· 

Wann, wenn nicht jetzt?

Deutschlands Bildungspolitik steht angesichts hunderttausender aus der Ukraine geflüchteter Kinder und Jugendlicher vor gewaltigen Integrationsaufgaben. Wir müssen sie annehmen, den Föderalismus weiterentwickeln und einen ständigen Bildungsgipfel einrichten.
Ein Gastbeitrag von Holger Mann.

DER UKRAINE-KRIEG wird vermutlich nicht schnell vorbei sein. Vielmehr geht er gerade in eine neue Phase, welche die Entscheidung final auf dem Schlachtfeld sucht. Nach einer Befragung des Bundesinnen-ministeriums rechnet inzwischen nur noch ein Drittel der zu uns Geflüchteten damit, "bald in die Ukraine zurückkehren zu können".

 

Die Bilder zerstörter Städte, von zerbombten Schulen und Krankenhäuser lassen die Hoffnung darauf aber schwinden. Mit jeder weiteren Woche des Krieges wird so wahrscheinlicher, dass sich die Bundesrepublik bei Aufnahme und Integration ukrainischer Geflüchteter auf ein mehrjähriges Szenario einstellen muss.

Holger Mann, 43,  ist stellvertretender Sprecher für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung der SPD-Bundestagsfraktion. Foto: Katrin Lorenz.


Wie groß die hieraus erwachsenden Integrationsaufgaben werden, lässt sich nur erahnen. Die UN meldet, dass zwei Drittel der 7,5 Millionen ukrainischen Kinder und Jugendlichen ihr Zuhause bereits verlassen haben. Ins Ausland seien bisher 4,5 Millionen Ukrainer:innen geflohen, davon 90 Prozent Frauen und Kinder. 

 

Größe der Aufgabe

ermessen und annehmen

 

Sicher ist, dass in Deutschland bisher offiziell 350.000 ukrainische Geflüchtete registriert sind. Durch den Bearbeitungsstau bei der Registrierung in den Kommunen liegen die realen Zahlen jedoch deutlich höher. 

 

Bezogen auf das Bildungssystem hat sich KMK-Vorsitzende Prien hier im Blog auf 400.000 Schüler:innen nach oben korrigiert. Und sprach sie am 7. April noch von 7.000 benötigten Lehrkräften, so rechnet sie nun mit 24.000 und einem realistischen Schlüssel. Hinzu kommen die Geflüchteten in KiTas und Hochschulen. Der DAAD erwartet bis zu 100.000 Studierende aus der Ukraine. Die Erfahrungen der Fluchtbewegungen von 2015/16 lehren uns, diese Herausforderung aktiv anzunehmen. 

 

Potentiale der ukrainischen

Geflüchteten nutzen

 

Zu uns kommen nicht nur Hilfsbedürftige, sondern Menschen, die sich einbringen wollen. So erleben wir in den Ankommens- und Erstaufnahmezentren als erstes Fragen nach Arbeit und Bildung. Gleichzeitig sind unter den Geflüchteten überproportional viele Erzieherinnen und Lehrerinnen. Wenn sich Kommunen und Länder ehrlich machen, wird die Aufgabe kurz- und mittelfristig gar nicht anders zu bewältigen sein, als diese in großer Zahl einzustellen. Hierin liegen mehrere Chancen: Multiprofessionelle Teams könnten Ankommen und Aufarbeitung unterstützen, die deutschen Bildungssysteme würden unter anderem fehlende Fremdsprachenkenntnisse gewinnen und Ukrainer:innen würden integriert. 

 

Was es dafür kurzfristig braucht, ist nicht so sehr die Gründlichkeit deutscher Verwaltungen, sondern vielmehr ein Aufeinanderzugehen der Sozialpartner:innen und eine temporäre Flexibilisierung deutscher Fachstandards. Dies drängt am meisten bei den hohen Erfordernissen an Kinderbetreuung für Träger von Sprach- und Integrationskursen. Wenn Mütter diese nicht nutzen können, weil es keine ausgebildeten Erzieher:innen für die Betreuung ihrer Kinder gibt, ist keiner ukrainischen Familie geholfen. 

 

Quereinstieg und

Anerkennungsverfahren ausbauen

 

Darüber hinaus braucht es natürlich Wege zu anerkannten Abschlüssen. 

Ein erster Schritt sollte der Ausbau der Zentralen Servicestelle Berufsanerkennung sein. Hier könnte ein neuer Sonderbereich für aus der Ukraine Geflüchtete Verfahren beschleunigen. 

 

Wirklich wertvoll wäre es, wenn sich die KMK nach den Einstellungsstandards auch auf eine einheitliche Vorgehensweise zur Anerkennung ukrainischer Qualifikationen im Bildungsbereich verständigt. Es braucht keinen Zentralismus, aber 16 verschiedene, langwierige Verfahren und Anerkennungsstellen sind angesichts eines recht zentralisierten, ukrainischen Bildungssystems kaum vermittelbar. Grundsätzlich sollte ein Umdenken bei der Anerkennung erworbener Kompetenzen einsetzen. Ob das von der KMK angebotene Plausibilisierungsverfahren bei fehlenden Dokumenten hilfreich ist, muss sich zeigen. Das Angebot ist ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Insbesondere in der Lehrer:innenbildung müssen Quereinsteigerprogramme deutlich skaliert werden. Persönlich hoffe ich, dass in den Ländern Ansätze wie Ein-Fach-Lehrer und polyvalente Studiengänge genutzt werden, um die – schon vor dem Ukraine-Krieg – vorhandenen Bedarfe besser decken zu können. 

 

Krise verlangt echte

Bildungskooperation

 

Diese Krise schreit danach, die Weiterentwicklung des Kooperationsverbotes in ein echtes Kooperationsgebot umzusetzen. Wann, wenn nicht jetzt, wäre der Zeitpunkt, einen ständigen Bildungsgipfel einzurichten. Die Auswirkungen des Krieges zeigen, wie wichtig die Zusammenarbeit aller Ebenen im Bildungsbereich ist. Ohne diese vertiefte Zusammenarbeit wird der Bund weiter nur mit Programmen unterstützen. Mit ihren kurzen Laufzeiten sind diese aber weder für den nachhaltigen Ausbau der Lehrer:innenbildung und Didaktik-Professuren noch für den Kompetenzaufbau in den Bereichen Friedensforschung, Krisenprävention und Osteuropa geeignet. Selbiges gilt für die stärkere Nutzung digitaler Bildungsangebote, die Fortsetzung des Digitalpaktes, die Etablierung des Start-Chancen-Programmes oder auch fürdie notwendige Förderung von außerschulischer Integration über Sport und Kultur. Mehr Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen und ein gemeinsamer Lösungswille könnten auch Hürden bei der Datenübernahme beseitigen und Verfahren bei der Arbeitsmarktintegration beschleunigen. 

 

Natürlich steht kurzfristig die schnelle Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten im Vordergrund. Sicherlich werden uns in den kommenden Monaten auch Stipendien, neu geschaffene Sprachkurse, Willkommensklassen und Angebote der Studienkollegs helfen, Integration zu befördern. Um aber auf lange Sicht Verlässlichkeit zu schaffen und einen gemeinsamen Plan für die Zeit nach den Sommerferien zu entwickeln, sollte jetzt ein Bildungsgipfel einberufen werden.



Kommentar schreiben

Kommentare: 0