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Wer wirklich Bildungsgerechtigkeit will, muss die Schulen anders finanzieren

Wie könnte ein geeigneter Schulsozialindex aussehen? Und was müsste sonst noch passieren, damit der Kampf gegen Bildungsungerechtigkeit endlich gelingt? Ein Gastbeitrag von Horst Weishaupt.

DIE MEISTEN KULTUSMINISTERIEN gehen davon aus, dass die Schulen unter ähnlichen Bedingungen arbeiten und sie auch nach denselben Bedingungen zu finanzieren sind. Dies führt zu landesweit kaum variierenden Zuweisungskritierien für deren Personal- und Sachausstattung. Langsam setzt sich aber nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Gesellschaft die Erkenntnis durch, dass das Gleichheitsprinzip bei der Schulfinanzierung mitentscheidend dafür ist, dass soziale Unterschiede in den Bildungsmöglichkeiten nicht verringert werden können. 

 

Sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler und solche mit Migrationshintergrund und nichtdeutscher Familiensprache verteilen sich eben nicht gleichmäßig über die Schulen und Klassen. Besonders augenfällig ist der Unterschied bei den weiterführenden Schulen, wo sich die sozialen Herausforderungen fast ausnahmslos auf die nichtgymnasialen Schularten konzentrieren. Eine – in vielen Punkten sicherlich berechtigte – pädagogisch-psychologische Sichtweise auf Bildungsbenachteiligung – etwa durch die IQB-Bildungstrends – hat dazu beigetragen, überwiegend nur die soziale Lage und die Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler zu sehen und nicht auf die pädagogische Ausgangslage einer Schulklasse und Schule in unterschiedlichen Regionen.

 

Um die soziale Situation von Schulen aus einer pädagogischen Perspektive angemessen zu beurteilen, muss sie aber zwingend beachtet werden: die häufige Verbindung zwischen sozialer Benachteiligung und sonderpädagogischem Förderbedarf einerseits und sprachlichen und kulturellen Herausforderungen auf der anderen Seite. Dadurch entstehen erhebliche zusätzliche pädagogische Aufgaben für die Lehrkräfte an Schulen in sozial schwierigen Lagen. Über eine bedarfsdifferenzierende Personalausstattung der Schulen sollte dies berücksichtigt werden. Damit das gelingt, braucht es einen Schulsozialindex. 


Horst Weishaupt ist emeritierter Professor
für Empirische Bildungsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal und dem
DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.

Foto: privat.



Die sozialen Ausgangsbedingungen an den Schulen direkt zu erfassen, ist wegen fehlender Daten zur sozialen Lage der Familie der Schülerinnen und Schüler schwierig: Die Schulstatistik sieht keine Angaben zum Beruf, Einkommen und Bildungsniveau der Eltern vor, den zentralen Indikatoren zur Bestimmung des sozialen Status. Das elaborierteste Verfahren zur Ermittlung der sozialen Situation einzelner Schulen hat Hamburg entwickelt. Der dortige Sozialindex wird auf Basis der Schulstatistik und kleinräumig verfügbarer Sozialdaten erstellt. Die Schulen sind nach dem Sozialindex sechs Gruppen zugeordnet. Dadurch bekommen Schulen in sozial benachteiligten Lagen bis zu 50 Prozent mehr Personal (Antwort des Senats, Drucksache 22/4019 vom 27. April 2021). 

 

Auch weitere Länder – Berlin, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen – setzen bereits einen Schulsozialindex oder Sozialindikatoren bei der Personalzuweisung an die Schulen ein. Der in Nordrhein-Westfalen bis 2020 verwendete Index zum Beispiel teilte die Schulen im Land in fünf etwa gleich große Gruppen ein. Diese fünf Standorttypen wurden über den Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schule und den Anteil von Hartz-IV-Empfänger*innen unter 18 Jahren im Schulumfeld bestimmt. Ein neu entwickelter Sozialindex ab dem Schuljahr 2021/2022 unterscheidet jetzt sogar neun unterschiedlich große Gruppen von Schulen. Neben der Hartz-IV-Quote berücksichtigt diese Berechnung nun eine nichtdeutsche Familiensprache, den eigenen Zuzug aus dem Ausland und den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt in den Bereichen Lernen, soziale Entwicklung und Sprache.

 

Österreich zeigt,
wie es geht

 

Die Möglichkeit einer einfachen landesweiten Ermittlung  sozial belasteter Schulen besteht in Österreich. Dort wurde von der Bundesanstalt Statistik 2018 ein Chancenindex für eine bedarfsdifferenzierte Schulfinanzierung mit nur zwei Merkmalen entwickelt: der nichtdeutschen Familiensprache und dem höchsten Bildungsstand der Eltern. Die erste Angabe stammt aus der Schulstatistik, die zweite aus dem in Österreich existierenden Bildungsstandregister, verknüpft werden sie über ein Personenkennzeichen, so dass sich für jede Schülerin und jeden Schüler ein sozialer Lageindex ergibt. Der Mittelwert über alle Schülerinnen und Schüler bestimmt für jede Schule deren soziale Position im Vergleich zu allen anderen Schulen. 

 

Die bisherigen Erfahrungen im In- und Ausland legen einen Schulsozialindex nahe, der sich ausschließlich auf Merkmale der Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Schule bezieht, weil aus vielen Gründen die Schülerschaft einer Schule deutlich von dem Erwartungswert nach dem regionalen Umfeld abweichen kann. Verwendet werden sollten nur regelmäßig verfügbare Daten der amtlichen Statistik und keine Daten, die speziell für eine Indexkonstruktion an den Schulen erhoben werden, um erwartungskonformes Antwortverhalten zu vermeiden. In einen Sozialindex gehören keine Schulleistungsdaten, um Ursache (soziale Lage) und Wirkung (Schulleistungen) nicht miteinander zu vermischen. Der Index sollte möglichst wenige Merkmale berücksichtigen. 

 

Aktuelle Bedeutung erhält ein Sozialindex durch das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte "Startchancen-Programm", das Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler besonders fördern soll. Über Investitionsmaßnahmen und mit zusätzlichen Stellen für schulische Sozialarbeit sollen deutschlandweit insgesamt 8.000 Schulen erreicht werden. Wenn die Auswahl der Schulen für dieses Programm bundesweit einheitlichen Kriterien folgen soll, dann bietet die Schulstatistik dafür nur Aufschluss über den Anteil ausländischer Schüler. Das häufig – auch in der Statistik der Kindertagesbetreuung – verwendete Merkmal einer nichtdeutschen Familiensprache wird dagegen nicht in allen Bundesländern erhoben. 

 

Ein praktikabler Vorschlag, um die Einkommenssituation der Familien bundesweit einheitlich zu ermitteln, wäre die statistische Erfassung der Schülerinnen und Schüler, die  in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben, über die Nummer der von ihnen besuchten Schule (dies wäre über die Ergänzung einer Verordnung möglich und damit ohne Gesetzesänderungen). Eine entsprechende Liste ließe sich aus den in allen Ländern vorliegenden Schulverzeichnissen leicht erstellen. Aus der Summe der Leistungsempfänger nach Schulen und der Schülerzahl insgesamt, differenziert nach ausländischer Staatsangehörigkeit und/oder nichtdeutscher Familiensprache (vergleichbar dem Vorgehen in Österreich) könnte so ein datenschutzrechtlich unbedenklicher Sozialindex für alle Schulen in Deutschland entstehen.

 

Voraussetzung wäre eine grundlegende
Abkehr von der Gießkanne

 

Ein Sozialindex allein mit dem Anteil der Hartz-IV-Quote (wie in einer Empfehlung der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgeschlagen) mag für das Startchancen-Programm ausreichend sein. Für eine gezielte Verbesserung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler an den Schulen – für die es flankierender Mittel durch die Länder bedarf, die sich unmittelbar auf die Lernförderung und den Unterricht beziehen – muss aber auch der Migrationshintergrund/die nichtdeutsche Familiensprache berücksichtigt werden.

 

Ein Schulsozialindex ergäbe freilich nur bei einer grundlegenden Abkehr vom "Gießkannenprinzip" einen Sinn. Untersuchungen zur Wirkung des Indexes auf die Verteilung von Personalstellen zeigten bisher häufig nicht den erwarteten Effekt, sondern – trotz gegenteiliger Intentionen – eine zum Teil deutlich ungünstigere Personalausstattung an den sozial belasteten Schulen. Dazu trägt die klassenbezogene Lehrkräftezuweisung (statt nach der Zahl der Schülerinnen und Schüler) bei, die mehrzügige Schulen benachteiligt. Vor allem aber reicht die Stellenausstattung der Programme meist nicht aus, um Wirkungen zu erreichen, und schließlich ergreifen die Schulverwaltungen nicht die nötigen Maßnahmen, um eine zielführende Stellenverteilung durchzusetzen.  

 

Oft wird auch übersehen, dass zur Schulausstattung maßgeblich die Kommunen beitragen. Zusätzliche Räumlichkeiten für einen Mittagstisch und Ganztagsbetreuung, eine erweiterte Sachausstattung der Schulen, Schulsozialarbeiter und ergänzende Hausaufgabenhilfe müssen die Kommunen bereitstellen. Deren Haushaltssituation ist aber stark von der ökonomischen Leistungskraft und den Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung abhängig und variiert deshalb erheblich (einen echten kommunalen Finanzausgleich gibt es meist nicht). Damit ergibt sich für viele Kommunen mit sozialen Problemlagen das Dilemma, mit vergleichsweise geringen kommunalen Mitteln ausgestattet zu sein. Reiche Gemeinden mit relativ wenigen sozialen Brennpunkten können dagegen oft umfangreiche Fördermaßnahmen finanzieren, die für sozial stark belastete Gemeinden undenkbar sind. 

 

Zusätzlich muss eine bedarfsdifferenzierte Personal- und Sachmittelzuweisung an zielführende pädagogische Programme in den Schulen gebunden sein und mit Erfolgskontrollen kombiniert werden, um sicherzustellen, dass die beabsichtigten Wirkungen auch erzielt werden. Die Länder müssten ihre Maßnahmen mit denen der Kommunen verknüpfen, damit die sachlichen und räumlichen Rahmenbedingungen für pädagogische Maßnahmen gewährleistet sind. Ein solches umfassendes Handlungskonzept mit substantiellen Umverteilungswirkungen existiert bisher bestenfalls in den Stadtstaaten. Den Flächenländern fehlen nicht nur die Strategien, sondern oft sogar noch das Problembewusstsein, um den notwendigen Wandel einzuleiten.


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