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Weil Herkules nicht kommen wird

Unsere Gesellschaft muss endlich ernst machen mit dem Umbau
des Energiesystems. Die Wissenschaft steht dabei an ihrer Seite.
Ein Gastbeitrag von Holger Hanselka.

Holger Hanselka ist Präsident des Karlsruher

Instituts für Technologie (KIT) und Vizepräsident des Forschungsbereichs Energie der Helmholtz-Gemeinschaft. Foto: Markus Breig, KIT.


Im Energiewirtschaftsgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird sie gleich im ersten Paragraphen benannt: die sichere Versorgung der Allgemeinheit mit Energie. Doch neben der Versorgungssicherheit sind in diesem Gesetz, das die grundlegenden Prinzipien unseres Energiesystems festschreibt, noch weitere Ziele aufgeführt. So soll die Energieversorgung möglichst bezahlbar, verbraucherfreundlich, effizient, umweltverträglich sowie treibhausgasneutral erfolgen.

 

Um diesen Spagat zwischen Versorgungssicherheit, dem Hochlauf der erneuerbaren Energien und dem gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle und Kernkraft zu schaffen, hatten vergangene Bundesregierungen, ebenso wie die aktuelle, dabei stark – rückblickend stark einseitig – auf


billiges, russisches Erdgas als vermeintlich zuverlässige Brückentechnologie gesetzt. Seit dem 24. Februar 2022, also seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, stehen wir nun allerdings vor einer Zeitenwende: Für die Energiewende ist Gas aus russischen Pipelines aktuell keine Option mehr. 

 

Nicht alte Fehler an
anderer Stelle wiederholen

 

Nun wäre es töricht, alte Fehler an anderer Stelle zu wiederholen. Zu den wichtigsten Lehren aus der aktuellen Energiekrise muss gehören, dass wir unsere Energieimporte in Zukunft stärker diversifizieren. Klar ist: Auch in Zukunft wird Deutschland Energieimportland bleiben, und fossiles Erdgas wird noch eine längere Zeit als Brückentechnologie von Nöten sein – denn das Potenzial für die Erzeugung von erneuerbaren Energien ist hierzulande vergleichsweise gering. Für die Transformation unseres Energiesystems müssen wir deshalb europäische und internationale Lösungen finden. Im Augenblick konzentriert sich dabei vieles auf den Import von flüssigem Erdgas (engl.: Liquid Natural Gas, LNG), das als Ersatz für russisches Pipelinegas mittelfristig noch eine wichtige Rolle spielen wird. Häufig wird dies mit Hilfe von Fracking-Methoden gefördert. 

 

Gleichzeitig ist es ein Gebot der Stunde, konsequent ein vielfältiges Netzwerk mit Partnern für unsere zukünftige Energieversorgung aufzubauen. Und damit müssen wir jetzt sofort beginnen. Im besten Fall werden uns diese Partner mit grünem Wasserstoff und weiteren synthetischen Energieträgern versorgen, mit den Grundstoffen für die Chemie oder mit erneuerbarem Strom. Im Gegenzug unterstützen wir sie mit Technologieentwicklungen dabei, entsprechende Produktionsanlagen für erneuerbare Energien in ihren Ländern aufzubauen. Die neue Partnerschaft mit Norwegen in Sachen Wasserstoff ist ein erster Schritt dafür. Gerade bei der Fokussierung auf den zu importierenden grünen Wasserstoff gilt es dabei aber unbedingt, die notwendigen Mengen und Volumina auch mit Blick auf die möglichen Importe realistisch einzuschätzen, um hier keiner Illusion zu verfallen.

 

Die Lehre aus einer zu großen Abhängigkeit von Russland müssen wir außerdem auf die Versorgung mit weiteren Rohstoffen übertragen. Technologien für ein erneuerbares Energiesystem benötigen nämlich eine deutlich größere Vielfalt an Rohstoffen als Technologien für ein fossiles Energiesystem. Dazu gehören Seltene Erden für Windräder, Graphit und Lithium für Batterien oder Platingruppenmetalle für Elektrolyseure. Die EU führt eine Liste kritischer Rohstoffe, die inzwischen auf 30 angewachsen ist. Nur einen Bruchteil davon können wir in Europa wirtschaftlich fördern. Für 19 kritische Rohstoffe ist die Volksrepublik China bislang der weltweit größte Erzeuger. Deren Verknappung oder gar Lieferausfälle würden die Umsetzung der Energiewende massiv gefährden. Hoffnung macht der Fund des wohl größten europäischen Vorkommens Seltener Erden in Schweden. Sie schlummern am Polarkreis in der Tiefe und könnten Europa in eine Führungsrolle bei der industriellen Produktion führen.

 

Übergeordnetes Ziel:

Treibhausgasemissionen senken!

 

Bei der Bewältigung der Energiekrise sind kurzfristige Maßnahmen unvermeidbar und schnelles Handeln das Gebot der Stunde. Doch keinesfalls darf das übergeordnete Ziel der Energiewende aus dem Blick geraten: Die Transformation des Energiesystems in Deutschland und Europa hin zur Klimaneutralität. Uns stehen nur noch ein begrenztes CO2-Budget und nur wenig Zeit zur Verfügung, wenn wir die Ziele des Klimaabkommens von Paris erreichen wollen. Nach aktuellen Berechnungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen wird es bereits 2031 aufgebraucht sein. 

 

Umso wichtiger ist es, dass wir nun größte Anstrengungen unternehmen, um die Transformation des Energiesystems zu beschleunigen. Dabei sollten wir unser Verhalten nicht von dem anderer Länder abhängig machen. Auch der Hinweis auf größere Emittenten und eine vergleichsweise geringere globale Wirkung unserer CO2-Emissionen ist wenig hilfreich. Deutschland, die anderen europäischen Industrieländer und die USA haben die Pflicht und die historische Verantwortung, ihren Beitrag zu leisten. Andernfalls verlieren wir jede Glaubwürdigkeit, wenn wir etwa im globalen Süden für den Klimaschutz werben. Hierzu gehört auch, über eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke in Deutschland nachzudenken, statt die umweltschädliche Verstromung von Braunkohle wieder zu steigern oder gar zu verlängern.



Wirksamer Klimaschutz wird dabei nicht ohne ein Umdenken in Sachen Energieverbrauch funktionieren. In allen Sektoren müssen wir umfangreiche Effizienzmaßnahmen umsetzen. Die gute Nachricht ist dabei, dass es viele Ansatzpunkte gibt. Wir können Industrieprozesse verändern und sie effizienter machen. Wir können den Gebäudebestand sanieren, wir können konsequent Abwärme nutzen, Wärmepumpen einsetzen sowie effizientere Fahrzeuge im Verkehr verwenden. Allerdings haben wir als Verbraucherinnen und Verbraucher die Tendenz, Effizienzgewinne mit steigendem Konsum zu neutralisieren. Dieser viel beschworene Rebound-Effekt ist ein echtes Problem. 

 

Energie einsparen und

erneuerbare Energien ausbauen

 

Neben dem Energiesparen hat der Ausbau der erneuerbaren Energieerzeugung allerhöchste Priorität. Die Bundesregierung hat im Frühjahr 2022 im Prinzip die richtigen Weichen gestellt und will die Stromerzeugung aus Wind und Solar bis 2030 verdoppeln. Wie sehr wir allerdings von unseren Ausbauzielen entfernt sind, hat jüngst der Expertenrat für Klimafragen in seinem aktuellen Zweijahresgutachten festgestellt: Um auf Kurs zu bleiben, muss der Zubau mit Photovoltaik- sowie Windkraftanlagen an Land und auf See sofort und massiv an Tempo zulegen. Sprich: Die Zeit läuft gerade ab. Um das Ruder noch herumzureißen, müssen Genehmigungsverfahren jetzt außerordentlich beschleunigt werden. Zudem müssen aber auch die Produktionskapazitäten für Solar- und Windanlagen aufgebaut und die entsprechenden Fachkräfte ausgebildet werden. Dabei darf man allerdings nicht ausgeblenden, dass der Stromsektor nur einen kleinen Teil unseres Primärenergieverbrauchs ausmacht. Somit stellt dieser Ausbau auch nur einen Teil der Lösung des Problems dar.

  

Und was passiert zukünftig, wenn der Wind einmal nicht weht, die Sonne nicht scheint oder die Erzeugung den Verbrauch inklusive Exporte deutlich übersteigt? Um eine zuverlässige Energieversorgung zu garantieren, sollten wir rechtzeitig damit beginnen, Flexibilitätsoptionen breitflächig in unsere Energienetze zu installieren. Dazu gehören Power-to-X-Anlagen, die erneuerbaren Strom in Wasserstoff, synthetisches Methan, Treibstoffe oder Wärme umwandeln; genauso Strom-, Wärme- und Gasspeicher, die Energie über Wochen oder Monaten festhalten. Ferner flexibel und mit Wasserstoff betreibbare Gaskraftwerke sowie grundlastfähige Geothermiekraftwerke, die uns dabei helfen können, die Energienetze zu stabilisieren. 

 

Im "Smart Grid" der Zukunft werden Energieerzeugung, -speicherung, und -verbrauch dann aktiv orchestriert. Leistungsschwankungen im Stromnetz lassen sich ausgleichen, indem der Ladezeitpunkt und Ladestrom beispielsweise von Elektroautos ideal abgestimmt und stromintensive Industrieprozesse automatisiert hoch- und heruntergefahren werden. Voraussetzung für diesen Wandel ist die Digitalisierung des Energiesystems, wir brauchen Informations- und Kommunikationstechnologien. Beim Thema "Smart Meter" jedoch bremsen wir uns momentan selbst aus: Regulatorische Hürden und Bedenken in der Zivilgesellschaft haben dazu geführt, dass Deutschland bei der Digitalisierung seines Energiesystems im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern gehört. Um diesen Zustand zu überwinden, hat das Bundeskabinett im Januar einen Gesetzentwurf zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende verabschiedet. Zentraler Punkt sind hier die dringend benötigten "Smart Meter", deren Rollout in die Praxis vereinfacht werden soll. 

 

Auch dürfen wir Zukunftsoptionen wie die Kernfusion nicht aus dem Auge verlieren, die genau den fehlenden Teil unseres Energiebedarfs decken könnten und zur Grundlaststabilität beitrügen. Derzeit sind neben den gemeinsamen internationalen Verbundaktivitäten wie ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) nationale Alleingänge unter anderem in den USA, Großbritannien und China zu beobachten. Deutschland hat hier eine technologische Spitzenstellung. Diese gilt es zu nutzen.

 

Mit der Einführung technischer Lösungen allein ist es allerdings noch nicht getan: Eine weitere Voraussetzung für einen erfolgreichen Umbau des Energiesystems sind langfristig verlässliche Rahmenbedingungen. Dort, wo der gesamtwirtschaftlich effiziente Einsatz behindert wird, braucht es finanzielle Anreize für Verbraucher und Industrie. Denn aktuell bietet Deutschland davon zu wenig für mehr erneuerbare Energien und Flexibilität im Energiesystem. Tatsächlich gehört unser Land im europäischen Vergleich inzwischen sogar zu den Ländern mit schlechten Voraussetzungen für den klimaneutralen Umbau des Energiesystems. 

 

Wie die Energieforschung
helfen kann

 

Doch auch hier kann der neue Gesetzentwurf zur Digitalisierung des Energiesystems die benötigte Flexibilisierung anstoßen: Durch den verstärkten Rollout der "Smart Meter" in die breite Anwendung wird der Energiewirtschaft ermöglicht, dynamische Stromtarife auch für Haushalte umzusetzen. Transparente Preissignale sind eine Grundvoraussetzung, um nachfrageseitige Flexibilitätspotenziale in einem von erneuerbaren Energien bestimmten Energiesystem zu heben. 

  

Die Politik hat nun die Aufgabe, die Transformation des Energiesystems zu organisieren und die notwendigen internationalen Partnerschaften anzubahnen. Weil Deutschland einen starken und energieintensiven Industriesektor besitzt, tragen wir dabei besondere Verantwortung und zusätzliche Lasten. Es darf nicht passieren, dass die energieintensiven Branchen einfach in Drittländer abwandern. Zum einen würden so lediglich die Treibhausgasemissionen exportiert werden. Zum anderen würden wir das Rückgrat unserer Gesellschaft, welches für Arbeitsplätze, Wohlstand und sozialen Frieden sorgt, nämliche die deutsche Industrie, verlieren. Gerade in der Industrie muss die Umstellung von einem Wirtschaften mit fossiler auf erneuerbar erzeugter Energie deshalb mit erheblichen Veränderungen einhergehen, etwa bei der Integration von Wasserstoff als Energieträger.

 

Dazu bedarf es Verlässlichkeit seitens der Politik.

Politik und die Industrie stehen aber nicht allein in der Verantwortung.  Die Energiewende ist eine Herkulesaufgabe, deren Lösung bis zur Klimaneutralität noch viele Fragen bereithält und einen ganzheitlichen Blick auf das Energiesystem notwendig macht. Hier kann die Energieforschung helfen und die Herausforderungen möglichst umfassend beschreiben. Sie muss Wege zur Umsetzung aufzeigen und an den entscheidenden Stellen durch technische oder systemische Innovationen zusätzliche Optionen anbieten. Als Energieforschende sehen wir uns in der Verpflichtung durch enge Zusammenarbeit mit Industrie und Politik, einen wesentlichen gesellschaftlichen Beitrag zum Umbau des Energiesystems zu leisten. Wir sollten jetzt nicht auf einen Herkules warten, der uns erretten soll, sondern diese Aufgabe gemeinsam anpacken.

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