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Die Bildung, die Ukrainer brauchen

Der ukrainische Botschafter Melnyk sagt, viele seiner Landsleute fühlten sich in Deutschland nicht willkommen. Warum wir seine Kritik nicht einfach beiseitewischen sollten – und was das für die Schulen bedeutet.

DIE ZAHL DER aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen an Deutschlands Schulen stagniert. Rund 135.000 waren es zuletzt laut Kultusministerkonferenz (KMK), innerhalb einer Woche gab es damit noch einen Zuwachs um knapp 1.500. In Thüringen, Niedersachsen und Bremen wurden mehr ukrainische Schüler abgemeldet, als neue hinzukamen.

 

Das ist erstaunlich. KMK-Präsidentin Karin Prien hatte Anfang April für die nahe Zukunft mit etwa 400.000 zusätzlichen Schülern gerechnet. Ausgegangen war die CDU-Bildungsministerin von Schleswig-Holstein dabei von einer Million Schutzsuchenden insgesamt, von denen sich mindestens 40 Prozent im schulpflichtigen Alter befinden würden.

 

Aktuell halten sich nach offiziellen Angaben rund 820.000 registrierte Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland auf. Entweder schicken viele Eltern ihre Kinder also erst mit extrem großer Verzögerung in die Schule (wogegen der Common Sense spricht), oder etwas stimmt nicht mit den Statistiken.

 

Die Ukraine befindet sich in einer kritischen Kriegsphase,
trotzdem wollen viele Familien in der Heimat bleiben

 

Bemerkenswert ist aber auch der Trend, der verlässlicher sein sollte als die absoluten Zahlen. Die Ukraine befindet sich in einer kritischen Kriegsphase, der russische Angriffsdruck ist enorm, und trotzdem entscheiden sich viele Familien, in der Heimat zu bleiben. Zumindest aber nicht nach Deutschland zu kommen oder sogar Deutschland den Rücken zu kehren.

 

Ist es so wie der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sagt, dass viele seiner Landsleute das Land wieder verlassen, weil sie sich hier nicht willkommen fühlen? Melnyk polarisiert mit praktisch jeder seiner Äußerungen. Doch wäre es ein Fehler, seinen Vorwurf mit dem Gegenargument beiseitezuwischen, viele Deutsche zeigten sich sehr hilfsbereit.

 

Gefühle von Dankbarkeit und Willkommensein stellen sich bei traumatisierten Menschen nicht per Knopfdruck ein. Ja, sie brauchen Medikamente, Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Unterstützung bei Alltagsdingen und persönliche Ansprache, und all das haben hunderttausende Familien in Deutschland ihnen gegeben. Vor allem aber brauchen Geflüchtete die Perspektive, nicht nur Betroffene oder gar Opfer zu sein, sondern wieder Gestalter des eigenen Lebens zu werden. Und zwar möglichst in ihrer Heimat. Genau da könnte der Schlüssel zum gegenseitigen Unverständnis von Gästen und Gastgebern liegen.

 

Für viele Ukrainer, das hat die Generalkonsulin Irina Tybinka schon im März mit deutlichen Worten gesagt, bedeutet das: Sie wollen nicht die nächste Generation von Einwanderern  werden, die es zu integrieren gilt. Sie wollen möglichst schnell zurück nach Hause. Und sie erwarten, dass ihre Gastgeber dabei helfen. Packt die geflüchteten Kinder und Jugendlichen bitte nicht in sogenannte Willkommensklassen, forderte Tybinka, sondern unterrichtet sie nach ukrainischen Lehrplänen.

 

Die scheinbar paradoxe Realität
ukrainischer Bildungsbedürfnisse

 

Was geschah: Die allermeisten Kinder landeten in Willkommensklassen, Deutschlernen wurde zur obersten Prämisse. Immerhin nicht die alleinige. Die Kultusminister begannen, zur Unterstützung geflüchtete ukrainische Lehrkräfte einzustellen, die Resonanz war groß. Ein wichtiges Signal war, dass Bund, KMK und deutsche Hochschulen die Durchführung von ukrainischen Hochschulzugangstests an sechs Standorten ermöglichten. Aber es ist eben nur ein Signal.

 

Die Realität ist scheinbar paradox: Damit ukrainische Familien sich willkommener in Deutschland fühlen und länger bleiben, müsste ihnen hier umso mehr von dem geboten werden, was sie an Bildung für ein Leben in der Ukraine brauchen. Möglichst ohne obrigkeitliche Besserwisserei, was gut für Geflüchtete ist und was nicht. Und weil die meisten Familien das hier nicht finden werden, werden sie alles Mögliche tun, riskieren und ertragen, um zum Start des neuen Schuljahres wieder in der Heimat zu sein. Schlagartig ändern würde sich das nur, wenn die Kriegslage in der Ukraine total kippte.

 

Ob andere nationale Schulsysteme besser auf die Geflüchteten eingehen, vermag ich nicht zu sagen. Die Kultusminister werden einwenden, sie könnten das ukrainische Bildungssystem nicht simulieren. Schon aus Verantwortung den Kindern gegenüber müsse das übliche schulische Integrationsprogramm ablaufen. Richtig ist aber auch: Je mehr sie drumherum an ukrainischen Sprach- und Kulturangeboten schaffen, desto hilfreicher. Vor allem aber sollten wir dafür keine Glücksgefühle bei den Betroffenen erwarten. Und uns nicht wundern, wenn sie zurückgehen.

 

Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel. 



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