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Weg mit der Inzidenz?

Wie sich die Zahlen der Infizierten und der Schwerkranken zunehmend entkoppeln – und warum das neue Schuljahr die vierte Welle bremst.

Grafik:  Please Don't sell My Artwork AS IS / Pixabay.

DIE CORONA-ZAHLEN klettern weiter rasant, die 7-Tages-Inzidenz liegt wieder über 50 und damit zumindest nominell so hoch wie auf dem Höhepunkt der ersten Welle im Frühjahr 2020. Besonders stark legen die Neuinfektionen bei den meist ungeimpften 5- bis 14-Jährigen zu: in der vergangenen Kalenderwoche um 101 Prozent gegenüber der Vorwoche – im Vergleich zu 52 Prozent über alle Altersgruppen hinweg. Wiederholt sich trotz der Impfungen der Herbst 2020, nur sogar schon zwei Monate früher, weil damals der große Anstieg erst Anfang Oktober begann? Und ausgerechnet jetzt verkündet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die 50er-Inzidenz habe ausgedient?

 

Wer hinter die bundesweiten Zahlen und auf die einzelnen Altersgruppen blickt, findet indes einige Hoffnungszeichen – und genügend Anlass, um längst noch nicht schwarz zu sehen für die nächsten Monate.

 

Hoffnungszeichen 1: Wo die Sommerferien vorbei sind, steigen die Zahlen deutlich langsamer

Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sind teilweise schon in der vierten Schulwoche. Und die vom Robert-Koch-Institut (RKI) registrierten Corona-Inzidenzen in den fünf Ländern? Steigen immer langsamer. Oder sinken im 7-Tages-Vergleich sogar: Schleswig-Holstein von 49,9 auf 48,1. Hamburg von 78,3 auf 71,4. Für Berlin meldete das RKI heute Morgen 68,7 nach 66,2 in der Vorwoche. Brandenburg: 24,2 nach 20,7, Mecklenburg-Vorpommern: 29,2 nach 25,6.

 

Nimmt man alle fünf Länder zusammen, dann ergibt sich für die am Sonntag zu Ende gegangene Kalenderwoche (33) gerade mal noch ein Anstieg um 3,0 Prozent im Vergleich zur Vorwoche – im Vergleich zu 52 Prozent bundesweit. Besonders erfreulich: Auch die Meldezahlen der Kinder zwischen 5 und 14 steigen nur noch moderat um 10,0 Prozent, die der Kitakinder um weniger als zwei Prozent. Bei den 15- bis 19-Jährigen gab es sogar einen Rückgang um neun Prozent. 

 

Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Nachdem die Ferien und der Urlaub die Corona-Dynamik angefeuert haben, bremst die Rückkehr zum Alltag und zum Schulunterricht (samt den in der Schule herrschenden Hygiene-Vorkehrungen) sie nun deutlich. 

 

Hoffnungszeichen 2: Die Intensiv-Zahlen entkoppeln sich immer stärker von den Inzidenzen

Gestern meldete das DIVI-Register 775 Corona-Infizierte auf den deutschen Intensivstationen. Das waren 41 Prozent mehr als vor einer Woche (548). Das ist nicht gut. Positiv aber ist, dass dieses Plus deutlich unter dem mittelfristigen Zuwachs der Meldeinzidenzen liegt (zuletzt teilweise +60 Prozent pro Woche).

 

Deutlicher wird das Abkoppeln beider Indikatoren, wenn man die aktuellen Intensivzahlen mit denen aus der Herbstwelle des vergangenen Jahres vergleicht – und zwar zu dem Zeitpunkt, als die Meldeinzidenzen in etwa identisch mit den heutigen waren. Das Ergebnis: Am 16. Oktober 2020 lag die Zahl der Intensiv-Patienten bundesweit bei 690. Eine Woche später, am 23. Oktober, schon bei 1.121. Ein Zuwachs von 63 Prozent binnen Wochenfrist – was ziemlich genau dem damaligen Trend bei den Inzidenzen entsprach. Warum? Weil es noch keine Impfungen gab. Übrigens lag die 7-Tages-Inzidenz am 16. Oktober 2020 bei 37,2 und am 23. Oktober 2020 bei 60,3. Am 16. August 2021: bei 36,2. Und gestern: bei 56,4. Vergleichbar. Aber die Intensiv-Zahlen liegen inzwischen um mehr als 40 Prozent niedriger als im Vorjahr: 775 versus 1121.

 

Es bleibt spannend: Zwischen dem 23. und dem 30. Oktober 2020 gab es einen weiteren Sprung von 1121 auf 1839. Wo wir wohl am 30. August 2021 liegen werden? Fest steht schon jetzt: erheblich niedriger.

 

Hoffnungszeichen 3: Die Demographie der vierten Welle bleibt anders

Das ist die Erklärung für die niedrigeren Intensiv-Zahlen. Und auch Grund für einen gewissen Optimismus: Die Impfungen sorgen dafür, dass sich die Älteren viel seltener infizieren – und entsprechend seltener schwer erkranken. Eindrucksvoll zeigt dies der Vergleich der vergangenen Kalenderwoche mit der Kalenderwoche 42 des vergangenen Jahres (ab 12. Oktober 020, wieder derselbe Zeitraum wie oben), als die Fallzahlen halbwegs vergleichbar waren. Von den damals gemeldeten 42.005 Neuinfizierten waren 5.241 zwischen 60 und 79 und 1.869 älter als 80. Und jetzt die vergangene Kalenderwoche: 48.690 Neuinfizierte, davon 2216 zwischen 60 und 79 und 653 über 80. Noch wichtiger aber ist die Dynamik, weil damals der große Anstieg bei den Älteren noch kam und auch aktuell die Infektionen bei den Älteren wieder stärker zunehmen. Insgesamt betrug das Plus im Wochenvergleich damals bei den 60- bis 79-Jährigen 72 Prozent – zwölf Prozentpunkte über dem Schnitt der Gesamtgesellschaft. In der vergangenen Kalenderwoche waren es 36 Prozent – 21 Prozentpunkte weniger als in der Gesamtgesellschaft. 

 

Woraus folgt: Das Abkoppeln der Intensiv- von den Inzidenzzahlen wird sich noch verstärken. Das gilt selbst dann, wenn die Meldeinzidenz bei den 30- bis 59-Jährigen weiter kräftig zunimmt. Natürlich dürfen die Infektionszahlen trotzdem nicht immer weiter so stark steigen, weil sonst die zusätzlichen Fälle bei den Jüngeren den Puffer bei den Älteren zunichte machen würden. Aber soweit sind wir noch nicht. Und der Blick auf Hoffnungszeichen 1 (die Bundesländer, in denen schon länger wieder Schule ist) zeigt, dass es auch nicht so kommen muss. 

 

Ein paar Gedanken zu Nordrhein-Westfalens Sonderkonjunktur...

In NRW gehen die Meldezahlen gerade durch die Decke: Fast 78 Prozent in der vergangenen Kalenderwoche 33 mehr als in der Vorwoche – und fast 200 Prozent mehr als in Kalenderwoche 31. Am 17. August hat dort die Schule wieder angefangen, insofern war die vergangene Kalenderwoche eine Art Abschlussbilanz der Urlaubszeit. Die epidemiologisch verheerend war. Besonders deutlich zeigt sich das an den Meldezahlen der 5- bis 14-Jährigen, die in der vergangenen Woche erstmals wieder in den Schulen pflichtgetestet wurden. Ergebnis: +193 Prozent zur Vorwoche. Das sind keine Übertragungen in den Schulen wohlgemerkt. Sondern einfach ein Ehrlichmachen nach den Ferien. Da Kinder und Jugendliche in der Regel nicht schwer erkranken, ist das nicht direkt so sehr besorgniserregend – aber da nur Kinder und Jugendliche so häufig getestet werden, geben ihre Zahlen Einblick in die Corona-Situation der NRW-Gesamtgesellschaft nach den Ferien.

 

Entscheidend wird nun sein, wie es in den nächsten Wochen weitergeht. Da die Dynamik in NRW besonders ausgeprägt ist, ist zwar damit zu rechnen, dass ähnlich wie in den fünf Schon-wieder-Schule-Ländern das Wachstum auch hier merklich gebremst wird, aber ob das reicht? Unklar bleibt zudem, welche zusätzlichen Faktoren im größten Bundesland die Corona-Lage gerade noch verschärfen. 

 

...und zu den übrigen Ferienländern

Nach den Erfahrungen der übrigen Ferienländer war absehbar, dass auch Bayern und Baden-Württemberg den nächsten Corona-Boom bekommen, wenn dort die Schulferien beginnen. Und so kam es dann auch. Dort erhöhte sich die Zahl der Neuinfektionen in der Kalenderwoche 33 um 58 Prozent – sechs Prozentpunkte mehr als im Bundesdurchschnitt. Das klingt nach gar nicht so viel mehr – ist es aber, wenn man bedenkt, dass in den Bundeszahlen auch die Schon-wieder-Schule-Länder drin sind und außerdem NRW. In Bayern und Baden-Württemberg dürfte sich die Melde-Inzidenz bis zum Ferienende Mitte September weiter von Woche zu Woche beharrlich aufbauen – und erst die Schule hoffentlich die Abschwächung bringen.

 

Aktuell drängender geht der Blick aber nach Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland, wo die Schule am Montag beginnt. Wenn alles so läuft wie erwartet, bekommen diese drei dann den nächsten Riesen-Anstieg innerhalb weniger Tage, weil die Rückkehr zu den Pflichttests an den Schulen die Folgen der Urlaubszeit erst in voller Dimension zeigt. 

 

Prognose: Wie es jetzt weitergeht

Wer auf ein baldiges Ende (oder zumindest Abflachen) der vierten Corona-Welle hofft, wird enttäuscht werden. In den Bundesländern, wo Urlaubszeit und Ferien enden: ja, dort ist das denkbar, möglich und sogar nicht unwahrscheinlich, wie der Blick nach Hamburg, Schleswig-Holstein und Co zeigt. Aber bis alle Bundesländer ihre Ferienbilanz in den Inzidenzen durch haben, wird es Ende September sein. Und dann geht es fast nahtlos weiter mit den saisonalen Einflüssen des Herbstwetters auf die Neuinfektionen. 

 

Wenig optimistisch stimmt mich persönlich zudem, dass zwar jetzt fast überall in den Innenräumen die 3G-Regel gilt, diese jedoch an vielen Orten offenbar bislang kaum ernsthaft angewandt wird. Warum auch? Es fehlen meist klare Aussagen, welche Strafen oder Bußgelder bei Nichtbeachtung drohen, und zwar den Gästen und Kunden genauso wie den Betreibern von Restaurants, Fluggesellschaften etc. Solange das so ist, bezweifle ich, dass die 3G-Regel Infektionsdynamik bremsen wird. Übrigens ein eklatanter Unterschied zu der Konsequenz von Pflichttests & Co in den Schulen.

 

Die größere Hoffnung besteht in der beschriebenen Abkopplung von Inzidenz und Intensiv-Zahlen durch die Impfungen. Wenn sich diese, was wahrscheinlich ist, in den nächsten Wochen fortsetzt, gibt das eine Menge Luft für den Herbst. Allerdings nicht ewig. Die Impfquote vor allem bei den Mittelalten und Alten muss noch weiter deutlich steigen, denn sie sind es, die häufiger schwer erkranken. Es wäre gut, wenn sich die Debatte darauf wieder stärker konzentrieren würde, anstatt vor allem über die Impfungen der kaum selbst gefährdeten Kinder und Jugendlichen zu diskutieren. 

 

Schlussfolgerung: Abkehr von der Inzidenz ist richtig, aber...

Gesundheitsminister Spahn sagte gestern im ZDF, die 50er-Inzidenz habe "ausgedient". Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und das Corona-Kabinett haben sich darauf verständigt, dass künftig unter anderem die Belastung in den Krankenhäusern mit COVID-19-Patienten zum Maßstab werden soll. Das ist insofern sinnvoll, weil sich Inzidenz und Zahl der Intensivpatienten wie beschrieben entkoppeln. Problematisch aber ist, dass die neuerdings vom RKI angegebene Hospitalisierungs-Inzidenz grundsätzliche Mängel enthält, zu denen ich demnächst etwas schreiben werde. Kurz gefasst: Sie ist komplett unaktuell und daher als Lage-Indikator ungeeignet. Insofern bleibt die 7-Tages-Meldeinzidenz im Sinne eines Trendbarometers doch wichtig – verbunden mit der Ist-Lage auf den Intensivstationen.

 

Doch muss auch die Intensiv-Statistik aussagekräftiger werden: Je höher die Impfquote, desto weniger Menschen erkranken zwar schwer an Corona. Aber sie erkranken natürlich an anderen Dingen schwer, vor allem die Älteren. Wenn nun gleichzeitig Impfdurchbrüche häufiger werden, was absehbar ist, führt dies dazu, dass Routine-Tests von Intensiv-Patienten eine größere Zahl von Corona-Infektionen nachweisen werden, die aber nicht maßgeblich für das Krankheitsbild sind. Trotzdem werden diese Intensiv-Patienten als Corona-relevant gezählt. Und genau das wird auf Dauer nicht funktionieren, um die Pandemielage verlässlich wiederzugeben. 




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Kommentare: 2
  • #1

    Nele (Dienstag, 24 August 2021 12:33)

    NRW ist (außer Sachsen, was aber noch Ferien hat) das einzige Bundesland das verpflichtende Arbeitnehmertestungen nach 5 Tagen Abwesenheit am Arbeitsplatz, vorschreibt. Deshalb wird auch bei dern Erwachsenen das Dunkelfeld stärker erhellt, als in anderen Bundesländern.

  • #2

    Kerstin L. (Donnerstag, 26 August 2021 09:42)

    Vielen Dank für die Analyse der aktuellen Entwicklungen. Leider fehlt das Thema "Long Covid" in Ihrem Artikel und vielfach auch in der allgemeinen Diskussion um Corona-bedingte Beschränkungen. Die Inzidenz sollte mit Blick auf Long Covid auch weiterhin niedrig gehalten werden.