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Teilzeit für Lehrkräfte muss die Ausnahme sein

Mangelfächer an Schulen, Ukraine-Flüchtlinge: Der Lehrkräftemangel ist eklatant und doch arbeiten viele in Teilzeit. Die Politik sollte deren Gewährung stärker von zwingenden dienstlichen Gründen abhängig machen.

WENN MAN SO EINEN Vorschlag macht, kann man sich der Welle der Empörung gewiss ein. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte neulich in einer Podiumsdiskussion gesagt, vielleicht müsse die Teilzeit für Lehrkräfte eingeschränkt werden. Das Land prüfe jedenfalls gerade, ob die Mindestarbeitszeit für Beamte erhöht werden könne, erklärte Kretschmann, einst selbst beamteter Studienrat für Biologie, Chemie und Ethik. Und setzte noch einen drauf: "In dieser besonderen Situation" rate er allen dazu, auch Gewerkschaftsfunktionären, jetzt nicht ihr "übliches Latein" abzuspulen. 

 

Gewerkschaften und Lehrerverbände reagierten jedenfalls wie erwartet. "Total daneben", kommentierte die GEW. Deren Landesvorsitzende Monika Stein verwies darauf, dass sich in Kretschmanns elf Jahren als Regierungschef ein "enormer Lehrkräftemangel" aufgebaut habe. "Mehrarbeit für ausgelaugte Lehrkräfte nach zwei Jahren Pandemie?" So gewinne man keine Fachkräfte, so verliere man sie. 

  

Tatsächlich? Ein Rechenexperiment: 2020 waren rund 702.000 Lehrerinnen und Lehrer hauptberuflich an Deutschlands allgemeinbildenden Schulen beschäftigt, davon 40 Prozent (279.000) in Teilzeit. Das ist enorm. Die eine Stunde Mehrarbeit für alle Pädagogen in Teilzeit, die Kretschmann konkret nannte, würde über 7.000 Lehrerstellen zusätzlich bedeuten.

 

Unterversorgung wird durch

geflüchtete Schüler dramatischer

 

Die Folge: etwas weniger Verwaltung des Mangels, eine etwas fairere Verteilung der enormen Belastung, ausgelöst durch die eklatante Unterversorgung der Schulen mit Pädagogen. Eine Unterversorgung, die gerade durch den Zustrom von aus der Ukraine geflüchteten Schülern nochmal dramatischer wird. Das ist die "besondere Situation", auf die Kretschmann anspielte. 

 

Aber natürlich ist der Vorschlag des Ministerpräsidenten auch allzu einfach gedacht. Der Mangel ist nicht gleich über Fächer und Schularten hinweg. An den Gymnasien dürfte es nach Berechnungen des Bildungsforschers Klaus Klemm tendenziell sogar ein Lehrkräfte-Überangebot geben, an den Grundschulen und an allen anderen weiterführenden Schularten speziell in den MINT-Fächern ist der Mangel hingegen besonders krass. Außerdem wären selbst 7.000 zusätzliche Lehrerstellen nur ein Elftel dessen, was Klemm bis 2030 an nicht gedecktem Personalbedarf ausgemacht hat. 

 

Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) hatte Ähnliches seit 2020 für Lehrer an Grund-, Mittel- und Sonderschulen angeordnet – und ebenfalls heftige Gewerkschaftsproteste geernet.

 

Ausnahmen für Lehrkräfte, die

kleine Kinder oder Angehörige versorgen

 

Trotzdem weist Kretschmanns Idee in die richtige Richtung. Wenn mit Berlin das letzte Bundesland zur Lehrerverbeamtung zurückkehrt, kann und sollte ganz Deutschland auch Gebrauch machen von der besonderen arbeitsrechtlichen Situation beamteter Lehrkräfte. Ihnen kann am ehesten, solange sie keine minderjährigen Kinder haben oder Angehörige pflegen müssen, die Genehmigung jeglicher Teilzeit mit Hinweis auf zwingende dienstliche Gründe verweigert werden.

 

Und was, wenn nicht der Kampf gegen den massenhaften Ausfall von Fachunterricht, sind denn bitte zwingende dienstliche Gründe? Kinder und Jugendliche, deren Bildungskarrieren und Zukunft auf der Strecke bleiben, weil zu wenig Lehrer da sind, um sich zu kümmern, wenn sie in Lernschwierigkeiten geraten – in einer Zeit, in der je nach Fach und Bundesland selbst die Zahl der Seiteneinsteiger nicht mehr ausreicht, um alle Stellen zu besetzen?

  

Die Kultusminister sollten mutig sein und transparent einen Kanon an Mangelfächern definieren, in denen gilt: Teilzeit, die nicht familien-, pflege oder gesundheitsbedingt ist, wird grundsätzlich verweigert. Und alle, die Teilzeit genehmigt bekommen, müssen sich, siehe Kretschmann, auf eine höhere Mindeststundenzahl einstellen. Aber nur in den Fächern, wo und solange es die Notlage verlangt. Beides zusammen hätte einen großen – und gezielten! – Effekt auf die Unterrichtsversorgung. Und würde nicht zu weniger, sondern zu mehr Gerechtigkeit führen: nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Lehrer, die bislang in Vollzeit am meisten schultern mussten.

 

Mehr Gerechtigkeit – auch für

langjährige Vollzeitkräfte

 

Das Argument, der Mangel sei durch Fehlplanungen der Bildungspolitik hausgemacht, stimmt in Teilen ja. Nicht alles, siehe die aktuelle Flüchtlingswelle, war und ist voraussehbar. Vieles, vor allem die demografische Entwicklung, aber schon. Dies als Ausrede zu nutzen, um mit der Notsituation umzugehen, ist dennoch wohlfeil und unsolidarisch gegenüber den Schülerinnen und Schülern. 

 

Glaubwürdig wären Ministerpräsidenten wie Kretschmann und ihre Kultusminister allerdings nur, wenn sie parallel zu dieser mutigen Notmaßnahme endlich auch mutig die Zukunft des Lehrerberufs gestalten würden: durch ein flexibleres Studium. Durch dauerhaft mehr Einstellungen, auch wenn der Lehrermangel zwischendurch mal kleiner wird. Und durch die lange überfällige Versorgung der Schulen mit zusätzlichem Personal für Verwaltung und Technik. Mit Krisenrhetorik mehr von den Pädagogen abverlangen, das geht. Wenn die Politik für Bildung selbst mehr zu leisten bereit ist.  

 

Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel. 



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