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Kuriose Ausreden

Die Mainzer Soziologin Marina Hennig kämpft gerichtlich um ihren Doktortitel, eine Untersuchungskommission hatte ihn ihr bereits aberkannt. Auch in ihrer Habilitationsschrift finden sich umfangreiche Plagiate. Wie rechtfertigt sie ihr Handeln? Ein Gastbeitrag über ein wissenschaftliches Lehrstück von Jochen Zenthöfer.

Jochen Zenthöfer, 45, ist Wissenschaftspublizist. Sein Buch "Plagiate in der Wissenschaft" ist im Juni 2022 im transcript-Verlag erschienen.

Foto: Christina Mayer.

ES IST EIN TEILERFOLG für Marina Hennig: Das Verwaltungsgericht Berlin entschied Anfang Mai, die Aberkennung ihres Doktorgrads wegen eines Formfehlers aufzuheben. Die Zusammensetzung der Promotionskommission habe gegen das in der Prüfungsordnung vorgesehene Verfahren verstoßen, befanden die Richter.

 

Ende 2018 hatte die Mainzer Soziologin, nach einem Jahr Untersuchung, ihren Dr. verloren. Grund, so befand die Kommission damals, waren Art und Umfang der in ihrer Dissertation enthaltenen Plagiate. Dies komme einem schweren wissenschaftlichen Fehlverhalten gleich.

 

Gerichtsakten geben nun Aufschluss, wie Hennig, die keine Interviews zu den Vorwürfen gibt, ihr Handeln rechtfertigt. Sie habe Originaltexte "derart verinnerlicht", heißt es in den Dokumenten unter anderem, "dass es bei ihren Darlegungen zwangsläufig zu Übereinstimmungen" gekommen sei. 

 

Sie will "Evolution" abschreiben,

verändert es aber zu "Evaluation"

 

Kann man diese kuriose Ausrede glauben? Verlief es tatsächlich so: Text gelesen – im Gehirn memorisiert – später (versehentlich) als eigene Gedanken erkannt – wortgetreu niedergeschrieben; und all das immer wieder? 

 

Doch Hennigs Arbeiten sind nicht nur teilweise kopiert und voller Fehler, sondern auch inhaltlich schlecht. Das erkennt man bereits an den Abschreibefehlern, die von der Wissenschaftsplattform "VroniPlag Wiki" dokumentiert wurden. So will sie (in ihrer Habilitationsschrift) in zwei Fällen aus einer Quelle den Begriff "Evolution" abschreiben, verändert ihn aber zu "Evaluation". Macht ihre eigene Aussage dadurch überhaupt noch Sinn? 

 

Wohl kaum. Im Original heißt es im Buch von Gabor Kiss "Einführung in die soziologischen Theorien II. Vergleichende Analyse soziologischer Hauptrichtungen": "Der Begriff Komplexität als »Gesamtheit von möglichen Handlungen« weist auf eine mit der gesellschaftlichen Evolution wachsende »immense Zahl von möglichen Handlungen« (Alternativangeboten) hin […]".

 

Bei Hennig lesen wir: "Die Gesamtheit möglicher Handlungen wird mit dem Begriff der Komplexität umschrieben, der auf die mit der gesellschaftlichen Evaluation [sic] verbundene wachsende "immense Zahl von möglichen Handlungen" (Alternativangeboten) hinweist […]".

 

Im Jahre 1989 veröffentlicht Pierpaolo Donati im Soziologischen Jahrbuch den Text "Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft: Die informellen Netze in der gegenwärtigen Gesellschaft". Darin schreibt er, in der eigentlich verpönten Ich-Form, unter anderem folgendes: "Unter dem Blickwinkel des eben Gesagten möchte ich im folgenden eine neue Art und Weise der Interpretation sowohl der Tonniesschen Theorie wie der Existenzform der gegenwärtigen Gesellschaft als wechselseitige Durchdringung von Gemeinschaft und Gesellschaft darstellen. Damit stelle ich mir als Aufgabe, die Position von J. Habermas zu vertiefen, die anhand der folgenden Forschungsrichtung deutlich wird: […]".

 

Bedrückende Plagiate
im Fazit der Arbeit

 

Bei der Kopie übernimmt Hennig die Ich-Form, die ansonsten im wissenschaftlichen Teil ihrer Arbeit nicht auftaucht. Sie formuliert, leicht abgewandelt: "Vor dem Hintergrund des eben gesagten [sic] ist es mein Ziel, die Tönniessche Theorie in Bezug auf die heutige Gesellschaft als wechselseitige Durchdringung von Gemeinschaft und Gesellschaft darzustellen. Damit möchte ich die Position von Habermas vertiefen, die mit der folgenden Forschungsrichtung deutlich wird."

 

Am ungewöhnlichsten – und wissenschaftlich am bedrückendsten – sind Plagiate, wenn sie im Fazit einer Arbeit auftauchen. Denn hier sollte der neuartige Erkenntnisgewinn zusammengefasst sein. Die ersten rund eineinhalb Seiten ihres bilanzierenden Kapitels "Schlussbetrachtung" übernimmt Hennig indes aus dem entsprechenden Schlusskapitel eines Buches von Andrea Maria Dederichs. Dazu heißt es bei VroniPlag Wiki so lakonisch wie passend: "Gehörten somit die Ergebnisse der Arbeit schon 1998/1999 zum Stand der Forschung, ist deren Neuigkeitswert 2005/2006 umso schwerer zu bestimmen." Die Fragestellung und der Aufbau ihrer Arbeit übernimmt Hennig ebenfalls von Dederichs – oder aber sie wurden von Hennig "derart verinnerlicht" …

 

Auch auf Namen ist in der Habilitation kein Verlass. Astrid und Uwe Pfenning werden durchgängig zu Pfennig, mit Martin Burber könnte Martin Buber gemeint sein, George Simmel ist mit Sicherheit Georg Simmel, Scott A. Boorman wird zu Boormann, Gluckman zu Gluckmann, Luhmann zu Luhman, Edward O. Laumann zu Lauman, Wasserman zu Wassermann und, wenig überraschend, Wellman zu Wellmann. Aus Granovetter wird Granoveter, und Richard Sennett heißt nun Senett. Trezzini wird zu Trenzzini. Sophie Mützel (im Vorwort noch richtig) wird im Text und im Quellenverzeichnis zu Muetzel, Louis Wirth wird zu Luis, Theodore Mead Newcomb wird zu Theodor. Der Hamburger Stadtteil Eilbek wird durchgängig zu Eilbeck, Wandsbek zu Wandsbeck. Dank an die Beteiligten von VroniPlag Wiki, die all das herausgefunden haben.

 

Keine "hinreichend
bestimmten Zitierstandards"? 

 

Wie rechtfertigte Hennig ihre Plagiate noch vor dem Verwaltungsgericht? Argument 1: "Meine Zitierpraxis bewegt sich im Rahmen der damals üblichen Zitierweise in den Sozialwissenschaften." Argument 2: "Jedenfalls hat es damals keine hinreichend bestimmten Zitierstandards gegeben, an denen ich mich hätte orientieren können.“ Argument 3: "Es genügt für eine hinreichende Zitierung, wenn die herangezogene Arbeit im Literaturverzeichnis auftaucht."

 

Alle drei Argumente gehen fehl, wie bei VroniPlag Wiki nachzuvollziehen ist: In der im Herbst 1998 erschienenen ersten Auflage der Broschüre von Katrin Bialek, Ralf Clasen und Petra Stykow: Wie verfasse ich eine wissenschaftliche Arbeit? Hinweise, Anregungen und Ratschläge für Studierende am Institut für Sozialwissenschaften [der Humboldt-Universität Berlin], heißt es in der Einleitung unter anderem:  "[Die Hinweise] haben natürlich nicht den Charakter verbindlicher Vorschriften, spiegeln aber wider, was am Institut ‚üblich‘ ist." An diesem Institut wurde Hennig 1999 promoviert.

 

Das Kapitel 5.10 (Zitieren) der Broschüre beginnt mit dem Satz: "Alles muß angegeben werden, was in die eigene Arbeit wörtlich übernommen werden soll." und enthält sechs "Grundregeln des Zitierens", darunter: "2. Zitate sollten immer aus erster Hand, also aus dem Original sein. [...] Ist ein Original nicht zugänglich [...] muß eine Verwendung des Zitats gekennzeichnet werden."

 

Die zur Zeit der Anfertigung der untersuchten Arbeit gültige Promotionsordnung des Fachbereiches Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin vom März 1993 enthält unter anderem  folgende Ausführungen und Bestimmungen zu den Promotionsleistungen:

"(1) [...] Die Verleihung des Doktorgrades setzt den Nachweis der Befähigung zu vertiefter selbständiger wissenschaftlicher Arbeit und eigene Forschungsleistungen in kritischer Reflexion des internationalen Forschungsstandes auf dem jeweiligen Fachgebiet voraus." Zum Zulassungsverfahren: "(2) Dem Gesuch sind beizufügen: [...] eine Versicherung, daß die Dissertation selbständig und ohne unerlaubte Hilfe angefertigt worden ist." Und zur Dissertation selbst: "(4) Der Doktorand muß alle Hilfsmittel und Hilfen angeben und versichern, auf dieser Grundlage die Arbeit selbständig verfaßt zu haben.“

 

Eine "schwer erträgliche Beschädigung

der Institution Wissenschaft"

 

Zudem: Auf Seite 214 von Hennigs Dissertation findet sich eine "Erklärung" mit unter anderem folgendem Inhalt: "Hiermit erkläre ich an Eides statt, daß ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne Benutzen anderer als der angegeben [sic] Hilfsmittel angefertigt habe."

 

Gelegentlich hat sie nach Recherchen von VroniPlag Wiki aber sogar wörtliche Zitate verändert, ohne dies zu kennzeichnen. Das Einfügen eines sinnentstellenden "nicht" in ein Zitat gilt beim wissenschaftlichen Arbeiten im Allgemeinen als Tabu.

 

Hennig weiß, dass wörtliche Übernahmen gekennzeichnet werden müssen, da sie teilweise selbst so verfährt. Heute behauptet sie: Damals gab es keine Standards. 

 

Deshalb entzog ihr die Humboldt-Universität den Doktorgrad, was nach Berliner Landesrecht auch eine Beendigung der Lehrbefähigung nach sich zieht. Gegen diese Entscheidung erhob Hennig ihre Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Und damit war sie sogar erfolgreich. Allerdings eben nicht, weil die Plagiate in Zweifel gezogen wurden (dazu äußerte sich das Gericht gar nicht).

 

Die Universität wird das Aberkennungsverfahren wegen der Formfehler neu aufrollen müssen. Denn die Plagiate sind nicht weg zu argumentieren. Bis eine bestandskräftige oder rechtskräftige Entscheidung vorliegt, ist Hennig, Jahrgang 1961, vermutlich in Pension. 

 

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie nennt den Fall Hennig auf Anfrage eine "schwer erträgliche Beschädigung der Institution Wissenschaft". Nach Recherchen von Armin Himmelrath im Spiegel betreut Hennig derzeit fünf Promovenden.