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Lauterbachs verschleppte Medizin-Reform

Wenn es so weitergeht, ist der "Masterplan Medizinstudium 2020" auch 2030 noch nicht umgesetzt. Pokert der Gesundheitsminister zulasten der Wissenschafts-Etats?

KARL LAUTERBACH SCHEUT keinen Konflikt, wenn er etwas für richtig hält. Gerade legt er sich wieder einmal mit der Ständigen Impfkommission an, die eine vierte Corona-Impfung erst für Menschen ab 70 für sinnvoll erklärt hat. Der SPD-Gesundheitsminister hält im Spiegel dagegen: Er würde den erneuten Booster auch Jüngeren empfehlen, "da hat man einfach eine ganz andere Sicherheit“.

 

Ob es für einen Gesundheitsminister angemessen ist, Stiko zu spielen, darüber lässt sich womöglich noch streiten. Irritierend ist in jedem Fall, dass Lauterbach Aufgaben, die zweifelsohne zum Kernbereich seiner Jobbeschreibung gehören, schleifen lässt. Selbst wenn sie für das langfristige Wohlergehen der Gesellschaft ebenfalls von großer Bedeutung sind. 

 

Vor fünfeinhalb Jahren haben die Wissenschafts- und Gesundheitsminister von Bund und Ländern den "Masterplan Medizinstudium 2020" beschlossen. Nach jahrelangem Poker. Denn seine 37 Punkte buchstabierten nicht nur die schon damals überfällige Generalüberholung der Ärzteausbildung aus, vor allem mit einer frühzeitigen Praxisorientierung "am Patienten und seinen Bedürfnissen". Sondern die Reform, das war schon damals klar, würde teuer werden. 

 

So teuer, dass sich Bund und Länder, Wissenschafts- und Gesundheitspolitiker seitdem um die Rechnung streiten. Deren genaue Höhe allerdings selbst Konfliktgegenstand ist. Der Medizinische Fakultätentag (MFT) hat einmalige "Transformationskosten" von rund 175 Millionen Euro errechnet, dazu dauerhaft 32.000 bis 40.000 Euro mehr pro Erstsemester-Studienplatz und Jahr – weil bessere Betreuungsverhältnisse nötig seien, eine intensivere Lehre auch im ambulanten Bereich und aufwendigere Prüfungsformate. Hat der MFT Recht, würde das dauerhaft rund 400 Millionen Euro mehr pro Jahr bedeuten. Während die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), in einer allerdings ungleich schlichteren Rechnung, nur auf knapp 6000 Euro mehr pro Studierendem kommt, die Angaben der Fakultäten aber ihrerseits für "nicht nachvollziehbar" hält.

 

Das Signal hinter den Kulissen:
Der Bund zahlt gar nichts

 

So oder so hatten viele große Hoffnung in Lauterbach gesetzt, dass er nach seiner Amtsübernahme auf einen Kompromiss hinarbeiten würde. Das Vehikel: die Novelle der Ärztlichen Approbationsordnung, die sein Vorgänger Jens Spahn (CDU) nicht über einen von Ländern und Verbänden verrissenen Referentenentwurf hinausgebracht hatte. Sie soll wesentliche Anforderungen an die Medizinstudium-Reform festlegen. Und gleichzeitig die Kostenfrage klären. 

 

Doch Lauterbach drückt auf die Bremse. Bei der MFT-Jahresversammlung Mitte Juni in Essen sagte der Gesundheitsminister lediglich, er wolle die Novelle "gern voranbringen", ohne aber Details oder einen Zeitplan zu nennen. Will er die Sache aussitzen? Angesichts von geschätzt vier, fünf Jahren Vorlauf, den die Länder und Fakultäten für den flächendeckende Umbau des Medizinstudiums bräuchten, wird immer wahrscheinlicher: Auch 2027, zehn Jahre nach seiner Verabschiedung, dürfte der "Masterplan Medizinstudium 2020", nicht umgesetzt sein. Womöglich wäre sogar seine Umbenennung in "Masterplan Medizinstudium 2030" zu optimistisch. 

 

Dafür gab es hinter den Kulissen Signale des Gesundheitsministeriums an die Länder zum Thema Zusatzkosten: Der Bund zahlt gar nichts. Was angesichts der diskutierten monetären Größenordnungen in den Ländern für Fassungslosigkeit sorgt. Und dort den Konflikt zwischen Gesundheits- und Wissenschaftsministerien weiter schürt. 

 

Denn so wie Bund und Länder pokern, tun das auch die Fachministerien. Die Gesundheitsseite sieht die Finanzierungsverantwortung vor allem bei den Wissenschaftsministerien. Die Wissenschaftsministerien sagen, sie hätten schon jetzt zu wenig Geld, um die Universitäten auskömmlich zu finanzieren. Blieben sie auf den Reformkosten sitzen, müssten andere Fachrichtungen für die Medizinreform bluten. Oder, wahrscheinlicher, die Zahl der Medizin-Studienplätze müsste sinken. Obwohl spätestens durch die Corona-Pandemie der Ärztemangel eklatant geworden ist. 

 

Einen Abbau würden die Ministerpräsidenten wohl kaum zulassen, aber die Drohung allein zeigt, dass die Wissenschaftsministerien sich in die Ecke gedrängt fühlen. 

 

Während Karl Lauterbach den mutigen Anwalt der Patienteninteressen gibt, ändert sich dank seines Mittuns im Medizinstudium des Jahres 2022: gar nichts.

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 1
  • #1

    Medizinstudent (Freitag, 22 Juli 2022 19:17)

    Als aktueller Medizinstudent möchte ich nicht mit meinen Kommilitonen:innen der Zukunft tauschen und mancherlei erschließt sich mir auch nicht: „schon damals überfällige Generalüberholung“. Sind unsere Ärzte so schlecht? Was ich mitbekommen habe von der Reform, leider kann ich die Quellen nicht mehr finden, ist unter anderem eine Steigerung von gut 20% der Lehrveranstaltungen bei gleicher Regelstudienzeit und zusätzliche Prüfungen. Ansonsten tauchen immer wieder Themen wie Verbesserung der ärztlichen Kommunikation und mehr Allgemeinmedizin auf - mittlerweile studiere ich an der zweiten Universität und ich habe jedes Semester Lehre zu diesen Themen. Ehrlicherweise habe ich zunehmend das Gefühl, dass Politik und Journalismus keine Ahnung haben, was überhaupt in dem Studium vorkommt, aber jeder möchte aktivistisch seine Meinung dazu geben. (Diese „Schelte“ sei mir erlaubt, bin selbst in einer der Parteien Mitglied und auch artiger Zeitungsabonnent eines Leitmediums.)