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It’s the sciences, stupid!

Warum wir einen neuen Stellenwert der Wissenschaft in der Außenpolitik brauchen. Ein Gastbeitrag von Ruppert Stüwe.

Ruppert Stüwe ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, dort als Berichterstatter unter anderem zuständig für die Themen Internationalisierung in Bildung und ForschungFoto: Fionn Große.

ENDLICH SPRECHEN WIR auch in einer breiteren Öffentlichkeit über "Science Diplomacy". Das ist dringend notwendig, denn die globalen Auseinandersetzungen stellen auch neue Anforderungen an die Wissenschaft: Wie soll, wie kann sie agieren in einer immer konfliktträchtigeren Welt? 

 

Deutschlands Wissenschaft hat von

der Globalisierung profitiert

 

In den vergangenen 20 Jahren waren die Globalisierung und der wissenschaftlich-technologische Fortschritt Treiber füreinander. Vor allem die Bundesrepublik hat in dieser Zeit von der Globalisierungseuphorie der Wissenschaft profitiert: Die Investitionen in Bildung und Forschung sind beachtlich gestiegen. Deutschland liegt seit 2016 über den Drei-Prozent-Investitionszielen, die beim EU-Ministerratsgipfel von Barcelona 2002 bekräftigt wurden. Sechs Prozent der weltweit am meisten zitierten wissenschaftlichen Publikationen gehen auf Forschungsarbeiten aus Deutschland zurück. Jede zweite englischsprachige Publikation von deutschen Hochschulen erfolgt in internationaler Ko-Autorenschaft.

 

Je zentraler die Rolle der Wissenschaft in Deutschland geworden ist, desto bedeutender wird sie nun auch im Umgang mit der geopolitischen Lage, wie sie spätestens durch Russlands barbarischen Krieg gegen die Ukraine offenbar geworden ist. 

 

Zum einen geht es um Fragen der globalen Vorreiterschaft von marktbeherrschenden Technologien, die durch wissenschaftliches Knowhow entstehen. Zum anderen ist da der neu formulierte politische Konsens, die "technologische Souveränität" soweit zu erreichen, dass wir von anderen Innovations- und Produktionssystemen nicht existenzbedrohend abhängen. Beides fordert eine neue Einigkeit von Außen-, Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik, zumal viele Wissenschaftsbereiche nicht mehr zwischen erkenntnisorientierter Grundlagen- und wirtschaftlich relevanter Anwendungsforschung unterscheiden. 

 

Wissenschaft und Außenpolitik nicht

mehr getrennt voneinander behandeln 

 

Diese Qualitätsverschiebung ist im Diskurs der Wissenschaftsdiplomatie neu. Die bisherige Formel "Wandel durch Austausch" ist hierbei unzureichend. Wertesysteme anderer Gesellschaften lassen sich durch Bildungs- und Wissenschaftskooperationen nicht automatisch ändern. Wissenschaft und Politik müssen sich daher mit der Frage konfrontieren: Welchen Mehrwert hat unsere Gesellschaft von wissenschaftlich-technologischen Entwicklungskooperationen, wenn diese gleichzeitig Innovationen in autokratischen Staaten stärken, die potentiell gegen uns oder andere Gesellschaften eingesetzt werden? Für mich bilden drei Punkte eine Richtschnur für unser zukünftiges Handeln.

 

Erstens: Wir leben in einer globalisierten Welt und wollen dies auch nicht ändern. Wir müssen die Zusammenarbeit in der Wissenschaft grundsätzlich erleichtern und ermöglichen. 

Wir brauchen als Grundlage dafür einen funktionierenden europäischen Bildungs- und Forschungsraum. Aber auch Kooperationen in den Regionen, die wir immer wieder vernachlässigen, etwa in Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Diese Regionen dürfen in der Wissenschaft nicht nur Partner aus China finden. Wenn wir aber Kooperationen eingehen, sollten sie dem Prinzip folgen, dass alle (auch noch unbeteiligte Dritte) bessergestellt werden. Wissenschaftskooperationen dürfen globale Hierarchien nicht zementieren und Unterdrückung nicht Vorschub leisten. Daher ist es zum Beispiel richtig, dass die institutionellen Kooperationen mit Russland beendet wurden und wir die Zusammenarbeit mit den chinesischen Wissenschaftseinrichtungen neu ausrichten.

 

Zweitens: Wissenschaftseinrichtungen sind Orte des gesellschaftlichen Wandels. Deshalb erreichen Wissenschaftskooperationen noch nicht automatisch eine Annäherung der Systeme, aber sie schaffen Kontaktpunkte mit den Menschen, die zukünftig die Realität eines Landes prägen werden.

Deshalb brauchen wir belastbare weltweite Verbindungen in der Wissenschaft. Im Iran sind die Bildungseinrichtungen derzeit Kumulationspunkte des Widerstandes gegen das Regime. In der Ukraine müssen wir alles daran setzen, um eine Basis für den Wiederaufbau zu erhalten. Und in unserem Verhältnis zu Russland müssen wir diejenigen Wissenschaftler:innen identifizieren, mit denen eine Zusammenarbeit nach Putin wieder möglich sein könnte. Hinzu kommt: Die großen globalen Herausforderungen, seien es der Klimawandel oder die weltweite soziale Ungleichheit, werden sich nur durch globale Zusammenarbeit bewältigen lassen.

 

Drittens: Wir dürfen dabei eine sicherheitspolitische Komponente nicht vergessen. Deutschland ist vermehrt Ziel von Wissenschaftsspionage sowie von Destabilisierungs- und Störkampagnen gegen Bildungs- und Forschungsinstitutionen geworden.

Es ist höchste Zeit, hierzulande wissenschafts- und politikfeldübergreifend für das nötige Problembewusstsein und adäquate Sicherheitsstandards zu sorgen. Gleichzeitig muss außenpolitisch durch "Science Diplomacy" gegenüber schwierigen Partnern klipp und klar kommuniziert werden, dass sich Angriffe auf das deutsche Wissenschaftssystems negativ auf weitere Kooperationen auswirken werden.

 

Science Diplomacy braucht

gestärkte Institutionen

 

An die Politik richtet sich die Herausforderung, die Wissenschaft in den nächsten Jahren deutlich und selbstverständlich in der deutschen Außenpolitik mitzudenken. Und gemeinsam mit der Wissenschaft zu definieren, wo wir mit wem kooperieren und welche strategischen Ziele wir dabei verfolgen. Dafür brauchen wir einen klaren normativen Kompass, weltweit belastbare Bande in der Wissenschaft und einen realistischen Blick auf die Sicherheitsinteressen unseres Landes. Die dafür notwendigen Institutionen, allen voran die Alexander von Humboldt Stiftung und den Deutschen Akademischen Austauschdienst, müssen wir stärken und nicht schwächen. Alles andere wäre angesichts der jetzigen Situation ein außenpolitischer Fehler.


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Kommentare: 2
  • #1

    T. Kunze (Donnerstag, 10 November 2022 15:57)

    Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag.
    Ich teile Ihre Einschätzung, dass die Frage nach dem Mehrwert für unsere Gesellschaft bzgl. wissenschaftlich-technologischen Entwicklungskooperationen dringend durch Wissenschaft und Politik adressiert werden sollte. Es wäre jedoch interessant gewesen, wenn die von Ihnen skizzierten Leitplanken neue, konkrete Vorschläge enthalten würden, die darüber hinaus gehen, was aktuell schon getan wird. Auch eine Differenzierung hinsichtlich nationaler und europäischer Betrachtungen wäre interessant, zumal ja auch in der EU Tendenzen von Autokratisierungen zu beobachten sind und EU-MS faktisch dem Europäischen Forschungs- und Bildungsraum angehören. Übergreifend stellt sich weiterhin die praktische Frage, auf welche Ebene wer etwas tun müsste. Beste Grüße, T. Kunze

  • #2

    D. Bosold (Mittwoch, 16 November 2022 20:35)

    Dieser Beitrag hinterlässt bei mir drei große Fragezeichen.
    1. Ist unklar, wer jeweils mit "wir" gemeint ist. Sind z.B. mit "[w]ir müssen die Zusammenarbeit in der Wissenschaft grundsätzlich erleichtern und ermöglichen" ausschließlich die politischen Entscheidungsträger gemeint? Die deutschen Universitäten? Das BMBF? Oder "wir Deutsche"? "Wir" scheint mitunter verschiedene Akteure/Gruppen/Institutionen zu meinen.
    2. Warum wird hier trotz Verweis auf den EU-Ministerrat in Barcelona 2002 anschließend nationale Kirchturmpolitik propagiert, wenn wir mit Horizon Europe und weiteren europäischen Programmen über die Möglichkeit verfügen, die genannten Felder auch im gesamteuropäischen Rahmen zu bearbeiten? Vielleicht sollte man in Deutschland nochmal die Vorschläge von Macron nachlesen.
    3. Wieso wirken die Vorschläge so angestaubt, wenn das meiste zu Science Diplomacy (v.a. zur sicherheitspolitischen Dimension) bereits vor 13 Jahren im Bericht des Committee on Science, Security, and Prosperity mit dem Titel Beyond "Fortress America": National Security Controls on Science and Technology in a Globalized World (Washington, DC: National Research Council of the National Academies, 2009) zu finden ist. Ein bisschen mehr Überraschung hätte ich dann doch erwartet.