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"Massiv gegensteuern"

Der Bildungsforscher Olaf Köller über Lernrückstände nach der Pandemie, Versäumnisse der Kultusminister, das Corona-Nachholprogramm und den gemeinsamen Kampf um die nächste Generation von Bildungsverlierern.

Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel. Foto (bearbeitet): IPN/Davids/Sven Darmer.

Herr Köller, zwischen zehn und 13 Lernwochen Rückstand haben Deutschlands Schüler in den zwei Corona-Jahren angesammelt, berichten Sie im heute erschienenen "MINT Nachwuchsbarometer". Der Anteil der leistungsstarken Schüler ist um zehn Prozent geschrumpft, zugleich ist der Anteil der Leistungsschwachen um zehn Prozent gestiegen. Ist das erschreckend viel oder erstaunlich wenig?

 

Zunächst einmal muss ich einschränken: Die zehn bis 13 Wochen und die Angaben zu den Leistungsstärken beziehen sich auf Grundschüler, auf die 6- bis 11-Jährigen, und auf ihren Wissensstand in Mathematik und Lesen. In den Naturwissenschaften gibt es bislang kaum Erkenntnisse, und in höheren Klassen sind die Rückstände geringer. Vom Umfang her entsprechen die zehn bis 13 Wochen dem, was wir in anderen Ländern als Folge der Corona-Pandemie, aber auch nach anderen Krisen beobachten konnten. Also nach Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen, etwa als in Teilen der USA nach dem Hurrikan Katrina wochenlang der Unterricht ausfiel. 

 

Das klingt fast so, als wollten Sie die Rückstände nicht überdramatisieren.

 

Zumindest ist es nicht so, wie in Teilen der Presse kolportiert wurde, dass in den Phasen des Lockdowns überhaupt nichts gelernt wurde. Die Schülerinnen und Schüler sind vorangekommen in ihrem Lernstoff. Nur eben deutlich langsamer als normalerweise. 

 

Woher wissen Sie das eigentlich genau?

 

Wir haben für das MINT Nachwuchsbarometer verschiedene Lernstandsmessungen, Studien und Umfragen ausgewertet, national vor allem, aber teilweise auch international. Sie ergeben ein rundes Bild. Auch in den Datenlücken, die wir feststellen mussten.


Das "MINT Nachwuchsbarometer"

Seit 2014 sammelt und kommentiert das "MINT Nachwuchsbarometer" jedes Jahr wichtige Zahlen, Daten und Fakten zum bundesweiten Stand der Bildung in den MINT-Fächern und zeigt langfristige Trends auf. Studienleiter ist Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des IPN Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und 

Mathematik in Kiel, außerdem  Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz.

Dieses Jahr hat das "MINT Nachwuchsbarometer" als Schwerpunkt die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Finanziert wurde die Analyse dieses Jahr von acatech und der Joachim-Herz-Stiftung.



Konkret beziehen Sie sich für Deutschland auf Hamburger Daten der sogenannten KERMIT-Kompetenztests in Mathematik und fürs Lesen auf das Schulpanel des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Viel ist das nicht gerade. 

 

Wir haben aber internationale Studien, etwa aus Belgien oder Holland, die zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen, und aus Deutschland haben wir unter anderem auch die Befragung von 720 Lehrkräften in der Studie "Kontinuität und Wandel der Schule in Krisenzeiten (KWiK)". Derzufolge wiesen rund 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler in den weiterführenden Schulen Leistungsrückstände auf. In den MINT-Fächern waren es etwa 39 Prozent. Und bald bekommen wir noch mehr Daten. Vor allem, wenn das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) die Ergebnisse seines Bildungstrends 2021 präsentiert. 

 

"Das Argument gegenüber uns Bildungsforschern lautete immer: Die Schulen haben so viel um die Ohren, da können wir sie nicht auch noch mit dem Aufwand repräsentativer Testungen belasten." 

 

Der Bildungsjournalist Christian Füller berichtete im Table Bildung von einer "Aktion Giftschrank" der Kultusminister: Viele Länder hätten während der Corona-Pandemie sehr wohl Kompetenztests durchgeführt, würden die Ergebnisse aber vor den Bürgern verstecken. 

 

Es gab tatsächlich ein paar Länder, die Kompetenztests durchgeführt haben, es ist aber nicht so, dass alle Ergebnisse verschwiegen wurden. Deshalb können wir ja zum Beispiel aus den Hamburger Daten zitieren oder auch aus Baden-Württemberg. Das Problem ist, dass die Vergleichsarbeiten in vielen Ländern, soweit sie nicht ganz ausgefallen sind, in der Corona-Zeit freiwillig waren oder zu anderen Zeitpunkten im Schuljahr stattfanden als gewöhnlich, so dass sie teilweise mit früheren Erhebungen nicht vergleichbar sind. Das ist das viel größere Problem: Die Länder hätten in der Corona-Pandemie gemeinsam eine Studie auflegen sollen, die von der Methodik her exakt kongruent hätte sein müssen mit Studien aus den Vorjahren. Zum Beispiel hätte man VERA 2019 im Jahr 2021 einfach wiederholen können. Doch dies ist versäumt worden.

 

Versäumt oder bewusst nicht gemacht, weil man es gar nicht so genau wissen wollte?

 

Ich glaube, die Ministerien wollten Rücksicht auf die durch die Pandemie gestressten Schulen nehmen. Wenn wir Testungen angeregt haben, lautete das Argument gegenüber uns Bildungsforschern immer: Die Schulen haben schon so viel um die Ohren, da können wir sie nicht auch noch mit dem Aufwand repräsentativer Testungen belasten. 

 

Gilt das mit der mangelnden Vergleichbarkeit auch für die wenigen Daten, die wir jetzt schon haben und die Sie zitieren?

 

Ja und nein. Sowohl die KERMIT- als auch die IFS-Daten wurden sehr sauber erhoben. Das Problem bei der IFS-Untersuchung ist freilich, dass sie die Lesekompetenzen von Grundschulkindern 2021 mit denen von 2016 verglichen hat. In den fünf Jahren ist ja mehr passiert als Corona, so dass nicht zu klären ist, wie viel von den Leistungsrückgängen überhaupt auf die die Pandemie und die Lockdowns zurückzuführen ist. Die Leistungen deutscher Schüler in schulischen Kompetenztests, etwa bei PISA, gingen ja schon lange vor 2020 tendenziell nach unten. Das wird es übrigens auch schwer machen, die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 zu interpretieren, sobald sie veröffentlicht wurden, weil da das Vergleichsjahr auch schon 2016 ist. 

 

Liegt mit den bereits angehäuften Lernrückständen das Schlimmste hinter uns, oder kommt da noch mehr nach?

 

Das hängt davon ab, wie gut es den Schulen gelingt, die entstandenen Lücken zu schließen. Dafür haben Bund und Länder ja extra das Corona-Aufholprogramm aufgelegt. Geht dessen Umsetzung schief, ziehen vorhandene Lernrückstände immer neue nach sich. In Pakistan zum Beispiel hatten Drittklässler nach einer Erdbebenkatastrophe zunächst ein Drittel Schuljahr Rückstand, bis zur zehnten Klasse kumulierte sich das dann aber auf ein ganzes Schuljahr. Bei den älteren Schülern mache ich mir bei uns in Deutschland keine großen Sorgen, aber bei den Grundschülern müssen wir massiv gegensteuern, sonst werden wir als Gesellschaft mittelfristig eine noch größere Zahl an Bildungsverlierern produzieren als ohnehin schon.  

 

"Welchen Unterschied macht es jetzt noch, ob 720.000 Viertklässler nun 12 oder 15 Kompetenzpunkte schlechter rechnen oder lesen können? Wir haben genug Daten, um zu wissen, dass wir ein Problem haben."

 

Was bedeutet "gegensteuern"?

 

Vor allem bedeutet es, dass wir uns nicht mehr mit der Frage aufhalten sollten, ob wir genug wissen über die im Durchschnitt entstandenen Lernrückstände oder nicht. Welchen Unterschied macht es jetzt noch, ob 720.000 Viertklässler nun 12 oder 15 Kompetenzpunkte schlechter rechnen oder lesen können? Wir haben genug Daten, um zu wissen, dass wir ein Problem haben. Die jetzt entscheidende Frage lautet: Wie finden die Schulen schnell und zielsicher diejenigen Schülerinnen und Schüler, die individuell den größten Unterstützungsbedarf haben? Wenn man den Kultusministern einen Vorwurf machen kann, dann diesen: Sie haben oft darauf verzichtet, an Schulen parallel zum Aufholprogramm die dafür nötigen Diagnoseinstrumente zur Verfügung zu stellen. Mit dem Ergebnis, dass jetzt wieder alles von der Beobachtung und der Intuition der einzelnen Lehrkraft abhängt.

 

Fürchten Sie, dass die Aufhol-Milliarde deshalb verpufft?

 

Bund und Länder haben das Aufhol-Geld ohne strenge Vorgaben ausgereicht. Wenn Sie als Schule einen Schwimmkurs anbieten, ist das mit den Mitteln genauso gut möglich wie eine spezielle Förderung in Mathematik oder Deutsch. Damit will ich den Schwimmkurs nicht per se abwerten. Aber wie wollen Sie denn ohne klare Vorgaben von den Schulen erwarten, dass sie das Geld bestmöglich zur Beseitigung von Lernrückständen einsetzen – wenn den Lehrkräften vor Ort noch dazu die entsprechenden diagnostischen Instrumente fehlen? Sie können doch nicht von der einzelnen Lehrerin erwarten, dass sie den dazu nötigen wissenschaftlichen Kenntnisstand aus dem Ärmel schüttelt. 

 

Sie sind auch Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz, die den Ländern deshalb empfohlen hatte, die diagnostische Instrumente einzusetzen. 

 

Ich sage mal so: Einige sind der Empfehlung gefolgt, andere nicht. Mehr wissen wir nicht, denn dazu fehlen bislang systematische Erhebungen. In vielen Ländern hält sich das Interesse in Grenzen zu erfahren oder gar zu evaluieren, was mit den Geldern aus dem Aufholprogramm in den Schulen passiert. Ein positives Beispiel ist Schleswig-Holstein, dort haben wir eine repräsentative Stichprobe von Schulen befragt, welche Maßnahmen vorort mit Mitteln des Aufholprogramms umgesetzt wurden. 

 

"Wenn die meisten Lehrer noch nie von einem
sinnvollen Konzept wie dem Inverted Classroom gehört haben, ist das die Folge von jahrzehntelangen Versäumnissen in der Lehrerbildung." 

 

Im MINT Nachwuchsbarometer berichten Sie, dass viele Lehrkräfte im Lockdown gar nicht die technologischen methodischen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, hochwertigen Distanzunterricht anzubieten. Warum nicht?

 

Viele haben ihren Präsenzunterricht eins zu eins ins Digitale übertragen, also Vortrag und Unterrichtsgespräch per Online-Kacheln. Besonders in den höheren Klassenstufen war das offenbar der Fall. In der Grundschule war die didaktische Vielfalt zum Glück größer, wahrscheinlich weil sie schon vor der Pandemie didaktisch flexibler waren und stärker auch Projektlernen oder das Arbeiten in Kleingruppen etabliert hatten. Aber gerade an den weiterführenden Schulen fehlt es an der Stelle die Professionalisierung. Die meisten Lehrkräfte haben die Verknüpfung digitalen und analogen Unterrichts und unterschiedlicher Lernformate einfach nicht gelernt, in keiner Phase ihrer Ausbildung. Ich habe in den vergangenen Monaten selbst einige Fortbildungen auch mit Schulleitern gemacht und war überrascht. Viele waren der Meinung, mit der Etablierung von Videokonferenzen und eines Lernmanagement-Systems sei an ihrer Schule die Digitalisierung des Lernens abgeschlossen. 

 

Wer hat da versagt?

 

Darüber können wir jetzt lange sinnieren, es sind ja in den vergangenen Jahren genug Strategiepapiere zu Schule und Digitalisierung entstanden, auch in der KMK, zuletzt mit dem Dokument "Lehren und Lernen in der digitalen Welt." Fest steht: Die Lehrerbildung ist zu spät ins Wandeln gekommen, die Unis müssen sich hier weiterentwickeln die Bildungspolitik muss ihren Erwartungsdruck erhöhen und die Landesinstitute für Lehrkräftefortbildung müssen gute Hilfestellungen gegeben. Im MINT Nachwuchsbarometer stellen wir zum Beispiel das sehr sinnvolle Konzept des "Inverted Classroom" vor. Wenn die meisten Lehrer davon noch nie etwas gehört haben, ist das die Folge von jahrzehntelangen Versäumnissen in der Lehrerbildung. Bildungspolitik, Bildungswissenschaft und Bildungspraxis haben versucht, das in den vergangenen zwei Jahren zu heilen, aber da springen sie natürlich zu kurz. Hier ist langer Atem gefragt.

  

An den Hochschulen sei das besser gelaufen, heißt es immer. Auch im MINT Nachwuchsbarometer steht das. 

 

Darauf deuten Umfragen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) hin. Durchweg zwei Drittel der Studierenden und mehr fühlten sich in der Pandemie didaktisch gut durch ihre Hochschule begleitet. Sie betonen, dass die digitalen Lehrangebote überwiegend funktioniert haben und dass sie ausreichend Gelegenheit hatten, ihre Dozenten digital zu erreichen. Das Einzige, was sie wirklich beklagen, war der Mangel an persönlichen Kontakten, vor allem mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen. Was wenig überraschend ist und sehr ernst genommen werden muss in seinen psychosozialen Folgen. Aber das Bemerkenswerte ist, dass sich kaum ein MINT-Studierender für die Zeit nach der Pandemie die reine Präsenzlehre zurückwünscht. Noch weniger wollen ausschließlich online lernen. Die meisten erwarten für die Zukunft eine Kombination: Präsenz, angereichert mit digitalen Angeboten. Übrigens sehen die meisten Hochschullehrer das ganz genauso.

 

Wie erklärt sich dieser enorme Unterschied zu den Schulen?

 

Die Hochschulen waren von Anfang an digital viel besser ausgestattet, so einfach ist das. Als der erste Lockdown kam und die Schulen nicht wussten, wie sie reagieren sollten, hatten die Hochschulen einen Plan: Sie wussten, sie müssen sich dringend Serverkapazitäten dazukaufen, und dann läuft das schon. 

 

Ist ja schön, wenn die Studierenden zufrieden waren. Aber wie sieht es aus mit ihrer tatsächlichen Kompetenzentwicklung in der Pandemie?

 

Da wissen wir wiederum sehr wenig, was der Tradition geschuldet ist, dass die Kompetenzen von Studierenden in Deutschland noch nie repräsentativ erhoben wurden. Alle Versuche, umfassend Auskunft darüber zu bekommen, welche Lernzuwächse tatsächlich an den Hochschulen erzielt werden, sind gescheitert. Die hochschulstatistischen Daten zeigen allerdings, dass sich die Studienzeiten leicht verlängert haben, was logisch ist, weil durchgefallene Klausuren beliebig wiederholt werden konnten. Dass sich die Durchschnittsnoten verschlechtert hätten, ist mir dagegen nicht bekannt.  

 

"Immerhin sieht es so aus, als hätten die MINT-Abbruchquoten ihren Höhepunkt erreicht, was wohl kaum an der Pandemie gelegen hat, sondern bei 50 Prozent wird es irgendwann einfach wahrscheinlich, dass es nicht noch weiter aufwärts geht."

 

Das klingt dann doch etwas zu schön, um wahr zu sein. Sie selbst berichten im MINT Nachwuchsbarometer, dass die Abbrecher- und Fachwechslerquoten in einigen Fächern bei gut 50 Prozent lägen. 

 

Ja, aber das tun sie schon seit vielen Jahren. Und zuletzt schienen sie eher zurückzugehen, nicht substanziell, aber immerhin sieht es so aus, als hätten die Abbruchquoten ihren Höhepunkt erreicht, was wohl kaum an der Pandemie gelegen hat, sondern bei 50 Prozent wird es irgendwann einfach wahrscheinlich, dass es nicht noch weiter aufwärts geht. Ebenfalls seit vielen Jahren wissen wir, dass in den MINT-Fächern in der zweiten Hälfte des Bachelorstudiums abgebrochen wird, weil viele Studierende nicht die geforderten Mathematikkenntnisse mitbringen. Das hat sich in der Pandemie aber alles nicht verschlimmert.  

 

Wenn jetzt Studierende wie Lehrende neue Lehr- und Lernformate wünschen, sehen Sie eine Chance, nach all den Jahren doch etwas Substanzielles an dieser Schieflage im MINT-Studium zu ändern?

 

Ich würde es mir wünschen, aber ich kann die Frage nicht wirklich beantworten. Dafür müssten vor allem die hochschuldidaktischen Zentren einen Bedeutungszuwachs erfahren, sie könnten die Lehrenden mit den nötigen didaktischen Fertigkeiten ausstatten. Die Realität ist allerdings derzeit so, dass die Lehre nicht unbedingt zu den Herzensangelegenheiten der meisten Unipräsidien zählt. Vielleicht ändert sich das ja jetzt.

 

Unter MINT-Auszubildenden ist die Abbrecherquote ebenfalls leicht zurückgegangen. Warum?

 

Jede Antwort ist da Kaffeesatzleserei. Ich kann mir aber schon vorstellen, dass die Krisensituation eher dazu geführt hat, dass die jungen Leute bei dem geblieben sind, was sie gerade gemacht haben. Vielleicht auch, weil sie Angst hatten, nichts Anderes zu finden. Denn, auch das zeigt das Nachwuchsbarometer deutlich, es ist schwieriger geworden, einen MINT-Ausbildungsplatz zu finden. 

 

Hunderttausende junger Menschen flüchten gerade aus der Ukraine nach Deutschland. Was bedeutet das für die MINT-Fächer?

 

Ich warne vor zu großem Optimismus, dass die Geflüchteten unsere Ausbildungsprobleme beheben und den Fachkräftemangel lösen werden. Wir kennen die Ergebnisse ukrainischer Neuntklässler bei den PISA-Tests, die diese kurz vor ihren großen nationalen Abschlussprüfungen absolvieren. Sie liegen in allen Bereichen, Lesen, Mathe, Naturwissenschaften deutlich unter dem internationalen Durchschnitt. Rund 30 Punkte, was in dem Stoff von einem ganzen Schuljahr entspricht. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass eher leistungsstarke Schüler aus der Ukraine nach Deutschland flüchten, ist nicht zu erwarten, dass sie sofort all die Qualifikationen mitbringen, die sie für den MINT-Ausbildungsmarkt brauchen. 

 

Was folgt daraus?

 

Zuerst müssen alle jetzt geflüchteten Schülerinnen und Schüler ausreichend die Verkehrssprache Deutsch lernen, dann steigen ihre Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung signifikant. Insofern sollte die schulische Integration einen Schwerpunkt auf die Sprachförderung legen, andernfalls scheitern die Auszubildenden spätestens in der Berufsschule. Umgekehrt dürfen wir ukrainische Schüler, die noch nicht gut Deutsch sprechen, jetzt nicht vorschnell in verkürzte Ausbildungsgänge stecken, die zu wenig qualifizierten Berufen und letztendlich geringeren Lebenschancen führen. 

 

"In jeder Bildungsbiografie gibt es

Übergänge und Etappen, die Übergänge

sind ein Kernproblem."

 

Herr Köller, wenn Sie nur eine Hauptbotschaft des MINT Nachwuchsbarometers formulieren könnten, wie würde sie lauten?

 

Alle Teile unseres Bildungssystems müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. In jeder Bildungsbiografie gibt es Übergänge und Etappen, die Übergänge sind ein Kernproblem. Die Sekundarschule beschwert sich, dass den Kindern auf der Grundschule das Lesen, Schreiben oder Rechnen nicht richtig beigebracht wurde. Die Berufsschule wiederum kritisiert die Sekundarschule und die Universität das Gymnasium. Mit anderen Worten: Die abnehmende Instanz wirft stets der abgebenden Instanz vor, dass sie nicht genug getan hätte und dass die entstandenen Defizite jetzt zu groß seien, um sie noch zu beseitigen. Das kann so nicht bleiben. Wenn 25 Prozent am Ende der Grundschule nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen können, dann muss auch die Sekundarstufe sich dieses Problems annehmen. Und wenn 50 Prozent der Studierenden ein MINT-Studium abbrechen, weil sie nicht genügend Mathematikkenntnisse mitbringen, dann kann das keine Hochschule akzeptieren. Dann ist es genauso ihre Aufgabe, gegen diese Misere anzugehen, anstatt mit Hinweis auf die Misere zu sagen: Da hat die Schule versagt und wir können nicht reparieren. Man kann immer noch etwas machen.



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Kommentare: 4
  • #1

    Falk Radisch (Donnerstag, 28 April 2022 09:36)

    Insgesamt sind viele bedenkenswerte Aspekte angesprochen und auc gut analysiert. Irritierend sehe ich allerdings den Verweis auf Befunde auf Pakistan und New Orleans. Es ist wohl kaum mit der Corona-Erschütterung vergleichbar, was dort nach einem Erdbeben an Folgen für Bildung und Schule nach dem Krisenereignis eines Erdbenes oder einer Flut entstanden ist. Ganz abgesehen von den üblichen Problemen der Übertragbarkeit von internationalen Befunden in völlig anders aufgestellten Bildungssystemen. Das ist hier im Interview alles andere als wissenschaftlich dargestellt. Der Schluss auf Basis der Befunde ist schlicht falsch.

  • #2

    JW (Freitag, 29 April 2022 15:05)

    Auch von meiner Seite vielen Dank für die sehr gute Analyse. Vielleicht zwei Punkte aus der Erfahrung:

    Den Hochschulen ist die Digitalisierung nicht nur deshalb besser gelungen, weil sie mit Beginn der Pandemie zusätzliche Serverkapazitäten und Softwarelizenzen gekauft haben. Die Hochschulen waren schon vor der Pandemie etwas weiter mit ihren Digitalisierungsbemühungen. Zudem muss mitbedacht werden, dass Studierende eigenverantwortlich(er) lernen können (sollten) als Schüler. Diese für distantes Lernen erforderliche Eigenverantwortlichkeit müssen Schüler erst lernen.

    Bezüglich der Curriculaentwicklung für die MINT-Studiengänge ist es nicht ausreichend, die hochschuldidaktischen Zentren zu stärken. Es bedarf auch mehr Einfluss von außen, beispielsweise durch den Akkreditierungsrat. Viele Studiengänge sind völlig unzureichend strukturiert. Überspitzt gesagt kommen viele Studierende mit einem nach StVZO zugelassenen Kleinwagen an die Hochschulen und finden dann nur Straßen vor, die nur mit mit einem Geländewagen befahrbar sind.

  • #3

    David J. Green (Montag, 02 Mai 2022 14:06)

    Ein recht interessanter Beitrag, Danke.

    Abbruchquote: Vermeidung von Abbrüchen in der 2. Bachelor-Hälfte muss Vorrang haben! Häufig sind’s unzureichende Mathe-Kenntnisse. Beste Lösung: Bei Oberstufe Mathe aufwerten, damit Abi die Studierbefähigung und nicht nur -berechtigung liefert.

    Letzter Absatz: Weltweit bieten viele Unis ein Foundation Year an. Hätten wir das auch in DE, so wären fehlende Mathe-Kenntnisse gut zu reparieren. Die Länder müssten aber 1) Gelder bereitstellen, und 2) Rahmen schaffen, damit 1J Foundation + 3J BSc + 2J MSc akkreditierungsfähig.

    Herzensangelegenheiten der Unipräsidien: Unipräsidien haben Einkünfte und Anerkennung zu maximieren. In DE ist weder das eine noch das andere nur auch annäherungsweise mit guter Lehre zu erwerben. Noch Fragen?

  • #4

    Dr.Wolfgang Kühnel (Sonntag, 02 Oktober 2022 15:23)

    Hochschuldidaktische Zentren sind nichts neues: An der TU Berlin gab es schon um 1970 ein solches Institut, geleitet von dem umtriebigen Prof. Wagemann, einem Ingenieur. Nach seiner Emeritierung wurde es aufgelöst.
    Man fragt sich natürlich: woher hat Herr Köller diese Weisheit hinsichtlich der hochschuldidaktischen Zentren? Welche Wirkung haben denn die nun empirisch-nachweislich gehabt? Will man das überhaupt untersuchen? Woher kommt der Glaube daran, dass die Lehrenden die Defizite der Studierenden durch Hochschuldidaktik wettmachen können? Dient das vielleicht der Rechtfertigung davon, dass in den Schulen auf keinen Fall mehr an Mathematik gefordert werden soll als jetzt üblich? Ist das ein "Schwarzer-Peter-Spiel" ?