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Sofort, unverzüglich

Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt: Arbeitgeber sind auch in Deutschland bereits jetzt zur Zeiterfassung verpflichtet. Was bedeutet das Urteil für die Wissenschaft?

DER BESCHLUSS des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist wenig überraschend und sorgt trotzdem für Aufsehen: In Deutschland besteht die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Konkret entschied das BAG über den Antrag eines Betriebsrates einer vollstationären Wohneinrichtung, doch die Auswirkungen betreffen alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Deutschland – unabhängig von Art oder Ort der Tätigkeit. Auch in der Wissenschaft.

 

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ergebe sich aus dem Bundesarbeitsschutzgesetz, und zwar bei "unionskonformer Auslegung", verkündete der Erste Senat des BAG laut Pressemitteilung vom Dienstag. Womit er sich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von Mai 2019 bezog, demzufolge Arbeitgeber in der Europäische Union die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer komplett erfassen müssen. Also eigentlich nichts Neues, nur nun auch in Deutschland höchstrichterlich bestätigt. 

 

Im Mai 2019 hatte Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die EuGH-Entscheidung als "groteske Regelung" und einem "Rückfall in eine Arbeitsorganisation früherer Zeiten" kritisiert. Das Urteil verkenne die Flexibilität von Arbeitsorten und Arbeitszeiten, die heute Realität sei. "Es ist nicht zeitgemäß, erst recht nicht für die Wissenschaft." Alt hatte von der Politik Ausnahmen für die Wissenschaft gefordert. "Eine Lex Wissenschaft hielte ich für eine gute Idee." 

 

Jetzt sagt der HRK-Präsident: "Der Bundesgesetzgeber muss nun Regelungen treffen, die konkret und sachgerecht, also auch individuell auf die Erfordernisse unterschiedlicher Arbeitsumgebungen anwendbar sind." Also keine "Lex Wissenschaft" mehr, aber eine einzige "atmende Lösung per Gesetzgeber", damit es nicht zu viele Ausnahmen für einzelne Bereiche von Wissenschaft und Gesellschaft gebe.

 

Zum Druck auf die Bundesregierung
kommt jetzt der Zugzwang

 

Durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2019 war die Bundesregierung unter Druck geraten, das deutsche Arbeitsrecht anzupassen, das nur die Erfassung von Überstunden und Sonntagsarbeit vorschreibt – und selbst diese wurde in der Vergangenheit von den Arbeitgebern teilweise sehr lax gehandhabt. Doch die Umsetzung ließ bislang auf sich warten.

 

Zu dem Druck des EuGH kommt seit gestern der Zugzwang des BAG. Denn auch wenn die Richter die Begründung für ihren Beschluss noch nicht veröffentlich haben, macht es Arbeitsrechtlern zufolge in jedem Fall klar: Die Zeiterfassungs-Verpflichtung gilt in Deutschland auch ohne Gesetzesänderung bereits jetzt. Und zwar vollumfänglich. Was dann doch in der Deutlichkeit überraschend ist.

 

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) lehnt derweil gesetzliche Sonderregelungen etwa zugunsten der Wissenschaft ab. Die Vorgabe der Gerichte seien bereits flexibel genug. "Arbeitszeiterfassung bedeutet weder, dass eine Stechuhr aufgestellt werden muss noch eine Präsenzpflicht am Arbeitsplatz in Hochschule oder Forschungseinrichtungen", sagt der GEW-Vizevorsitzende Andreas Keller. Die Beschäftigte könnten ihre Arbeitszeit auch selbst aufzeichnen, inklusive der Arbeitszeit, die zu Hause, auf Dienstreisen oder in Bibliotheken geleistet werde. "Arbeitszeiterfassung auf der einen Seite und akademische Freiheit und Zeitsouveränität auf der anderen Seite stehen nicht im Widerspruch."

 

"An die
Excel-Tabellen"

 

Die BAG-Entscheidung stelle sicher, dass die geleistete Arbeit tatsächlich entlohnt werde, fügt Keller hinzu. "Gerade in der Wissenschaft ist unbezahlte Mehrarbeit verbreitetet, nicht selten in Kombination mit Teilzeitstellen. Wer Vollzeit arbeitet, muss auch einen Anspruch auf eine Vollzeitstelle und Vollzeitbezahlung haben."

 

Der Deutsche Hochschulverband (DHV), dessen rund 33.000 Mitglieder zu einem großen Teil Professoren sind, teilte mit, man wolle mit einer Kommentierung des Urteils bis zur schriftlichen Begründung warten. "Erneut bekräftigen kann ich aber, dass der DHV die Umsetzung des Urteils eng begleiten wird", sagte Pressesprecher Matthias Jaroch. Dabei werde darauf zu achten sein, dass den Spezfika der Wissenschaft angemessen Rechnung getragen werde. "Wissenschaft kennzeichnet Freiheit, Kreativität und Eigeninitiative. Festen Arbeitszeiten entzieht sie sich deshalb weitgehend." Nicht von ungefähr unterlägen Professoren formal keiner Arbeitszeitregelung. Aber auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterhalb der Professur seien flexible Regelungen nötig. 

 

Während sich die großen Hochschulen und Forschungsorganisationen zunächst mit Äußerungen zurückhielten, wurde das EuGH-Urteil in den sozialen Medien vor allem von Unterstützern der "#IchBinHanna"-Initative gefeiert. Der Berliner Wissenschaftler Stephan Liebscher twitterte: "#Ichbinhanna erfasst jetzt die Arbeitszeit und erhält Überstundenzuschläge, auch für die eigene Forschung (Diss, Habil). An an die Excel-Tabellen." 

 

Hinweis: Ich habe diesen Beitrag am 14. September um 18 Uhr um das Statement des DHV ergänzt.


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Kommentare: 15
  • #1

    Raphael Wimmer (Mittwoch, 14 September 2022 12:54)

    Ich habe da durchaus Bauchweh, was die Umsetzung an den Universitäten angeht.
    Gerade weil diese ja als staatliche Einrichtungen besonderen Sorgfaltspflichten unterliegen, erwarte ich ein deutliches Mehr an Bürokratie, inkl. langer Listen, welche Tätigkeiten jetzt als Arbeitszeit gelten, und welche nicht (wie ist das bei Twitter, Mittagessen mit Kollegen anderer Fakultäten, Social Events auf Konferenzen, ...?). Darf ich Zeit abrechnen, die ich am Wochenende arbeite, oder muss ich das dann irgendwie unter der Woche noch eintragen, damit formal alles korrekt ist?
    Gehört es zur Arbeitszeit, wenn ich ein YouTube-Video zu einem Hobby von mir mache? Dazu müsste man ja erst einmal definieren, wo Arbeit anfängt und Hobby aufhört. Das geht -zumindest für Menschen wie mich - in der Wissenschaft eher schlecht.

  • #2

    Maria (Mittwoch, 14 September 2022 15:35)

    Ich kann die generelle Freude der Gewerkschaften über dieses Urteil nachempfinden, gerade weil sich nach der eindeutigen Entscheidung des EuGH auf bundesgesetzlicher Ebene seit 2019 nichts getan hat. Ich befürchte nur, dass die Dokumentation von "mehr Arbeit" noch lange nicht dazu führt, dass diese an den Hochschulen auch bezahlt wird. Das Bundesarbeitsgericht hat auch dazu vor kurzem eine Entscheidung getroffen und dabei auch einen Blick auf das EuGH-Urteil geworfen (5 AZR 359/21 vom 04.05.22). Der Leitsatz lautet: "Verlangt der Arbeitnehmer Überstundenvergütung, hat er im Prozess die Leistung solcher und deren Veranlassung durch den Arbeitgeber darzulegen. Vom Erfordernis der arbeitgeberseitigen Veranlassung ist nicht wegen der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit (EuGH 14. Mai 2019 – C-55/18 – [CCOO]) abzurücken." Der Nachweis, dass die konkrete Mehrarbeit durch den Arbeitgeber veranlasst worden ist, wird für die Hochschulbeschäftigten nur schwer möglich sein.

  • #3

    Stefan Meier (Mittwoch, 14 September 2022 20:24)

    Die Wissenschaft steckt im Dilemma:
    möchte sie ein Arbeitsfeld wie viele andere sein und der entsprechenden Regulierung unterliegen? Oder besteht sie weiterhin auf ihren besonderen Status so wie kirchliche Arbeitgeber es zum Beispiel lange getan haben? Ähnlich wie in den übrigen Bereichen wird sich nach näherer Betrachtung herausstellen, dass die verfassungsrechtlichen Besonderheiten eigentlich keine sachlichen Gründe erkennen lassen, die eine Sonderbehandlung gebieten.
    Die Wissenschaftsfreiheit hindert keinen Beschäftigten, ob Hochschullehrer oder Doktoranden seine Arbeitszeit zu erfassen und es mit den Rahmenvorgaben abzugleichen.
    Natürlich ist es Aufwand sich damit zu befassen und sich zu fragen: rechtfertigen meine 65 Stunden in der Woche meine Tätigkeit (bzw. Arbeitsergebnisse)?
    Das muss man wollen. Sich dieser Selbstreflektion zu stellen ist anspruchsvoll, weshalb viele Hochschullehrer das nicht unterstützen werden. Das ist kein Vorwurf, das ist menschlich.

    Wie überall im öffentlichen Dienst wird das niemand kontrollieren, so lange die Dienstpflichten wie die Lehrverpflichtung, die Aufgaben in der Selbstverwaltung, die Führungsaufgaben im Allgemeinen und Orga- u Dienstpflichtigen im Übrigen eingehalten werden und nicht grob verletzt werden, wenn zum Beispiel jemand meint Freizeitausgleich für Überstunden nehmen zu wollen, die nicht geleistet wurden, weil Hobby-Videos ohne jeglichen dienstlichen Bezug gemacht wurden.
    Der obige Kommentar von Herrn Wimmer gebietet es eigentlich entsprechende zu verfahren, denn als Steuerzahler möchte ich nicht, dass Wissenschaftler auf Kosten des Staates ihren Hobbys nachgehen.
    Es spricht nichts dagegen tagsüber was privates zu machen, aber dann loggt man sich eben aus und klärt mit dem Dienstherrn bzw der Einrichtung , die einen beschäftigt, ob man die Technik des Arbeitgebers (Notebook, Internet, Telefon, Kamera) nutzen darf und in welchem Ausmaß.

  • #4

    Kirill (Mittwoch, 14 September 2022 23:36)

    Es ist vollkommen egal wie die Arbeitszeiterfassung umgesetzt wird. Es wird immer einen Weg geben dort falsche Daten einzutragen. Wer sich weigert und die tatsächliche Arbeitszeit einträgt wird halt nicht verlängert.

    Es gibt Institute bei denen die Zeiterfassung aus Versicherungsgründen strikt gehandhabt wird zB über die Zutrittskontrolle. Alle sammeln unmengen an Überstunden an, die dann aber per Betriebsvereinbarung wieder aus der Zeitaufzeichnung gestrichen werden. Genau so läuft es zB am ILM in Ulm.

    EU Projekte werden Stichprobenartig geprüft. Bei dieser Prüfung werden auch Stundenzettel kontrolliert. Heute habe ich gehört, dass dasselbe auch auf BMBF Projekte zutrifft. Natürlich werden da Fantasie-Stundenzettel (bestätigt durch Unterschrift der Angestellten) eingereicht. Das scheint die EU nicht zu stören.

    Daher kann ich die Freude der GEW nicht nachvollziehen. Dieses Urteil wird absolut keine positiven Effekte auf Work-Life Balance oder Gehalt haben. Nur mehr Bürokratie. In weiterer Folge werden die WissenschaftlerInnen sogar selbst für eine Ausnahmeregelung für die Wissenschaft eintreten und sicherlich nicht in die GEW eintreten, die sie dann für die unnötige Bürokratie mitverantwortlich machen werden.

  • #5

    Michael (Donnerstag, 15 September 2022 08:30)

    Verstehe nicht, wie Wissenschaftler das feiern können: es bedeutet Mehrarbeit für sinnlose Selbsterfassung von Arbeitszeiten und macht die wiss. Tätigkeit unflexibler. Das gibt es schon lange in EU Projekten, in denen am Ende die Zeiten mit den geförderten Mitteln für Stellen übereinstimmen müssen, kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich tagelang daran sass, damit Zeiten am Ende „passen“. Dass die Unis hier Überstunden, am besten noch für eigene Qualifizierungsarbeiten bezahlen, halte ich für ausgeschlossen. Es wird eher so kommen, dass die Unis dann auf mehr - besser kontrollierbare - Anwesenheit pochen. Zudem generell: wer als Wissenschaftler in Kategorien wie Arbeitszeiterfassung und Überstunden (bezahlt) denkt, sollte doch lieber in die Verwaltung gehen.

  • #6

    Robert Schweizer (Donnerstag, 15 September 2022 16:30)

    Die Kommentare zeigen mal wieder, dass die hauptberuflichen Akademiker eigentlich nicht den Anspruch erfüllen, den Wissenschaft an sie stellt. Überall sind Arbeitnehmer in der Lage ohne Probleme ihre Arbeitszeiten zu erfassen. Keiner tut das als Bürokratie ab, denn es liegt ja am Arbeitgeber wie das gemacht wird. Außerdem hat das überhaupt nix mit der Frage des Ortes (fester Arbeitsplatz, anderswo auswärtig oder im eigenen Büro zu Hause genannt Home Office) zu tun. Dort ist ebenfalls die Arbeitszeit zu erfassen.

  • #7

    Florian W. (Donnerstag, 15 September 2022 17:19)

    Die Beiträge der Wissenschaftler oben sind erschreckend undifferenziert und klingen nach wenig Motivation. Wären das nicht eher Leute, die man in der oben angesprochenen Verwaltung vermutet (frei nach dem Motto „ das haben wir ja noch nie so gemacht“). Hoffentlich ist der Rest in der Wissenschaft intelligenter. Sonst sieht es für Deutschland düster aus.

    Was hat zum Beispiel die Tatsache, dass jemand betrügt oder lügt, damit zu tun, ob eine Maßnahme grundsätzlich sinnvoll ist. Dann können wir eigentlich eine Vielzahl von Dingen, die wir täglich tun, einstellen. Bzw seit wann stellen wir zum Beispiel das Steuern zahlen in Frage, nur weil ein paar Betrüger meinen, sie sind schlauer als die Finanzverwaltungen (siehe zum Beispiel cum ex-Affäre). Obwohl hier jahrelang im großen Stil betrogen wurde, hat niemand gesagt, deshalb lohnt es sich nicht mehr Steuern zu zahlen.

    Was hat der Nachweis über die sachgemäße Verwendung von EU-Geld mit der Arbeitszeit-Erfassung zu tun? Nur weil hier gelogen wird, kann man alles gleich lassen? Das Problem gibt es nicht nur in der Wissenschaft sondern überall, wo EU-Geld hinfließt. Alle Begünstigen (auch Nicht-Wissenschaftler übrigens) muss die Zuwendung belegen. Warum denken Wissenschaftler sie sind was besonderes und müssen das nicht vernünftig tun? Das ist ärgerlich und lässt tief blicken. Mir geht es dabei nicht um die Betrüger und Projektleiter selbst, sondern um die Nachwuchswissenschaftler die meinen, obwohl sie öffentliche Gelder als Lohn und darüber hinaus auch für Projekte erhalten, meinen, es sei in Ordnung so zu verfahren (alle anderen sind doof, also darf ich mir das Leben auch schön einfach machen). Von der deutschen Wissenschaft und Empfänger zahlreicher öffentlicher Gelder erwarte ich mehr, und zwar Kommentare wie : das prangere ich an. Da musste was getan werden.
    Aber nicht, die betrügen und deshalb ist die Erfassung von Arbeitszeiten dämlich.

  • #8

    naja (Freitag, 16 September 2022 15:26)

    Der Kommentar #5 von 'Michael' trifft es genau. Arbeitszeiterfassung in der Wissenschaft ist absurd. Wer
    hochmotiviert an wiss. Problemen arbeitet, denkt zu allen möglichen Zeiten und an allen möglichen Orten über sein Problem nach. Vor dem Einschlafen im Bett, unter der Dusche, beim Essen etc. Leute, die im Modus 'Büroschluss ist um 4' denken, sind in der Wissenschaft im Grunde fehl am Platz. Umgekehrt ist es absolut kontraproduktiv, Anwesenheit im Büro vorzuschreiben. Wo nachgedacht wird, ist völlig egal, Hauptsache, es kommt was raus.
    Insgesamt also absurd.

  • #9

    Edith Riedel (Freitag, 16 September 2022 18:23)

    @naja: Das Nachdenken über Probleme ist in der Tat nicht auf so einfach zu dokumentieren, und kann ja gerne auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten erfolgen.

    Schwierig und arbeitsrechtlich mehr als grauzonig wird es aber dann, wenn gerade von Nachwuchswissenschaftler*innen erwartet wird, nächtelang und wochenends im Labor zu stehen oder 24/7 für Aufträge und Aufgaben zur Verfügung zu stehen: schreib mal dieses Abstract, überarbeite mal jene Publikation, bereite mal rasch diesen kleinen Vortrag vor, korrigiere mal kurz diese Bachelorarbeiten, betreu doch die nächsten drei Tage jenen Gast, etc. etc. Ach ja, und mache Deine Lehre gut, und erstelle nebenher noch Deine Qualifkationsarbeit(en). Und das auf Verträgen, die selten auf 100% Arbeitszeit ausgestellt sind. Die Dokumentation von Arbeitszeiten mag sperrig und beckmesserisch erscheinen, ist jedoch ein erster Schritt in die durchaus richtige Richtung, die (Selbst)ausbeutung in der Wissenschaft einzudämmen.

  • #10

    naja (Samstag, 17 September 2022 08:54)

    @Edith Riedel: nächtelang und wochenlang im Labor zu stehen ist Teil des wiss. Engagements im Bereich der Naturwissenschaften. Die Korrektur von Abschlussarbeiten lernt man als wiss. Mitarbeiter genau dadurch, dass man sie übernimmt, obwohl man kein Betreuer ist, und danach feedback bekommt und Kriterien der Beurteilung erlernt. So habe ich das auch gelernt und genau so ist es richtig, immer vorausgesetzt, eine akademische Karriere wird angestrebt. Dasselbe gilt für das Schreiben von abstracts und die Überarbeitung von Publikationen. Auch die Mitbetreuung von Gästen ist Teil der Ausbildung in diesem Sinne. In manchen Fällen mag das ausarten zur Ausbeutung, in vielen Fällen geht es wohl eher darum, dass den Mitarbeitern zu Beginn ihrer Anstellung nicht hinreichend vermittelt wird, welcher Einsatz mit einer wiss. Karriere eigentlich verbunden ist. Die Tätigkeit als Wissenschaftler ist untrennbar mit Selbstausbeutung verbunden. Man muss brennen für die Wissenschaft und das ist sinnvoll.

  • #11

    Edith Riedel (Montag, 19 September 2022 15:37)

    @naja: ich denke man kann auch für die Wissenschaft brennen, ohne sich selbst und seine Mitarbeiter*innen auszubeuten. Man muss das sogar können. Es wäre ein Armutszeugnis für die Wissenschaft, wenn sie nur durch Selbstausbeutung und Ausbeutung anderer funktionieren könnte.

  • #12

    Mat (Mittwoch, 21 September 2022 11:23)

    Ich bin erschrocken über den Kommentar #10. Es mag für Sie in Ordnung sein wenn Sie so denken und handeln und den aktuellen Status Quo akzeptiert und verinnerlicht haben. Doch gibt es auch Menschen, die in einer anderen Lage sind, anders denken, fühlen und sich anderes wünschen, trotzdem jedoch gute wissenschaftliche Arbeit ableisten. Der Satz "Die Tätigkeit als Wissenschaftler ist untrennbar mit Selbstausbeutung verbunden" klingt mit Verlaub nicht gesund. Doch dies sollte doch wichtig sein: Gute Arbeit leisten, die fair entlohnt wird und dabei gesund und leistungsfähig zu bleiben. Ein krankes System - und Ihr Zitat deutet darauf hin - sollte nicht durch unreflektierte, eingeübte Verhaltensweisen einfach so reproduziert werden sondern auf den Prüfstand kommen. Fortschritt ist nicht per se Schlecht. Es sollte nur evaluiert werden, ob die getroffenen Maßnahmen wirken und zielführend sind und auf dieser Basis ein Diskurs geführt werden.

  • #13

    naja (Freitag, 23 September 2022 14:08)

    @Mat@Edith Riedel: ich kenne keinen einzigen Kollegen, der Wissenschaft mit festen Buerozeiten und freien Wochenenden betreibt und dennoch wirklich substantielle Resultate liefert. Das gibt es nicht. Vielleicht verwechseln Sie hier wiss. Routinearbeit in Laboren mit dem tatsächlich kreativen Bereich.
    @Mat: ich weiss nicht, ob Sie eine wiss. Karriere planen. Aber, wenn Sie das tun und erschrecken bei meiner Schilderung, waere mein Rat, es lieber zu lassen.

  • #14

    Edith Riedel (Dienstag, 04 Oktober 2022 16:11)

    @naja: ich möchte Ihren Beitrag hier nicht als Fazit dieser Diskussion stehen lassen. Die Selbstausbeutung in der Wissenschaft und die Ausbeutung anderer müssen angegangen und geändert werden. Und wäre es schlicht und einfach nur aus dem einfachen Grund, dass der Wissenschaft sonst die klugen Köpfe davonlaufen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Massen von Studierenden auf Promotionsstellen drängten, der Fachkräftemangel steht nicht nur vor der Tür sondern bereits mitten im Raum. Es wird immer schwieriger, überhaupt qualifizierte Kandidat*innen zu finden. Ein attraktives Arbeitsumfeld, und dazu gehört eine gewisse work life balance, wird da immer wichtiger. Es mag schwierig sein, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, gerade wenn man selbst jahrelang Selbstausbeutung betrieben hat oder auch dazu angehalten wurde. Ich für meinen Teil freue mich, wenn es den Wissenschaftler*innen nach mir besser geht, als es mir während meiner wissenschaftlichen Tätigkeit gegangen ist.

  • #15

    Peter Bernhardt (Mittwoch, 25 Januar 2023 10:04)

    Edith Riedel: "Das Nachdenken über Probleme ist in der Tat nicht auf so einfach zu dokumentieren, und kann ja gerne auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten erfolgen."

    Es ist erschreckend, wie schnell über diese Einwände hinweg gegangen wird, um dann nur die eigenen Punkte zu sehen.
    Die Welt ist doch komplexer als nur das, was man mit eigenen Augen sieht.

    Wenn das "Nachdenken über Probleme" nicht mehr als integraler Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit angesehen wird, was ist dann - in den Augen dieser Personen - wissenschaftliche Arbeit überhaupt? Handwerk?