenswirklichkeit junger Menschen zu bauen.  Ein Gastbeitrag von Klaus Hurrelmann
und Nina Kolleck.

Politisch aktive Generation Z: Schüler:innen bei einer Fridays for Future-Demonstration 2018 in Berlin. Foto: Jörg Farys, CC BY 2.0.

DAS POLITISCHE INTERESSE von Jugendlichen schwankt im historischen Vergleich. Nach langen Phasen der Abstinenz erleben wir aktuell eine engagierte junge Generation. Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Warum schwankt das politische Interesse der Jugend im historischen Vergleich? Warum interessieren sich Jugendliche für Politik? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Schulen?

 

Zum politischen Interesse von Jugendlichen gibt es bisher nicht viel gesichertes Wissen. Doch klar ist: Ob und wie sich Jugendliche für Politik interessieren, hängt von ihrer Lebenssituation ab. Entscheidend sind die Umbruchphase nach der Pubertät sowie der soziale Status und individuelle Bildungsgrad. Ein interessantes Beispiel ist der Wandel des politischen Interesses der Generationen Z und Y.

 

Der politischer Aktivismus 

der Generation Z

 

Die nach der Jahrtausendwende geborene heutige Generation Z – oft auch als "Generation Greta" bezeichnet – will aktiv die Zukunft gestalten. Ökologisch und politisch ist die Welt zwar unsicher, die berufliche Situation sieht aber deutlich besser aus. Das befreit von der Angst vor sozialem Scheitern. Und: Es setzt ungeahnte Energien für politische Beteiligung frei. So konnten Persönlichkeiten wie Greta Thunberg stark werden. Sie begründete mit ihrem "Schulstreik für das Klima" innerhalb kürzester Zeit eine einflussreiche Umweltbewegung unter dem Namen Fridays for Future (FFF). Die Bewegung klagt die ältere Generation an, will die Welt verändern und den Belangen der jüngeren Generationen mehr Gehör verschaffen. Das Kraftzentrum dieser Bewegung besteht aus etwa fünf Prozent des Jahrgangs. Das erinnert an ehemalige Bewegungen mit ähnlicher Strahlkraft, wie die Studierendenproteste von 1968. Bei ihnen reichte ebenfalls eine kleine, engagierte junge Gruppe aus, um die gesamte Gesellschaft nachhaltig zu verändern. 


Nina Kolleck ist seit 2019  an der Universität Leipzig beschäftigt. Dort leitet sie den Arbeitsbereich für Politische Bildung und Bildungssysteme. Foto: Bernd Wannemacher.

Klaus Hurrelmann ist Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Er arbeitet seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. Foto: Hertie School.



Auffällig ist die Alterszusammensetzung von FFF. Bereits 12-Jährige wirken aktiv mit. Offensichtlich setzt ein elementares politisches Interesse früh ein. Dieses findet ausdrücklich jenseits der Schule statt. Das Instrument "Schule schwänzen" wird gezielt eingesetzt, verbunden mit einem radikalen Vorwurf gegenüber Bildungsinstitutionen: "Was ihr uns vermittelt, ist für Zukunft und Realität irrelevant. Wenn wir unsere Zeit in der Schule vergeuden, droht der Weltuntergang." Deutlich wird eine Begründungsfigur, die typisch ist für einflussreiche Bewegungen: die Notwendigkeit des Bruchs mit gesellschaftlich etablieren Regeln, weil existentielle Gefahr drohe. Zudem wird der öffentlichkeitswirksame Einfluss anderer Mädchen, wie Malala Yousafzai oder Emma Gonzalez, gestärkt und um das existentielle Thema Klimaschutz erweitert.

 

Die politische Abstinenz
der Generation Y

 

Generation Y, das sind die in den Jahren 1985 bis 2000 Geborenen. Mit dem englischen "Why" ist eine fragende Grundhaltung und Sinnsuche symbolisiert. Jede Nische des Alltagslebens der "digital Eingeborenen" wird durch interaktive und digitale Medien erkundet. In ihrer sensiblen Phase Pubertät werden sie mit öffentlicher Unsicherheit und politischen Spannungen durch Terroranschläge und globale Kriege konfrontiert. Nach der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 mit hoher Jugendarbeitslosigkeit müssen sie erleben, wie ungewiss der Übergang in den Beruf ist. 

 

Charakteristisch für diese Generation sind eine opportunistische Grundhaltung, ein permanentes Abwägen von Alternativen der Lebensführung, ein Aufschub von Entscheidungen über Bildungswege und der Fokus auf die berufliche Karriere. Überzeugt davon, sich in unsicheren Zeiten nur auf sich selbst verlassen zu können, wird alles von den persönlichen Bedürfnissen her aufgerollt. Das politische Interesse ist schwach. 

 

Ob sich Jugendliche für Politik interessieren,
hängt von ihrer gesamten Lebenssituation ab

 

Die Ursachen der starken Schwankungen im politischen Interesse und gesellschaftlichen Engagement der jungen Generation sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Als sichere Erkenntnis lässt sich aber festhalten: Ob und wie sich Jugendliche für Politik interessieren, hängt von ihrer gesamten Lebenssituation ab. Entscheidend ist, wie sie mit den verschiedenen Herausforderungen der Lebensgestaltung in der Umbruchphase nach der Pubertät umgehen und mit den dabei unvermeidlichen Krisen zurechtkommen. 

 

Folgen wir der Sozialisationstheorie, dann prägen alterstypische "Entwicklungsaufgaben" das Jugendalter: die produktive Verarbeitung der Veränderung von Körper und Psyche ("innere Realität") und die Anpassung an die soziale und physische Umwelt ("äußere Realität"). Werden Entwicklungsaufgaben bewältigt, können Jugendliche eine autonome Identität aufbauen und soziale Integration erlangen. Eine der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter ist ihre Partizipation: Die Mitgestaltung des öffentlichen und politischen Lebens, eng verbunden mit einem individuellen Werte- und Normensystem. Diese Entwicklungsaufgabe ist an gesellschaftliche Rahmenbedingungen gekoppelt und schwankt im historischen Vergleich.

 

Was unsere Befunde
für die Schulen bedeuten

 

1. Die politische Bildung an Schulen muss versuchen, die Entwicklungsaufgabe Partizipation eng mit den anderen Entwicklungsaufgaben im Jugendalter zu verzahnen – eben weil das politische Interesse in der jungen Generation von ihrer Lebenssituation abhängt. Immerhin halten sich alle Kinder und Jugendlichen in dieser Einrichtung auf, sodass eine echte Chance besteht, politisches Interesse zu wecken und die Qualität des demokratischen Denkens und Handelns von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Die Chancen der politischen Bildung und der Förderung demokratischer Verhaltensweisen sind in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt worden.

 

2. Die schärfste Kritik an den Versäumnissen der politischen Bildung der Bildungsinstitution Schule stammt von der Umweltbewegung FFF. Die Bewegung stellt provokativ die Legitimation des heute üblichen Unterrichts in Frage. Man mag diese Kritik überzeichnet finden, aber sie hat unzweifelhaft einen bitteren Kern von Wahrheit. Tatsächlich ist es Schulen in den vergangenen Jahren nicht gelungen, die für Jugendliche wirklich lebenswichtigen und überlebenswichtigen Fragen ausreichend zu diskutieren. Wichtige Informationen zum politischen Leben haben sich junge Leute aus den Medien geholt, etwa über YouTube und Rezo. Politische Bildung als Schulfach hat in Deutschland eine nur geringe Rolle gespielt, und demokratische Verhaltensweisen und Rituale wurden nur in wenigen Schulen aktiv gelebt. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung untersuchte kürzlich den "Einfluss lehrerbezogener Variablen auf die Intensität schulischer Demokratiebildung" und kam dabei zum Schluss, dass eine überwiegende Mehrheit der Lehrkräfte nur selten Demokratiebildung vermittelt.

 

3. Die große Resonanz von Youtubern wie Rezo zeigt: Das politische Interesse von Jugendlichen findet in großem Maße im außerschulischen Bereich statt. Das Modell von Schule als geschlossenes System hat sich nicht bewährt. Vielmehr ist es wichtig, schulische und außerschulische Lernorte miteinander systematisch zu vernetzen. Bewegungen in diese Richtungen im Kontext der Etablierung regionaler Bildungslandschaften und Ganztagsschulen sind bereits zu verzeichnen. Ebenfalls kann es in diesem Zusammenhang gelingen, sozialen Jugendbewegungen wie FFF eine Stimme innerhalb von Schulen zu geben.

 

4. Parteien sollten sich in allen Schulen aktiv mit Schüler:innen zu strittigen Themen auseinandersetzen. Nicht nur in Zeiten des Wahlkampfs. So können zum Beispiel Foren und Diskussionsrunden mit Politiker:innen unterschiedlicher Parteien veranstaltet werden, die mit dem gerade laufenden politischen Unterricht verknüpft werden. Die Moderation übernehmen die Lehrkräfte. Förderlich sind ebenfalls öffentliche Veranstaltungen an Schulen zu Themen, die Jugendliche interessieren und Praktika der Parteien für Jugendliche, sodass sie dort konkret erfahren können, wie die Arbeit von innen aussieht. Zudem wäre zu überlegen, ob ein "Freiwilliges Soziales Jahr" nicht nur in politischen Institutionen und Stiftungen, sondern direkt in den Organisationen von Parteien und parteinahen Stiftungen eingerichtet werden kann.

 

5. Qualität und die Quantität des Schulfachs Politische Bildung variieren erheblich – mit dem besten und meisten Unterricht auf dem Gymnasium, wobei das Schulfach deutschlandweit und in allen Schulformen eine zu geringe Bedeutung und Quantität besitzt. Bessere und kontinuierliche politische Bildung im Unterricht, politische Erfahrungen im Schulalltag und Probewahlen (U18, Juniorwahl) können dazu beitragen, das Interesse an und Vertrauen in die Politik zu stärken. Ein politisches Interesse von Kindern besteht von Anfang an und kann in der Schulzeit systematisch gestärkt und gefördert werden. Ein guter Unterricht hat das Potential, Jugendlichen Lust auf Politik zu vermitteln. Zusammen mit Parteien, sozialen Bewegungen und außerschulischen Lernorten können Schulen dazu beitragen, einen engen Begriff von Politik aufzubrechen, der bei vielen Jugendlichen vorzufinden ist und nur staatliches Handeln umfasst. Letztlich geht es im Kern darum, die individuellen Interessen und Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen nicht aus den Augen zu verlieren und sich zugleich gesamtgesellschaftlichen Verantwortungen zu stellen.

 

6. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat die Ungleichheit der Bildungschancen und demokratiekritische Positionen verstärkt. Hier muss die Bildungspolitik schnell aktiv werden und darf den Anschluss nicht verpassen: Im Zuge der Digitalisierung von Schule darf nicht allein auf die Leistungsfunktion gesetzt werden. Vielmehr muss der digitale Unterricht genutzt werden, um die demokratische Schulentwicklung systematisch voranzubringen, Elemente der Demokratiebildung zu implementieren und ein Demokratieleben zu ermöglichen.

 

Die beiden dicht aufeinander folgenden Generationen Y und Z in ihrer Gegenüberstellung ein interessantes Beispiel dafür, wie sich das politische Engagement Jugendlicher innerhalb kurzer Zeit verändert. Zugleich zeigt sich: Das politische Interesse von Jugendlichen bildet sich dezidiert außerhalb von Schulen aus – mit der Aufforderung zum Schwänzen wird die Legitimation der Schule sogar gänzlich in Frage gestellt. Bildungspolitik und Schulen sind aufgefordert, die für Jugendliche wirklich (überlebens)wichtigen Fragen wieder systematisch aufzugreifen.



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Kommentare: 1
  • #1

    Ulrich Scheja (Freitag, 14 Januar 2022 08:04)

    Schade, dass überhaupt nicht erörtert wird, was demokratische Bildung ausmacht. Viel ist nicht immer gut. Es geht um Selbstbestimmung und Mitbestimmung, ein großes pädagogisches Thema, das im Schulalltag täglich im Fokus steht. Schule schafft immer Gesprächsräume und rationale Diskussion. Das Problem ist eher fehlende Sachlichkeit und Inhaltliches in den Medien. Auch dieser Artikel vermittelt v. a. ein Gefühl, aber kaum Fakten, teilweise auch ein Problem von FFF, von Rezo sowieso.