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Der Wert der Sozialen Arbeit

Alice Salomon wollte die sozialen Berufe professionalisieren und ihnen ein wissenschaftliches Fundament geben. Ein Ziel dabei: mehr gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung. 100 Jahre später ist die nach ihr benannte Hochschule stark unterfinanziert.

Alice Salomon (Foto aus der ersten Hälfte der 1920er) und die nach ihr benannte Hochschule mit heutigem Sitz in Berlin-Hellersdorf. Fotos: Auto1234, CC BY 4.0 DE/Trans-Ocean News Service, CC BY 3.0/Wikipedia. 

SIE GEHÖRTE zu den großen Sozialreformerinnen des frühen 20. Jahrhunderts, ihre 1906 vollendete Doktorarbeit setzte sich mit den "Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit" auseinander. 1908 gründete sie in Berlin die "Soziale Frauenschule", 1925 die "Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit". 

 

Alice Salomon, die am 19. April 150 geworden wäre, hatte verstanden: Damit Soziale Arbeit anerkannt und angemessen entlohnt wird, damit ihre Belange politisches Gehör finden, muss sie sich professionalisieren und akademisieren. Nur dann wird sich auch der gesellschaftliche Status derjenigen wandeln, die sie – übrigens bis heute – zu einem ganz überwiegenden Anteil leisten: der Frauen. 

 

Das mit der Professionalisierung und der Akademisierung der Sozialen Arbeit hatte nachhaltige Wirkung, auch wenn Salomon die Akademie 1933 auflöste, um dem Zugriff der Nazis zuvorzukommen. Auch wenn Salomon 1937 Deutschland verlassen musste und trotz ihrer großen Verdienste in Deutschland über Jahrzehnte zur "vergessenen Bürgerin" wurde, wie Magnus Klaue neulich im Tagesspiegel schrieb.

 

Es wurde höchst besorgt
geredet von sozialen Verwerfungen

 

Das mit der gesellschaftlichen Anerkennung Sozialer Arbeit ist, wenn wir ehrlich sind, bis heute ein unerreichtes Ideal geblieben. Wir wussten es vor Corona, aber nie wurde die Diskrepanz so offensichtlich wie in den zwei Jahren Pandemie: Es wurde viel geklatscht für Pflegekräfte, es wurde viel und höchst besorgt geredet von sozialen Verwerfungen – um dann die Millionen, die auf unterschiedlichste Weise für andere sorgen, weiter unter teilweise unzumutbaren Bedingungen arbeiten zu lassen, oft noch dazu schlecht bezahlt.

 

Und während jetzt Unternehmen und autofahrende Bürger mit Energie-Hilfspaketen gestützt werden, warten Jugendliche ein Jahr lang auf Therapieplätze und werden Ausgaben für Kitas gekürzt, obwohl hunderttausende Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Die hunderttausenden Pflegekräfte, die laut Städtetag in den nächsten Jahren zusätzlich gebraucht werden, werden sich unter den gegenwärtigen Bedingungen sicher auch nicht finden.

 

Trotzdem bleibt viel von Alice Salomon und dem, woran sie geglaubt hat. Allem voran die "Soziale Frauenschule", die seit 1992 endgültig den Namen ihrer Gründerin trägt: "Alice-Salomon-Hochschule". Sie hatte 2020 zwar nur gut 4248 Studierende und 75 ProfessorInnen, mit allerdings stark steigender Tendenz, und war damit bereits die größte deutsche Hochschule für Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung – kurz "SAGE". Eine Abkürzung, die die Hochschulen für Soziale Arbeit selbstbewusst als Pendant zum In-Akronym "MINT" ins Rennen um die öffentliche Aufmerksamkeit geschickt haben. 

 

76 Prozent

des Mittelwerts

 

Die Realität ist freilich, dass in einem Vergleich von sechs Bundesländern keine SAGE-Hochschule so wenig Geld pro Bachelor-Studienplatz bekommt wie die Alice-Salomon-Hochschule. 2019 waren es nur 76 Prozent des Mittelwerts aller Hochschulen aus Berlin, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein, die Sozialwesen anbieten. Nochmal sechs Prozentpunkte weniger als 2017, so hat es der sogenannte "Ausstattungs-, Kosten- und Leistungsvergleich" des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) ergeben. Was umso frappierender ist, weil die Alice-Salomon-Hochschule pro ProfessorIn 2017 auf 185 Prozent der durchschnittlich eingeworbenen Drittmittel kam, 2019 auf immerhin noch 127 Prozent. Ein Ausweis ihrer wissenschaftlichen Stärke. 

 

Wenn jetzt mit den Geflüchteten aus der Ukraine, darunter hunderttausende Kinder und Jugendliche, nach der Coronakrise gleich die nächste Bewährungsprobe bevorsteht, wäre das nicht die Gelegenheit, ein Signal zu setzen und den Druck auf die Politik zu erhöhen? Dass uns die professionelle Soziale Arbeit, die unseren Zusammenhalt als Gesellschaft organisiert, mehr wert ist als schöne Sprüche? Ein schöner Traum vielleicht. Aber einer, der Alice Salomon gefallen hätte.

 

Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel. 

 

Nachtrag am 27. April: Die Aussage, dass die ASH die größte SAGE-Hochschule in Deutschland sei, ist nur halb richtig. Sie ist die größte staatliche. Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen hat rund 5000 Studierende und 100 ProfessorInnen im SAGE-Bereich. Ich bitte um Entschuldigung!



Die ASH und Kinder: Eine sozial unsensible Entscheidung einer Hochschule für Soziale Arbeit

"Kinder müssen draußen bleiben", titelte vor zwei Wochen die taz. Ausgerechnet die Hochschule, deren Gründerin sich so sehr für die Gleichstellung von Frauen und die Bedeutung sozialer Arbeit einsetzte, entschied zum Semesterstart, dass Studierende ihre Kinder nicht mit in die ASH-Gebäude bringen dürfen. 

 

Bis zu Corona gab es sogar eine hauseigene Kinderbetreuung – und jetzt so ein Schwenk? Die Erregung war unter studierenden Studierenden groß – zumal laut taz andere Berliner Hochschulen, die ihr soziales Profil weit weniger betonen, Kinder ohne Weiteres auf ihren Campi akzeptierten: die Humboldt-Universität zum Beispiel und die Freie Universität. Auch hatte ASH-Rektorin Bettina Völter in den vergangenen Monaten immer wieder und prominent vor den "psychosozialen Folgen" der Pandemie für Studierende gewarnt.    

 

Seit dem taz-Artikel haben offenbar klärende Gespräche stattgefunden. Jetzt teilt die Hochschulleitung mit, "nach derzeitiger Lage" würden Studierende mit ihren Kindern "ab Mai" die Hochschule wieder betreten können. Und auf Nachfrage konkretisiert der ASH-Prorektor Pandemie-Beauftragte, Olaf Neumann, den 2. Mai als den Tag für das Auslaufen der umstrittenen Regelung. Bisher hätten sich die Infektionszahlen "sehr in Grenzen" gehalten.

 

Warum aber hat man sich überhaupt so entschieden? Die Hochschulleitung sagt: Weil die Weltgesundheitsorganisation WHO noch am 12. April vor zu schnellen Lockerungen gewarnt habe. "Entsprechend geht die ASH den Weg gemonitorter allmählicher Öffnung" – und bezieht sich dabei auf eine im vergangenen Jahr eigens erstellte Machbarkeitsstudie, "um die Hochschule bei einem in den nächsten Jahren nicht verschwindenden Coronavirus wieder zu einem sicheren und gesunden Ort für alle Mitglieder zu machen". Man sehe sich "sowohl der Ermöglichung des Präsenzstudiums als auch dem Schutz vulnerabler Lehrender und Studierender verpflichtet".

 

Was im Klartext bedeutet: Das Pandemie-Management der ASH hält die Präsenz von Kindern für ein erhöhtes Corona-Risiko. Obwohl, wie Neumann einräumt, weder die Warnung der WHO am 12. April speziell auf die Rolle von 

Kindern abgehoben hatte noch die ASH-Machbarkeitsstudie deren Rolle thematisierte. Bei der von der WHO empfohlenen schrittweisen Öffnung, sagt der Pandemiebeauftragte, "konzentrieren wir uns zunächst auf die Studierenden". Man sammle jetzt Erfahrungen, eigentlich fürs Wintersemester, "da wir hier von einer erneuten Welle ausgehen".  

 

Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft empfehle Maskenpflicht in allen Lehrveranstaltungen. Doch werde in der ASH-Machbarkeitsstudie darauf hingewiesen, sagte Neumann weiter, "dass unser Fächerkanon weitestgehend Mimik und Gestik (und damit Maskenfreiheit) für unsere Lehrformate und dort passierender Haltungsentwicklung braucht". Deshalb und auch angesichts der nachweislich hohen Impfquote habe die ASH bereits im Wintersemester Erfahrungen mit "2G"-Seminaren Erfahrungen gesammelt.“

 

Gegenüber der taz hatte ASH-Sprecherin Christiane Schwausch ausgeführt, eine Covid-Infektion verlaufe bei Kindern häufiger symptomlos und sei schwerer zu erkennen. Gleichzeitig seien die Ansteckungsrisiken höher. Angesichts der engen Räumlichkeiten der ASH (was diese übrigens auch von HU und FU unterscheide) wolle man "eine möglichst sichere Umgebung für alle schaffen, inklusive die teilweise über 50- oder 60-jährigen Lehrenden sowie natürlich für Studierende, die sich aus gesundheitlichen Gründen schützen müssen".

 

Das Risiko, ohne Maske in engen Seminarräumen Unterrichtsgespräche zu führen, ging man also an der ASH ein, auch für Ältere – mit Hinweis auf die Impfung. Aber dass Kinder dabei hocken, hielt das Pandemie-Management der Hochschule bislang für zu riskant. Was blieb, war eine Abwägung zugunsten der Bequemlichkeit der Erwachsenen, die keine Maske tragen wollen, und zulasten der Kinder und ihrer studierenden Eltern. Die noch dazu laut taz diesen gar nicht vorab kommuniziert wurde.

 

Eine erstaunlich sozial unsensible Entscheidung einer Hochschule für Soziale Arbeit. Die jetzt korrigiert wird und hoffentlich auch kein Revival erlebt, wenn die befürchtete Herbstwelle tatsächlich kommen sollte. Ein bitterer Nachgeschmack für die Betroffenen wird bleiben.  



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