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Bereitet die Schulen vor!

Das Mitleid mit den aus der Ukraine Geflüchteten ist groß. Doch haben wir schon die Dimensionen dessen begriffen, was da auch aufs deutsche Bildungssystem zukommt?

WER WISSEN WILL, worauf sich Deutschlands Politik – und damit auch Deutschlands Bildungspolitik – vorbereiten sollte, musste in den vergangenen Tagen nur ein wenig Zeit am Berliner Hauptbahnhof verbringen und beobachten, wie ein Zug nach dem anderen mit Geflüchteten aus der Ukraine eintraf. Mütter, Kinder, Großmütter. Ein paar Großväter. Gedränge, Durcheinander, Gesichter zwischen Erleichterung, Verwirrung und Verzweiflung. Szenen großer Hilfsbereitschaft. Geplanter und spontaner.

 

Es ist in so vielerlei Hinsicht eine andere Situation als 2015 und 2016, als mehr als eine Million Geflüchtete größtenteils aus Syrien nach Deutschland kamen. Damals waren viele junge Männer darunter. Diesmal müssen die Männer zwischen 18 und 60 in der Ukraine bleiben, um gegen die Russen zu kämpfen. Damals war die Heimat der meisten Flüchtlinge tausende Kilometer und verschlungene Wege zu Lande und zu Wasser entfernt. Dort herrschte ein Krieg, der – obgleich das nicht stimmte – wenig zu tun haben schien mit dem Leben in Mitteleuropa. Diesmal tobt der Krieg um die Ecke, ein paar hundert Kilometer entfernt, es ist ein europäischer Krieg, und die ersten Geflüchteten erreichten die deutschen Grenzen nach wenigen Tagen und Stunden. Damals war das Ziel von sehr vielen Deutschland, Österreich oder die skandinavischen Länder. Diesmal sieht es so aus, als würden Polen, die Slowakei und Ungarn nicht nur die ersten, sondern die bevorzugten Ziele sein. 

 

Und doch scheint sich in so vieler Hinsicht die Geschichte von 2015 zu wiederholen. Abgesehen von dem Trauma und Leid der Geflüchteten vor allem dadurch, dass Deutschland die Auswirkungen der Fluchtbewegung für sich selbst womöglich erneut falsch einschätzt.

 

Der Migrationsforscher Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erwartet laut Rheinischer Post, dass europaweit schon nächste Woche mit 2,4 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine der Umfang der Welle von 2015/16 überschritten wird. Ja, die große Mehrheit der bereits bis zum 2. März laut Uno-Flüchtlingswerk geflüchteten 1,05 Millionen Menschen, rund 900.000, ist in die im Süden und Westen angrenzenden Nachbarstaaten der Ukraine gegangen.

 

Bald gelangen die osteuropäischen
EU-Staaten an ihre Aufnahmegrenzen

 

Fest steht aber auch: Polen, die Slowakei oder Ungarn werden bald an ihre Aufnahmegrenzen gelangen. Während die Zahl der Ukrainer, die ihre Kinder nehmen und gehen, eher noch schneller wachsen wird, je länger Gewalt und Zerstörung andauern, je härter gekämpft wird. Und zwar sehr bald: Denn je heftiger der Krieg tobt, desto gefährlicher wird auch der Weg in die Sicherheit, die Zeit drängt für viele also. Viele Geflüchtete werden dann aus den osteuropäischen EU-Staaten weiterziehen – weil sie selbst sich so entscheiden oder weil sie dazu gedrängt werden.

 

Deutschland hat, als bevölkerungsstärkstes Land der Europäischen Union in geographischer Nähe der Ukraine, eine moralische Verpflichtung und die wirtschaftliche Kraft, wie 2015 zu einem, möglicherweise erneut zum größten Zufluchtsort für Menschen in Not zu werden. Und ganz gleich, ob sich Bund und Länder sich darauf einstellen, ob sie die Gesellschaft darauf vorbereiten oder nicht: Wenn sich die Lage in der Ukraine nicht in Kürze dramatisch verbessert, was – Stand heute – ausgeschlossen erscheint, dann werden die Geflüchteten bald zu Zehntausenden pro Tag in die Bundesrepublik kommen. Falls sie es nicht längst tun und wir es nur noch nicht in dem vollen Ausmaß mitbekommen. Denn anders als 2015 wird das, weil die Ukraine so nah ist, praktisch ohne zeitliche Vorwarnung geschehen. Und dann wird es demnächst überall auf den Bahnhöfen so aussehen wie am vergangenen Wochenende in Berlin. 

 

Die Integration der Geflüchteten nach 2015 ist, so zeigten später Analysen, besser gelaufen als zunächst befürchtet. Aber 2015 wurde die Bundesrepublik auf dem falschen Fuß erwischt, und das galt auch und gerade für die Kitas und Schulen. Diesmal haben mehrere Bundesländer, darunter Berlin und Brandenburg, bereits angekündigt, Willkommensklassen vorzubereiten.

 

Anders als vor sieben Jahren gehen Bildungsexperten zudem davon aus, dass viele Kinder und Jugendliche aus der Ukraine von Anfang an in die Regelklassen integriert werden können. Etwas, worauf auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hinweist: Die Ukraine sei ein Land im Aufbruch gewesen, sagt sie. "Eine junge Demokratie, die sich auch daran gemacht hatte, ihr Bildungssystem zu reformieren und dem Rest Europas anzunähern." Genau davon könnten, so ist zu hoffen, viele der jungen Ukrainer, die im Ausland ihre Schulbildung fortsetzen, jetzt profitieren.

 

Berlin heißt Geflüchtete willkommen – und will 
gleichzeitig den Schulen ihren Verfügungsfonds kürzen

 

Aber woher bekommen die Schulen in der Bundesrepublik das nötige Zusatzpersonal – vor allem für die Betreuung, für die Sprachlehrer und die Sozialarbeit – um den Einstieg ins Lernen und das soziale Ankommen zu erleichtern, aber auch um mit den entstandenen Traumata umzugehen? Klar ist: Ehrenamtliche allein – so ähnlich, wie sie derzeit zum großen Teil die Annahme am Berliner Hauptbahnhof schmeißen, weil von den Behörden noch sehr wenig kommt – werden es nicht stemmen.

 

Zum bekannten Fachkräfteproblem an den Schulen kommt indes, dass die Politik sich, obwohl sie es besser wissen sollte, je nach Bundesland offenbar anschickt, auch die Schulen an der Corona-Haushaltsrechnung zu beteiligen. So haben Berlins Kollegien vergangene Woche per Rundschreiben erfahren, dass ihnen im Doppelhaushalt 2022/23 der jährlicher Verfügungsfonds von bislang je nach Schülerzahl 15.000 bis 30.000 Euro jährlich voraussichtlich auf 3000 Euro gekürzt wird. Also gerade das wenige bewegliche Geld, das sie haben. Das wäre schon vor vier Wochen unerhört gewesen. Jetzt, seit Beginn der Fluchtbewegungen, ist es eigentlich unglaublich. 

 

In der zweiten Wochenhälfte treffen sich die Kultusminister in Lübeck. Eigentlich wollten sie vor allem über die Corona-Regeln an den Schulen nach dem 19. März diskutieren, über die Lehren aus der Pandemie und – mal wieder – über Wege aus dem Lehrkräftemangel. Das Thema Ukraine und geflüchtete Kinder, kündigte KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) schon vergangene Woche an, wollen sie sich jetzt ebenfalls vornehmen. Hoffentlich nehmen sie sich genügend Zeit dafür und bereiten eine bundesweite Koordination vor. Und sagen den Schulen, womit sie konkret an Unterstützung rechnen können.

 

Auf der Agenda in Lübeck steht außerdem ein offizielles Kennenlern-Gespräch der Kultusminister mit der Bundesbildungsministerin. Stark-Watzinger hat in ihrem Ministerium eine Task-Force eingesetzt, um sich mit den Auswirkungen des Ukraine-Krieges zu beschäftigen, für die Wissenschaft und für die Bildungseinrichtung. Sie versichert: "Wir bereiten uns auch darauf vor, geflohenen Kindern und Jugendlichen zu helfen." Dabei gehe es insbesondere um ihre Integration ins Bildungssystem. "Wir stehen dazu mit den Ländern in Kontakt. Dort werden derzeit entsprechende Vorbereitungen getroffen."Und die Bundesbildungsministerin fügt hinzu: "Die Menschen, die aus der Ukraine fliehen, werden hier auch arbeiten dürfen. Junge Menschen müssen eine Ausbildung oder ein Studium beginnen können. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen zügig läuft, genau wie die eventuell nötige Nachqualifikation."

 

Die Rhetorik passt immerhin schon einmal. Wenn jetzt überall die möglichen Dimensionen der Fluchtbewegung aus der Ukraine für Deutschlands Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe erkannt würden, dann könnte es gelingen, die Lehren von 2015 zu nutzen und es diesmal besser zu machen. 



Nachtrag am 8. März:

 

ALLMÄHLICH WERDEN die Zahlen realistischer. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell sagte am Montag nach einem Treffen der Entwicklungsminister der EU-Staaten, die Dynamik des Zustroms lasse befürchten, dass fünf Millionen Geflüchtete aus der Ukraine erreicht würden. Es wäre die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

 

Was das für Deutschland bedeuten würde? Gestern schrieb ich bereits: "Bereitet die Schulen vor!" Eine vorsichtige Rechnung auf der Grundlage von Borells Zahl verdeutlicht, warum: Vermutlich wird die Bundesrepublik spätestens, wenn die Kapazitäten in Polen, der Ukraine und der Slowakei erschöpft sind, wegen ihrer geografischen Nähe und Wirtschaftsstärke zu einem bevorzugten Ziel Geflüchteter werden. Doch selbst wenn sie nur eine Zahl relativ zu ihrem Anteil an der EU-Bevölkerung aufnähme, entspräche das rund einer Million Menschen. Wenn nun alle ausreiseberechtigten Altersgruppen gemäß ihrer Verteilung in der ukrainischen Bevölkerung gleichermaßen kämen, hieße das: Rund 27 Prozent der Ankommenden werden Minderjährige sein.

 

Warum so viel, wenn doch nur etwa 19 Prozent der Ukrainer unter 18 sind? Weil Männer zwischen 18 und 60 nicht ausreisen dürfen. Das bedeutet: Deutschland sollte sich auf mindestens 250.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche vorbereiten, wahrscheinlich mehr. Allein schon weil die Vermutung naheliegt, dass tendenziell noch mehr junge und weniger alte Menschen kommen werden. 

 

Setzt man die in Deutschland üblichen Bildungsausgaben von gut 9.000 Euro pro Schulkind und Jahr an (und eigentlich sollte es gerade für Geflüchtete mehr sein!) ergäbe das schon bei 200.000 zusätzlichen Schülern 1,8 Milliarden Euro. Allein für dieses Jahr. 

 

Natürlich kann man solche Zahlen jetzt zur Seite reden oder argumentieren, dass man doch einfach in jede Klasse einen Stuhl mehr schieben müsse, das reiche erstmal. Oder man lässt sich auf das Szenario ein. Und überlegt JETZT, was zu tun ist. Meine Schlussfolgerung: Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sollte am Donnerstag, wenn sie die Kultusminister in Lübeck trifft, mit hnen ins Gespräch über ein Bund-Länder-Programm einsteigen. Am besten als Teil einer noch zu entwickelnden Gesamtstrategie der Bundesregierung zur Aufnahme der Geflüchteten. 

  

Denn sieht man sich die Zahlen und die Summen an, wird klar: Wenn der Strom der Geflüchteten tatsächlich so groß wird, wie der EU-Außenbeauftragter (meines Erachtens zu Recht) vermutet, steuern wir auf einen zweistelligen Milliardenbetrag zu, um die Menschen aus der Ukraine menschenwürdig zu versorgen. 

 

Was das für den Bundeshaushalt insgesamt bedeutet, und damit auch für die Ambitionen der Ampel in Bildung und Forschung, habe ich gestern aufgeschrieben. Es sei denn, die Ampel mit ihrem Finanzminister Christian Lindner (FDP) verabschiedet sich schleunigst von ihrem Plan, schon 2023 die Schuldenbremse einhalten zu wollen. Das sollten sie. Was gestern angemessen erschien, ist es heute nicht mehr.

 

Auf keinen Fall dürfen die Versorgung der Geflüchteten und der geplante soziale, wirtschaftliche und technologische Aufbruch in Deutschland gegeneinander ausgespielt werden. Das würde nicht nur den Kern der Ampel in Frage stellen. Es würde gesellschaftliche Zwietracht und Unfrieden entstehen. Was nur einer gut fände: Wladimir Putin. 

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