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Weiter warten auf die Trendwende

Was bedeuten die neuen BAföG-Zahlen, die das Statistische Bundesamt veröffentlicht hat? Warum war Ministerin Stark-Watzinger von ihnen so demonstrativ begeistert? Und vor allem: Lässt die Reform der Ampel-Koalition den Kreis der Empfänger endlich kräftig wachsen? Eine Analyse.

Ist die Talfahrt nach zehn Jahren gestoppt? Die Entwicklung der BAföG-Empfänger in der Grafik des Statistischen Bundesamtes. Was diese nicht zeigt: Im Vergleich zum Jahr 2000 hat sich die Gesamtzahl der Studierenden verdoppelt. 

VERGANGENEN FREITAG hat das Statistische Bundesamt die BAföG-Statistik für 2021veröffentlicht. Demzufolge ist die Zahl der geförderten Studierenden im Monatsschnitt leicht gestiegen: von 321.083 auf 333.474. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sprach laut BMBF-Pressemitteilung von einer "sehr guten Nachricht" nach "langen Jahren des Rückgangs", zumal auch der durchschnittliche Förderbetrag zugenommen habe. Und sie fügte hinzu: "Wir wollen auf diesen Erfolg jetzt aufbauen" – mit der neulich beschlossenen Novelle zum Wintersemester und weiteren, bereits im Ampel-Koalitionsvertrag versprochenen Reformschritten. Denn: "Wir wollen jedem jungen Menschen die Möglichkeit geben, ein Studium aufzunehmen, auch wenn die Eltern nicht über ausreichende Mittel verfügen. Deshalb sehe ich mein Haus auch als das Chancenministerium."

 

Liest man die Pressemitteilung aus dem Ministerium Stark-Watzingers, fragt man sich, welche Superlative dort erst ausgepackt werden, sollten die BAföG-Zahlen irgendwann ernsthaft hochgehen. Denn das Deutsche Studentenwerk (DSW), der Dachverband der Studierendenwerke, hatte natürlich Recht, als es am Freitag in seiner ersten Reaktion konstatierte: Zwar sei der freie Fall" bei den BAföG-Zahlen gebremst, doch "die Trendwende steht noch aus".

 

Tatsächlich ist die Zahl der insgesamt im Jahr 2021 geförderten Studierenden nämlich um gerade einmal 0,4 Prozent auf 468.000 gestiegen. Das erste Plus seit 2012. Immerhin. Wie das Statistische Bundesamt erläutert: "Die BAföG-Förderung erstreckt sich zum Teil nicht über das gesamte Jahr, weshalb die Monatswerte von den Jahreswerten abweichen." Auf den Monat betrachtet erhöhte sich Gefördertenquote von 10,9 auf 11,3 Prozent. Das heißt: Statt 89,1 ging das BAföG 2021 rechnerisch noch an 88,7 Prozent aller Studierenden vorbei. Pro Student:in gab es im Schnitt fünf Euro (0,9 Prozent) mehr – bei einer Jahresinflationsrate von schon damals 3,1 Prozent. Sogar ein absoluter Rückgang zu verzeichnen war bei der Zahl der Studierenden, die 2021 den maximalen Förderbetrag erhielten, die sogenannte Vollförderung: um 2,3 Prozent auf nur noch 200.369.

 

Die ernüchternde Abschlussbilanz
der Anja Karliczek

 

Mit Stark-Watzinger zu tun haben diese Zahlen indes noch gar nichts. Dafür umso mehr mit ihrer Vorgängerin, Anja Karliczek. Diese hatte bereits 2019 bei der damaligen BAföG-Novelle besagte "Trendwende" versprochen – mit "über 100.000" zusätzlichen geförderten Schülern und Studierenden bis 2021. Womit sie sogar noch etwas zurückhaltender war als die BMBF-Chefin davor, Johanna Wanka, die 2016 mittelfristig 110.000 zusätzliche Empfänger:innen prognostiziert hatte.

 

Am Ende sind es 2021 gegenüber 2019 rund 21.000 Studierende und sogar 36.000 Schüler weniger geworden, wobei die letzte Zahl nicht zum Vergleich herangezogen werden kann – weil viele Fachschüler 2021 laut Statistischem Bundesamt das seit einer Reform viel günstigere Aufstiegs-BAföG gewählt haben. Doch ein Minus insgesamt wäre trotzdem geblieben –und kein Hunderttausend-Plus. Dadurch werden die 2021er BAföG-Zahlen, wenn man so will, zur ernüchternden Abschlussbilanz von Anja Karliczek.

 

Umso mehr wundert, dass Stark-Watzinger den leichten Anstieg, der in Wirklichkeit Ausdruck eines nicht eingelösten Versprechens ihrer Vorgängerin ist, vor dem Wochenende überhaupt so hochgehängt hat. Denn die im Juli im Bundestag beschlossenen ersten Stufe der Ampelreform beim BAföG tritt erst jetzt in Kraft, kann also erst 2023 so richtig ihre Wirkung entfalten. Mit um 20,75 Prozent höheren Freibeträgen und einem Plus von 5,75 Prozent bei Bedarfssätzen und Wohnzuschlag. Außerdem werden das Schonvermögen erhöht und die Altersgrenze auf 45 angehoben, und der überfällige Notfallmechanismus wurde eingebaut. Man habe "den Kreis der Förderungsberechtigten nochmals erheblich ausgeweitet", sagte dazu die Bundesbildungsministerin.

 

Wird dann wenigstens dieser Schritt neben der Trendwende endlich auch den immer wieder versprochenen und seit einem Jahrzehnt nicht gekommenen kräftigen Anstieg bringen?

 

Fraunhofer-Prognose: Das
wird nicht reichen

 

Nicht, wenn man die Schätzungen des Fraunhofer-Instituts für angewandte Informationstechnik (FIT) heranzieht, die das BMBF im Juli als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der linken Bundestagsabgeordneten Nicole Gohlke zitierte. FIT berechnet mit Hilfe eines Simulationsmodells die Gefördertenquote, die sich aus den jeweils aktuellen BAföG-Regeln ergibt. 

 

Das Ergebnis: Ohne die Ampel-Reform läge die BAföG-Quote unter allen "dem Grunde nach" bezugsberechtigten Studierenden (Vorsicht, andere Definition als oben!) 2023 bei 15,6 Prozent und würde bis 2026 auf 13,3 Prozent zurückgehen. Mit der Reform erwartet FIT einen 2023 dagegen 17,4 Prozent, doch würde der Anteil in den Jahren danach ebenfalls kräftig heruntergehen auf prognostizierte 14,7 Prozent. Womit die Gefördertenquote 2026 trotz Reformschritt sogar niedriger läge als im laufenden Jahr (für das FIT 16,7 Prozent angibt).Gohlke, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken und die für Bildung und Wissenschaft zuständige Sprecherin ist, kommentierte, bereits jetzt sei "klar, dass auch die aktuelle BAföG-Reform nicht zu einer wesentlichen Erhöhung der Gefördertenquote führen wird".

 

Etwas diplomatischer formuliert DSW-Generalsekretär Matthias Anbuhl: Die Bundesregierung habe mit einer frühzeitigen Anhebung der Elternfreibeträge, Altersgrenzen und Bedarfssätze beim BAföG wichtige Akzente gesetzt. "Wenn sie jetzt kraftvoll nachlegt, kann sie sich als BAföG-Bündnis beweisen." Denn die "immensen Preissprünge" bei Lebensmitteln, Strom und Heizungen stellten viele Studierende schon heute vor "existentielle Nöte". Deshalb sei eine "weitere, schnelle Anhebung" der Bedarfssätze nötig. 

 

Doch auch das, sagt Anbuhl, dürfte nicht reichen. Denn das BAföG sei im vergangenen Jahrzehnt nicht an veränderte Lebens- und Studienwirklichkeiten angepasst wurden. "Das Ergebnis: Nach dem BAföG-Bericht der Bundesregierung haben rund  40 Prozent aller Studierenden keine Chance aufs BAföG – ganz unabhängig davon, wie wenig Geld sie haben – zum Beispiel weil sie das Studienfach gewechselt haben, zu lange studieren oder den fürs BAföG falschen Pass haben. Hier sind grundlegende Strukturreformen notwendig."

 

Bringt Reformstufe zwei
den Durchbruch?

 

Der Studierendenverband fzs verweist auf Zahlen des Paritätischen Gesamtverbands hin, nach denen rund 30 Prozent aller Studierenden in Armut lebten. Stark-Wazinger, fordert der fzs, müsse eine "wirkliche strukturelle Reform des BAföG, die auch Schüler*innen einbezieht", sofort angehen. Inklusive einer starken Erhöhung der Fördersätze, Elternunabhängigkeit und einer Rückkehr zum Vollzuschuss. "Sonst wird es keine Trendwende geben."

 

Tatsächlich hat die Ampel, siehe oben, immerhin etliche weitere Reformen in Aussicht gestellt. Darunter die Einführung einer Studienstarthilfe für Erstsemester aus ärmeren Familien, eine Verlängerung der Förderhöchstdauer, neue Regeln beim Fachwechsel und den erforderlichen Studienleistungsnachweisen, die Absenkung des Darlehensanteils beim BAföG – sowie nach der Reform der Kindergrundsicherung ein elternunabhängiger Garantiebetrag, der künftig an alle Volljährigen in Ausbildung und Studium ausgezahlt werden soll. 

 

Wann genau all das kommen soll, ist unklar. Ministerin Stark-Watzinger sagte dazu zuletzt: "Unser nächstes Ziel ist es, durch strukturelle Reformen nicht nur mehr Menschen zu erreichen, sondern ihnen auch eine flexiblere und modernere Unterstützung zu bieten". Wobei flexibel und moderner wohl auch mehr erreichte Menschen bedeuten würde. Die Frage ist: wieviel mehr? Substanziell mehr? DSW-Generalsekretär Anbuhl sagt, er gehe davon aus, "dass das substanzielle Wirkung haben wird". Der Effekt sei in Form von Prognosen allerdings schwer abschätzbar, zumal es auch darauf ankomme, wie kraftvoll die Regierung an den verschiedenen Schrauben drehe.

 

Besonders hilfreich, soviel ist klar, wäre es, wenn das BMBF zusätzlich ernst machte mit dem ebenfalls im Koalitionsvertrag enthaltenen, dort aber sehr schwammig formulierten Versprechen einer "regelmäßigeren" Erhöhung. Ernst machen hieße, Freibeträge und Bedarfssätze an die Inflation zu koppeln. Nur das würde Schluss machen mit den Strohfeuern nach den Erhöhungen nach Kassenlage alle paar Jahre.

 

Apropos Prognosen. Bei allem übertrieben anmutenden Jubel in der jüngsten BMBF-Pressemitteilung scheint Bettina Stark-Watzinger eine wichtige Lektion von ihren Vorgängerinnen gelernt zu haben: Eine konkrete Zahl zusätzlicher BAföG-Empfänger:innen hat sie nicht versprochen. 



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Kommentare: 3
  • #1

    Django (Dienstag, 16 August 2022 15:56)

    Als Gutverdiener wünsche ich mir eigentlich, dass Leistungen wie die Ausbildungsfürderung, aber auch die diversen Sozialleistungen, durch eine entsprechende Gesetzesänderung indexiert werden. Mit einer Klausel, dass bei starken Steigerungen wie in den letzten Monaten auch unterjährig angeglichen werden muss... Es ist doch unwürdig, dass diverse Regierungen sich auf die Brust klopfen, wenn sie diese Leistungen überhaupt anheben, ohne zu erwähnen, dass der Aufwuchs seit Langem hinter der allgemeinen Preisentwicklung herhinkt.

  • #2

    Daisy Duck (Dienstag, 16 August 2022 23:21)

    Ich vermisse eine kritische Auseinandersetzung mit dem Pandemie-Aspekt. Die Bundesländer haben die Regelstudienzeiten verlängert. In der Folge beziehen mehr Studierende länger BAföG. Nachzulesen in der Gesetzesbegründung zu 15a BAföG im 27. BAföG-Änderungsgesetz. Nur bei Bereinigung der aktuellen Zahlen um diesen Personenkreis wären sie seriöserweise interpretierbar.

  • #3

    Achim Meyer auf der Heyde (Dienstag, 23 August 2022 11:58)

    Leider geben die Daten nicht her, ob es in 2020 tatsächlich einen leichten Anstieg der Gefördertenquote gegeben hat. Möglicherweise ist es auch nur eine Folge der erweiterten Pandemieregelungen: mit den Verlängerungen der Regelstudienzeit über mehrere Semester hat sich auch die Förderungshöchstdauer verlängert. Andernfalls wären diese Studierenden aus der Förderung gefallen.